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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Sie Sprache in ihrem Naturzusammenhange

da sich für unsre Erkenntnis um so leichter die Brücke von dem lateinischen
ohre-o zu unserm wend-e schlagt, zwei Formen einer Wurzel, die zueinander
stehn wie griechisch KarK-inos (Krebs) und lateinisch oanv-er (Krebs), die
beiden lateinischen Wörter c-g-r-ruM (Gesang) und van-fre (singen) oder rog.r-s
(Meer) und man-ars (fließen), niur-u3 (Mauer) und nom-ig, (Stadtmauer),
englisch clark und unser bunt-el und unzählige andre. So muß das einzelne
überall in große Reihen treten, mit wer die Einzelerscheinung nicht gleich in
einer ganzen Reihe wie hier in der Analogiereihe r: n zu denken vermag, dem
bleibt ihr Wesen verschlossen. Es gilt in organischen Zusammenhängen zu
denken, was uns allein den Kern der Dinge erschließt. Ich habe damit die
Leser schon in das Zentrum unsers wissenschaftlichen Denkens geführt, von
dem aus die neuen Forschungsergebnisse in ihrer Gesamtheit wie auch in ihrer
Beziehung zu andern Wissenschaften zu begreifen sind. Der bisherigen Sprach¬
wissenschaft, die nur die an der Oberfläche offen daliegenden äußern Überein¬
stimmungen zu verzeichnen weiß und sich deshalb immer nur in Einzelheiten
bewegt, ist der Blick für diese lebendige Beziehung aller Teile zum Ganzen
und des Ganzen zu allen seinen Teilen, kurz für den einheitlichen Organismus
der Sprache überhaupt noch nicht aufgegangen. Kein Wunder, daß ein Bis-
marck der Wissenschaft, wie sie ihm entgegentrat und oft genug auf seinem
staatsmännischen Gebiete mit dreinreden wollte, im offnen Reichstage gerade¬
heraus erklärte: "In allen diesen Fragen halte ich von der Wissenschaft
gerade so wenig wie in der Beurteilung irgendwelcher andern organischen
Bildungen." Den Staatsmann macht eben der intuitive Blick für einen
lebendigen Organismus aus, und so ist denn auch von einem solchen das
Buch meines Bruders in seinem Wesen gleich erkannt worden. Fürst Bülow
faßte sein persönliches Urteil darüber am Schlüsse eines an meinen Bruder
gerichteten Schreibens in die kurzen und klaren Worte zusammen: "Die Ein¬
fachheit der Erklärung, in der Sie die Verbindung von Einheitlichkeit und
Formenreichtum auf dem Gebiete der Sprache zeigen, sichert dem Werke seinen
Wert." Was von aller echten Wissenschaft gilt, das gilt auch für die Wissen¬
schaft von der Sprache, hinter dem einen Falle sogleich Tausende zu sehen,
daher rühmt denn Goethe, selbst von der Natur mit jenem intuitiver Blick
für organische Bildungen ausgestattet wie selten ein Geist, gerade diese wissen¬
schaftliche Anschauung an einem so hervorragenden Denker wie Galilei: "Er
zeigte schon in früher Jugend, daß dem Genie ein Fall für tausend gelte,
indem er sich aus schwingenden Kirchenlampen die Lehre des Pendels und
des Falles der Körper entwickelte."

Wer Lamarck oder Darwin verstanden hat, hat das Organ, auch unsre
Erkenntnisse in der Wurzel zu erfassen; denn obgleich wir damit ein stofflich
weit getrenntes Gebiet der Wissenschaft heranziehen, so handelt es sich doch
auf beiden Gebieten um dasselbe Problem, das höchste Problem, das unser
Geist zu fassen vermag: die Schöpfung zu versteh", hier die Schöpfung der


Sie Sprache in ihrem Naturzusammenhange

da sich für unsre Erkenntnis um so leichter die Brücke von dem lateinischen
ohre-o zu unserm wend-e schlagt, zwei Formen einer Wurzel, die zueinander
stehn wie griechisch KarK-inos (Krebs) und lateinisch oanv-er (Krebs), die
beiden lateinischen Wörter c-g-r-ruM (Gesang) und van-fre (singen) oder rog.r-s
(Meer) und man-ars (fließen), niur-u3 (Mauer) und nom-ig, (Stadtmauer),
englisch clark und unser bunt-el und unzählige andre. So muß das einzelne
überall in große Reihen treten, mit wer die Einzelerscheinung nicht gleich in
einer ganzen Reihe wie hier in der Analogiereihe r: n zu denken vermag, dem
bleibt ihr Wesen verschlossen. Es gilt in organischen Zusammenhängen zu
denken, was uns allein den Kern der Dinge erschließt. Ich habe damit die
Leser schon in das Zentrum unsers wissenschaftlichen Denkens geführt, von
dem aus die neuen Forschungsergebnisse in ihrer Gesamtheit wie auch in ihrer
Beziehung zu andern Wissenschaften zu begreifen sind. Der bisherigen Sprach¬
wissenschaft, die nur die an der Oberfläche offen daliegenden äußern Überein¬
stimmungen zu verzeichnen weiß und sich deshalb immer nur in Einzelheiten
bewegt, ist der Blick für diese lebendige Beziehung aller Teile zum Ganzen
und des Ganzen zu allen seinen Teilen, kurz für den einheitlichen Organismus
der Sprache überhaupt noch nicht aufgegangen. Kein Wunder, daß ein Bis-
marck der Wissenschaft, wie sie ihm entgegentrat und oft genug auf seinem
staatsmännischen Gebiete mit dreinreden wollte, im offnen Reichstage gerade¬
heraus erklärte: „In allen diesen Fragen halte ich von der Wissenschaft
gerade so wenig wie in der Beurteilung irgendwelcher andern organischen
Bildungen." Den Staatsmann macht eben der intuitive Blick für einen
lebendigen Organismus aus, und so ist denn auch von einem solchen das
Buch meines Bruders in seinem Wesen gleich erkannt worden. Fürst Bülow
faßte sein persönliches Urteil darüber am Schlüsse eines an meinen Bruder
gerichteten Schreibens in die kurzen und klaren Worte zusammen: „Die Ein¬
fachheit der Erklärung, in der Sie die Verbindung von Einheitlichkeit und
Formenreichtum auf dem Gebiete der Sprache zeigen, sichert dem Werke seinen
Wert." Was von aller echten Wissenschaft gilt, das gilt auch für die Wissen¬
schaft von der Sprache, hinter dem einen Falle sogleich Tausende zu sehen,
daher rühmt denn Goethe, selbst von der Natur mit jenem intuitiver Blick
für organische Bildungen ausgestattet wie selten ein Geist, gerade diese wissen¬
schaftliche Anschauung an einem so hervorragenden Denker wie Galilei: „Er
zeigte schon in früher Jugend, daß dem Genie ein Fall für tausend gelte,
indem er sich aus schwingenden Kirchenlampen die Lehre des Pendels und
des Falles der Körper entwickelte."

Wer Lamarck oder Darwin verstanden hat, hat das Organ, auch unsre
Erkenntnisse in der Wurzel zu erfassen; denn obgleich wir damit ein stofflich
weit getrenntes Gebiet der Wissenschaft heranziehen, so handelt es sich doch
auf beiden Gebieten um dasselbe Problem, das höchste Problem, das unser
Geist zu fassen vermag: die Schöpfung zu versteh«, hier die Schöpfung der


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[0321] Sie Sprache in ihrem Naturzusammenhange da sich für unsre Erkenntnis um so leichter die Brücke von dem lateinischen ohre-o zu unserm wend-e schlagt, zwei Formen einer Wurzel, die zueinander stehn wie griechisch KarK-inos (Krebs) und lateinisch oanv-er (Krebs), die beiden lateinischen Wörter c-g-r-ruM (Gesang) und van-fre (singen) oder rog.r-s (Meer) und man-ars (fließen), niur-u3 (Mauer) und nom-ig, (Stadtmauer), englisch clark und unser bunt-el und unzählige andre. So muß das einzelne überall in große Reihen treten, mit wer die Einzelerscheinung nicht gleich in einer ganzen Reihe wie hier in der Analogiereihe r: n zu denken vermag, dem bleibt ihr Wesen verschlossen. Es gilt in organischen Zusammenhängen zu denken, was uns allein den Kern der Dinge erschließt. Ich habe damit die Leser schon in das Zentrum unsers wissenschaftlichen Denkens geführt, von dem aus die neuen Forschungsergebnisse in ihrer Gesamtheit wie auch in ihrer Beziehung zu andern Wissenschaften zu begreifen sind. Der bisherigen Sprach¬ wissenschaft, die nur die an der Oberfläche offen daliegenden äußern Überein¬ stimmungen zu verzeichnen weiß und sich deshalb immer nur in Einzelheiten bewegt, ist der Blick für diese lebendige Beziehung aller Teile zum Ganzen und des Ganzen zu allen seinen Teilen, kurz für den einheitlichen Organismus der Sprache überhaupt noch nicht aufgegangen. Kein Wunder, daß ein Bis- marck der Wissenschaft, wie sie ihm entgegentrat und oft genug auf seinem staatsmännischen Gebiete mit dreinreden wollte, im offnen Reichstage gerade¬ heraus erklärte: „In allen diesen Fragen halte ich von der Wissenschaft gerade so wenig wie in der Beurteilung irgendwelcher andern organischen Bildungen." Den Staatsmann macht eben der intuitive Blick für einen lebendigen Organismus aus, und so ist denn auch von einem solchen das Buch meines Bruders in seinem Wesen gleich erkannt worden. Fürst Bülow faßte sein persönliches Urteil darüber am Schlüsse eines an meinen Bruder gerichteten Schreibens in die kurzen und klaren Worte zusammen: „Die Ein¬ fachheit der Erklärung, in der Sie die Verbindung von Einheitlichkeit und Formenreichtum auf dem Gebiete der Sprache zeigen, sichert dem Werke seinen Wert." Was von aller echten Wissenschaft gilt, das gilt auch für die Wissen¬ schaft von der Sprache, hinter dem einen Falle sogleich Tausende zu sehen, daher rühmt denn Goethe, selbst von der Natur mit jenem intuitiver Blick für organische Bildungen ausgestattet wie selten ein Geist, gerade diese wissen¬ schaftliche Anschauung an einem so hervorragenden Denker wie Galilei: „Er zeigte schon in früher Jugend, daß dem Genie ein Fall für tausend gelte, indem er sich aus schwingenden Kirchenlampen die Lehre des Pendels und des Falles der Körper entwickelte." Wer Lamarck oder Darwin verstanden hat, hat das Organ, auch unsre Erkenntnisse in der Wurzel zu erfassen; denn obgleich wir damit ein stofflich weit getrenntes Gebiet der Wissenschaft heranziehen, so handelt es sich doch auf beiden Gebieten um dasselbe Problem, das höchste Problem, das unser Geist zu fassen vermag: die Schöpfung zu versteh«, hier die Schöpfung der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/321>, abgerufen am 24.07.2024.