Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Sie Sprache in ihrem Naturzusammenhange

Jugend einer gegen das Ende des verflossenen Jahrhunderts immer mehr zu¬
nehmenden Resignation. Ausnahmslos wirkende Naturgesetze hatte man auch
hier nachzuweisen versucht, und trotz heißen Bemühens war es nicht gelungen.
Und in der Tat, betrachten wir den heutigen Standpunkt der historischen
Sprachwissenschaft, so kann das Urteil nur lauten: über eine bloße Inventar¬
aufnahme von ungeheuerm wirrem Stoff ist man im wesentlichen hier nicht
hinausgekommen, von tiefern gesetzmäßigen, organischen Zusammenhängen kann
nirgends die Rede sein; die Sprachwissenschaft steht noch da, wo die be¬
schreibenden Naturwissenschaften etwa vor einem Jahrhundert, vor dem Auf¬
treten von Lamarck, standen. Ans die Kernfrage, die auch den gebildeten
Laien interessiert, welcher innere notwendige Zusammenhang zwischen dem
Lautkörper und der Bedeutung der unzähligen Sprachgebilde besteht, nach
welchen Gesetzen der unermeßliche Gestaltenreichtum der Sprache entstanden ist,
gibt sie überhaupt keine Antwort.

Erst meines Bruders Buch über "Die Schöpfung der Sprache", das 1905
im Verlage der Grenzboten erschien, und mit dem ich die Leser dieser Zeit¬
schrift vor etwa zwei Jahren (Heft 5 vom 31. Januar 1907) bekannt gemacht
habe, bringt Licht in diese Frage und zeigt, wie nach drei großen Gesetzen
jenes einsilbige Urelement der Sprache, das wir Sprachwurzel zu nennen
pflegen, aus sich auf dem Wege der organischen Abwandlung den heutigen
Gestaltenreichtum hervorgebracht hat. Diese Gesetze lauten: 1. Die Wurzel
ist jeder vokalischen Differenzierung fähig, 2. ebenso jeder konsonantischen
Differenzierung und 3. jeder Differenzierung durch die verschiedne Lagerung
ihrer Bestandteile. Das erste Gesetz mögen als Vertreter von Tausenden
Beispiele veranschaulichen wie Grab-en und Grub-e, Tor und Tür,
Gilt-er und Gatt-er, das zweite Gesetz Beispiele wie schein-en, schienen-ern,
schilt-ern, lateinisch vio-i (ich habe gesiegt) und griechisch rio-s (Sieg),
unser mit gegenüber dem englischen widu, unser bunt-el gegenüber dem eng¬
lischen äark, und das dritte Grundgesetz endlich, das Gesetz der Metathesis,
Beispiele wie die beiden gleichbedeutenden lateinischen Wörter für Furcht
eim-or und me-t-us, das lateinische korin-s, (Gestalt) gegenüber dem griechischen
moll-ö (Gestalt), unser Zieg-e und Geiß, Zick-e und Kitz-e, Topf und
Pot, Tug-end und Gut oder auch die lateinischen Wörter Zsl-lauf (kalt)
und g,lA-lau8 (kalt), lateinisch nos (uns) und unser uns, das griechische
ne-8-08 (Insel) gegenüber dem lateinischen in8-u1a (Insel). Schwieriger wird
die Erkenntnis des Zusammenhangs, sobald wir zwei oder gar alle drei Ge¬
setze zugleich wirksam sehen. Das griechische trsx-o (wende) in der umge¬
lagerten lateinischen Form port-o (wende) oder gar in unserm neuhoch¬
deutschen wend-e wiederzuerkennen, fordert schon einen langen Weg des
Studiums, da wir infolge der Ungunst der Überlieferung nicht immer einen
Wurzeltypus in der direkt umgelagerten Form wiederfinden wie etwa bei
tdrin-A und mort-s. Aber auch die tatsächliche Überlieferung hat ihren Vorteil,


Sie Sprache in ihrem Naturzusammenhange

Jugend einer gegen das Ende des verflossenen Jahrhunderts immer mehr zu¬
nehmenden Resignation. Ausnahmslos wirkende Naturgesetze hatte man auch
hier nachzuweisen versucht, und trotz heißen Bemühens war es nicht gelungen.
Und in der Tat, betrachten wir den heutigen Standpunkt der historischen
Sprachwissenschaft, so kann das Urteil nur lauten: über eine bloße Inventar¬
aufnahme von ungeheuerm wirrem Stoff ist man im wesentlichen hier nicht
hinausgekommen, von tiefern gesetzmäßigen, organischen Zusammenhängen kann
nirgends die Rede sein; die Sprachwissenschaft steht noch da, wo die be¬
schreibenden Naturwissenschaften etwa vor einem Jahrhundert, vor dem Auf¬
treten von Lamarck, standen. Ans die Kernfrage, die auch den gebildeten
Laien interessiert, welcher innere notwendige Zusammenhang zwischen dem
Lautkörper und der Bedeutung der unzähligen Sprachgebilde besteht, nach
welchen Gesetzen der unermeßliche Gestaltenreichtum der Sprache entstanden ist,
gibt sie überhaupt keine Antwort.

Erst meines Bruders Buch über „Die Schöpfung der Sprache", das 1905
im Verlage der Grenzboten erschien, und mit dem ich die Leser dieser Zeit¬
schrift vor etwa zwei Jahren (Heft 5 vom 31. Januar 1907) bekannt gemacht
habe, bringt Licht in diese Frage und zeigt, wie nach drei großen Gesetzen
jenes einsilbige Urelement der Sprache, das wir Sprachwurzel zu nennen
pflegen, aus sich auf dem Wege der organischen Abwandlung den heutigen
Gestaltenreichtum hervorgebracht hat. Diese Gesetze lauten: 1. Die Wurzel
ist jeder vokalischen Differenzierung fähig, 2. ebenso jeder konsonantischen
Differenzierung und 3. jeder Differenzierung durch die verschiedne Lagerung
ihrer Bestandteile. Das erste Gesetz mögen als Vertreter von Tausenden
Beispiele veranschaulichen wie Grab-en und Grub-e, Tor und Tür,
Gilt-er und Gatt-er, das zweite Gesetz Beispiele wie schein-en, schienen-ern,
schilt-ern, lateinisch vio-i (ich habe gesiegt) und griechisch rio-s (Sieg),
unser mit gegenüber dem englischen widu, unser bunt-el gegenüber dem eng¬
lischen äark, und das dritte Grundgesetz endlich, das Gesetz der Metathesis,
Beispiele wie die beiden gleichbedeutenden lateinischen Wörter für Furcht
eim-or und me-t-us, das lateinische korin-s, (Gestalt) gegenüber dem griechischen
moll-ö (Gestalt), unser Zieg-e und Geiß, Zick-e und Kitz-e, Topf und
Pot, Tug-end und Gut oder auch die lateinischen Wörter Zsl-lauf (kalt)
und g,lA-lau8 (kalt), lateinisch nos (uns) und unser uns, das griechische
ne-8-08 (Insel) gegenüber dem lateinischen in8-u1a (Insel). Schwieriger wird
die Erkenntnis des Zusammenhangs, sobald wir zwei oder gar alle drei Ge¬
setze zugleich wirksam sehen. Das griechische trsx-o (wende) in der umge¬
lagerten lateinischen Form port-o (wende) oder gar in unserm neuhoch¬
deutschen wend-e wiederzuerkennen, fordert schon einen langen Weg des
Studiums, da wir infolge der Ungunst der Überlieferung nicht immer einen
Wurzeltypus in der direkt umgelagerten Form wiederfinden wie etwa bei
tdrin-A und mort-s. Aber auch die tatsächliche Überlieferung hat ihren Vorteil,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0320" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314667"/>
          <fw type="header" place="top"> Sie Sprache in ihrem Naturzusammenhange</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1477" prev="#ID_1476"> Jugend einer gegen das Ende des verflossenen Jahrhunderts immer mehr zu¬<lb/>
nehmenden Resignation. Ausnahmslos wirkende Naturgesetze hatte man auch<lb/>
hier nachzuweisen versucht, und trotz heißen Bemühens war es nicht gelungen.<lb/>
Und in der Tat, betrachten wir den heutigen Standpunkt der historischen<lb/>
Sprachwissenschaft, so kann das Urteil nur lauten: über eine bloße Inventar¬<lb/>
aufnahme von ungeheuerm wirrem Stoff ist man im wesentlichen hier nicht<lb/>
hinausgekommen, von tiefern gesetzmäßigen, organischen Zusammenhängen kann<lb/>
nirgends die Rede sein; die Sprachwissenschaft steht noch da, wo die be¬<lb/>
schreibenden Naturwissenschaften etwa vor einem Jahrhundert, vor dem Auf¬<lb/>
treten von Lamarck, standen. Ans die Kernfrage, die auch den gebildeten<lb/>
Laien interessiert, welcher innere notwendige Zusammenhang zwischen dem<lb/>
Lautkörper und der Bedeutung der unzähligen Sprachgebilde besteht, nach<lb/>
welchen Gesetzen der unermeßliche Gestaltenreichtum der Sprache entstanden ist,<lb/>
gibt sie überhaupt keine Antwort.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1478" next="#ID_1479"> Erst meines Bruders Buch über &#x201E;Die Schöpfung der Sprache", das 1905<lb/>
im Verlage der Grenzboten erschien, und mit dem ich die Leser dieser Zeit¬<lb/>
schrift vor etwa zwei Jahren (Heft 5 vom 31. Januar 1907) bekannt gemacht<lb/>
habe, bringt Licht in diese Frage und zeigt, wie nach drei großen Gesetzen<lb/>
jenes einsilbige Urelement der Sprache, das wir Sprachwurzel zu nennen<lb/>
pflegen, aus sich auf dem Wege der organischen Abwandlung den heutigen<lb/>
Gestaltenreichtum hervorgebracht hat. Diese Gesetze lauten: 1. Die Wurzel<lb/>
ist jeder vokalischen Differenzierung fähig, 2. ebenso jeder konsonantischen<lb/>
Differenzierung und 3. jeder Differenzierung durch die verschiedne Lagerung<lb/>
ihrer Bestandteile. Das erste Gesetz mögen als Vertreter von Tausenden<lb/>
Beispiele veranschaulichen wie Grab-en und Grub-e, Tor und Tür,<lb/>
Gilt-er und Gatt-er, das zweite Gesetz Beispiele wie schein-en, schienen-ern,<lb/>
schilt-ern, lateinisch vio-i (ich habe gesiegt) und griechisch rio-s (Sieg),<lb/>
unser mit gegenüber dem englischen widu, unser bunt-el gegenüber dem eng¬<lb/>
lischen äark, und das dritte Grundgesetz endlich, das Gesetz der Metathesis,<lb/>
Beispiele wie die beiden gleichbedeutenden lateinischen Wörter für Furcht<lb/>
eim-or und me-t-us, das lateinische korin-s, (Gestalt) gegenüber dem griechischen<lb/>
moll-ö (Gestalt), unser Zieg-e und Geiß, Zick-e und Kitz-e, Topf und<lb/>
Pot, Tug-end und Gut oder auch die lateinischen Wörter Zsl-lauf (kalt)<lb/>
und g,lA-lau8 (kalt), lateinisch nos (uns) und unser uns, das griechische<lb/>
ne-8-08 (Insel) gegenüber dem lateinischen in8-u1a (Insel). Schwieriger wird<lb/>
die Erkenntnis des Zusammenhangs, sobald wir zwei oder gar alle drei Ge¬<lb/>
setze zugleich wirksam sehen. Das griechische trsx-o (wende) in der umge¬<lb/>
lagerten lateinischen Form port-o (wende) oder gar in unserm neuhoch¬<lb/>
deutschen wend-e wiederzuerkennen, fordert schon einen langen Weg des<lb/>
Studiums, da wir infolge der Ungunst der Überlieferung nicht immer einen<lb/>
Wurzeltypus in der direkt umgelagerten Form wiederfinden wie etwa bei<lb/>
tdrin-A und mort-s. Aber auch die tatsächliche Überlieferung hat ihren Vorteil,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0320] Sie Sprache in ihrem Naturzusammenhange Jugend einer gegen das Ende des verflossenen Jahrhunderts immer mehr zu¬ nehmenden Resignation. Ausnahmslos wirkende Naturgesetze hatte man auch hier nachzuweisen versucht, und trotz heißen Bemühens war es nicht gelungen. Und in der Tat, betrachten wir den heutigen Standpunkt der historischen Sprachwissenschaft, so kann das Urteil nur lauten: über eine bloße Inventar¬ aufnahme von ungeheuerm wirrem Stoff ist man im wesentlichen hier nicht hinausgekommen, von tiefern gesetzmäßigen, organischen Zusammenhängen kann nirgends die Rede sein; die Sprachwissenschaft steht noch da, wo die be¬ schreibenden Naturwissenschaften etwa vor einem Jahrhundert, vor dem Auf¬ treten von Lamarck, standen. Ans die Kernfrage, die auch den gebildeten Laien interessiert, welcher innere notwendige Zusammenhang zwischen dem Lautkörper und der Bedeutung der unzähligen Sprachgebilde besteht, nach welchen Gesetzen der unermeßliche Gestaltenreichtum der Sprache entstanden ist, gibt sie überhaupt keine Antwort. Erst meines Bruders Buch über „Die Schöpfung der Sprache", das 1905 im Verlage der Grenzboten erschien, und mit dem ich die Leser dieser Zeit¬ schrift vor etwa zwei Jahren (Heft 5 vom 31. Januar 1907) bekannt gemacht habe, bringt Licht in diese Frage und zeigt, wie nach drei großen Gesetzen jenes einsilbige Urelement der Sprache, das wir Sprachwurzel zu nennen pflegen, aus sich auf dem Wege der organischen Abwandlung den heutigen Gestaltenreichtum hervorgebracht hat. Diese Gesetze lauten: 1. Die Wurzel ist jeder vokalischen Differenzierung fähig, 2. ebenso jeder konsonantischen Differenzierung und 3. jeder Differenzierung durch die verschiedne Lagerung ihrer Bestandteile. Das erste Gesetz mögen als Vertreter von Tausenden Beispiele veranschaulichen wie Grab-en und Grub-e, Tor und Tür, Gilt-er und Gatt-er, das zweite Gesetz Beispiele wie schein-en, schienen-ern, schilt-ern, lateinisch vio-i (ich habe gesiegt) und griechisch rio-s (Sieg), unser mit gegenüber dem englischen widu, unser bunt-el gegenüber dem eng¬ lischen äark, und das dritte Grundgesetz endlich, das Gesetz der Metathesis, Beispiele wie die beiden gleichbedeutenden lateinischen Wörter für Furcht eim-or und me-t-us, das lateinische korin-s, (Gestalt) gegenüber dem griechischen moll-ö (Gestalt), unser Zieg-e und Geiß, Zick-e und Kitz-e, Topf und Pot, Tug-end und Gut oder auch die lateinischen Wörter Zsl-lauf (kalt) und g,lA-lau8 (kalt), lateinisch nos (uns) und unser uns, das griechische ne-8-08 (Insel) gegenüber dem lateinischen in8-u1a (Insel). Schwieriger wird die Erkenntnis des Zusammenhangs, sobald wir zwei oder gar alle drei Ge¬ setze zugleich wirksam sehen. Das griechische trsx-o (wende) in der umge¬ lagerten lateinischen Form port-o (wende) oder gar in unserm neuhoch¬ deutschen wend-e wiederzuerkennen, fordert schon einen langen Weg des Studiums, da wir infolge der Ungunst der Überlieferung nicht immer einen Wurzeltypus in der direkt umgelagerten Form wiederfinden wie etwa bei tdrin-A und mort-s. Aber auch die tatsächliche Überlieferung hat ihren Vorteil,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/320
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/320>, abgerufen am 24.07.2024.