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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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genommen, die nun der architektonischen Einladung, empor zu streben, unge¬
hindert folgen könne. Am stärksten tritt diese Wirkung in der Kreuzkirche
ein, die ganz frei steht und sehr hoch gelegen ist: über einer Krypta, der
Bartholomäuskirche. In dieser haben vor dem Bombardement von 1806 und
1807 vierhundert Personen Schutz gefunden und sich sogar, mit ihren Betten
und sonstigem Hausrat familienweise gesondert, eines bescheidnen Komforts
erfreut. Der Dom aber, von dem der Führer mit Recht sagt, er lohne für
sich allein einen Besuch Breslaus, ist eine kleine Welt. Das Äußere mit
seinen Stilproben aus sechs Jahrhunderten -- er ist 1244 begonnen worden,
die letzten Anbauten stammen aus dem Anfange des achtzehnten Jahr¬
hunderts -- verkörpert die Geschichte einer Gemeinschaft, die durch lange
historische Perioden hindurch sich nicht allein erhält und festgegründet bleibt,
sondern stetig wächst und sich zeitgemäß umbildet; und das freundliche, bis
in alle seine unzähligen Winkel blitzsauber gehaltne, um manchen neuen
Schmuck bereicherte Innere mit seiner Fülle von Andächtigen offenbart die
noch ungeschwüchte Lebenskraft dieser Gemeinschaft. Der Dom ist Sonn¬
tags ebenso wie alle übrigen katholischen Kirchen Breslaus dicht gefüllt,
nicht etwa bloß im Bankraum, sondern auch in den Gängen, und nicht
bloß während des Hauptgottesdienstes, sondern auch vor und nach diesem,
indem immer eine Schicht von Leuten, die nur einer Messe beiwohnen, die
andre ablöst. Und zwar sieht man nicht weniger Männer, Jünglinge und
Knaben als Frauen und Mädchen, was bekanntlich nicht bloß religious- und
kulturgeschichtliche, sondern auch politische Bedeutung hat. Die Seitenschiffe
des Doms setzen sich an beiden Seiten des durch eine Wand von ihnen ab¬
geschlossenen, sehr langen Chors als Umgang fort und schließen sich hinten
zusammen. In jeder der Kapellen, die die Seiten umsäumen, sieht man Beter
knien, die hier ganz ungestört und unbeobachtet mit Gott Zwiesprache halten,
und hinter dem Presbyterium, wie man bei uns lieber sagt (Chöre nennen
wir Schlesier die Emporen, besonders die für die Orgel bestimmten) schaut
man durch kunstvolle Gitter in drei prunkvolle Kapellen, deren jede für sich
eine ansehnliche Kirche ist (Marien-, Elisabeth- und Kurfürstenkapelle). Die
Domtürme sind jetzt von einem Gerüst umgeben. Man untersucht sie auf
ihren Bauzustand, wird sie dann ausbessern und der Zeit zum Opfer gefallne
Ornamente ergänzen. Eine Partei will ihnen die abgebrannten gotischen
Spitzhelme wieder aufsetzen. (Mit ihren Turmspitzen haben die Breslauer
merkwürdiges Unglück gehabt; der höchste dieser Kegel, der von Elisabeth, ist
herabgestürzt, die Kegel der Magdalenentürme hat man, einem Sturz vorzu¬
beugen, abgetragen; durch Renaissance- oder Barockkappen wurden sie ersetzt;
die Domtürme bekamen schlichte Notdücher.) Ich gehöre zu denen, die meinen,
man solle das alte liebe Stadtbild, zu dem die mehr durch Massigkeit als
durch Zierlichkeit wirkenden Domtürme gehören, unverändert lassen und sich
auf Reparaturen beschränken.


Breslau

genommen, die nun der architektonischen Einladung, empor zu streben, unge¬
hindert folgen könne. Am stärksten tritt diese Wirkung in der Kreuzkirche
ein, die ganz frei steht und sehr hoch gelegen ist: über einer Krypta, der
Bartholomäuskirche. In dieser haben vor dem Bombardement von 1806 und
1807 vierhundert Personen Schutz gefunden und sich sogar, mit ihren Betten
und sonstigem Hausrat familienweise gesondert, eines bescheidnen Komforts
erfreut. Der Dom aber, von dem der Führer mit Recht sagt, er lohne für
sich allein einen Besuch Breslaus, ist eine kleine Welt. Das Äußere mit
seinen Stilproben aus sechs Jahrhunderten — er ist 1244 begonnen worden,
die letzten Anbauten stammen aus dem Anfange des achtzehnten Jahr¬
hunderts — verkörpert die Geschichte einer Gemeinschaft, die durch lange
historische Perioden hindurch sich nicht allein erhält und festgegründet bleibt,
sondern stetig wächst und sich zeitgemäß umbildet; und das freundliche, bis
in alle seine unzähligen Winkel blitzsauber gehaltne, um manchen neuen
Schmuck bereicherte Innere mit seiner Fülle von Andächtigen offenbart die
noch ungeschwüchte Lebenskraft dieser Gemeinschaft. Der Dom ist Sonn¬
tags ebenso wie alle übrigen katholischen Kirchen Breslaus dicht gefüllt,
nicht etwa bloß im Bankraum, sondern auch in den Gängen, und nicht
bloß während des Hauptgottesdienstes, sondern auch vor und nach diesem,
indem immer eine Schicht von Leuten, die nur einer Messe beiwohnen, die
andre ablöst. Und zwar sieht man nicht weniger Männer, Jünglinge und
Knaben als Frauen und Mädchen, was bekanntlich nicht bloß religious- und
kulturgeschichtliche, sondern auch politische Bedeutung hat. Die Seitenschiffe
des Doms setzen sich an beiden Seiten des durch eine Wand von ihnen ab¬
geschlossenen, sehr langen Chors als Umgang fort und schließen sich hinten
zusammen. In jeder der Kapellen, die die Seiten umsäumen, sieht man Beter
knien, die hier ganz ungestört und unbeobachtet mit Gott Zwiesprache halten,
und hinter dem Presbyterium, wie man bei uns lieber sagt (Chöre nennen
wir Schlesier die Emporen, besonders die für die Orgel bestimmten) schaut
man durch kunstvolle Gitter in drei prunkvolle Kapellen, deren jede für sich
eine ansehnliche Kirche ist (Marien-, Elisabeth- und Kurfürstenkapelle). Die
Domtürme sind jetzt von einem Gerüst umgeben. Man untersucht sie auf
ihren Bauzustand, wird sie dann ausbessern und der Zeit zum Opfer gefallne
Ornamente ergänzen. Eine Partei will ihnen die abgebrannten gotischen
Spitzhelme wieder aufsetzen. (Mit ihren Turmspitzen haben die Breslauer
merkwürdiges Unglück gehabt; der höchste dieser Kegel, der von Elisabeth, ist
herabgestürzt, die Kegel der Magdalenentürme hat man, einem Sturz vorzu¬
beugen, abgetragen; durch Renaissance- oder Barockkappen wurden sie ersetzt;
die Domtürme bekamen schlichte Notdücher.) Ich gehöre zu denen, die meinen,
man solle das alte liebe Stadtbild, zu dem die mehr durch Massigkeit als
durch Zierlichkeit wirkenden Domtürme gehören, unverändert lassen und sich
auf Reparaturen beschränken.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/312>, abgerufen am 24.07.2024.