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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Nliborg und Lholm

Allen diesen schlechthin als Russifizierungsmaßnahmen bekannten Be¬
strebungen der Regierung begegnet Widerstand von zwei Seiten: von den be¬
troffnen Nationalitäten und von den gebildeten Russen, die, sei es auf Grund von
politischen, sei es von wirtschaftlichen Anschauungen, Gegner des Zentralismus
sind- Diese Gegner bilden, wenn wir von den "Unzufrieduen" absehen, zwei
Gruppen. Die eine Gruppe könnte befriedigt werden durch eine liberalere
Ausgestaltung der Selbstverwaltung in den rein russischen Bezirken. Die
Regierung Stolypins hat das auch erkannt und kommt den sogenannten
Autonomisten vorsichtig entgegen. Dadurch wird in diesem Lager die
Forderung nach Autonomie für die Grenzmarken jetzt weniger radikal gestellt
als noch vor wenigen Jahren. Die andre Gruppe setzt sich aus den sogenannten
Föderalisten zusammen. Diese Richtung ist der Negierung vor allen Dingen
deshalb unangenehm, weil sie alle Sozialisten und bürgerlichen Demokraten,
aber auch einen Teil der modernen Slawjanophilen auf die Seite der Polen
treibt. Es handelt sich somit um eine überaus starke Strömung.

> Die Neigung zum Föderalismus ist in Rußland in dem Maße gewachsen,
Wie sich das Reich ausdehnte, und wie neben das Großrussentum zahlreiche
andre russische und fremdländische Stämme traten. Infolgedessen waren es auch
die Kleinrussen oder Ukrainer, durch die der föderalistische Gedanke zuerst zum
Ausdruck gebracht wurde. Er trat lebhaft in der geistigen Bewegung zutage,
die in den Dezembertagen des Jahres 1826 ihren vorläufigen Abschluß fand.
Die Idee war damals durchaus nicht so utopisch, wie sie heute vielleicht klingt.
Das Reich Alexanders des Ersten war tatsächlich nichts andres als ein durch die
Person des Monarchen zusammengehaltner Föderativstaat. Er wurde gebildet
aus dem eigentlichen Rußland mit Teilen von Kleinrußland, Litauen und
den Baltischen Provinzen, dem Zartum Polen, dem sogenannten Kongre߬
polen, und dem Großfürstentum Finnland. Es galt nur die noch vorhandnen
Sonderheiten weiter auszubauen, wie es die einzelnen Nationalitäten wünschten.
Die Politik Alexanders bestärkte den Glauben derer, die meinten, Rußland werde
ähnlich andern westeuropäischen Ländern den Weg zum Föderativstaat gehn
müssen. Nikolaus der Erste trat allen solchen Ideen mit rücksichtsloser Strenge
entgegen. Er war als Feind der Demokratie auch ein entschiedner Gegner des
föderativem Gedankens. Er wurde darin durch den polnischen Aufstand bestärkt
und sah schließlich auch in den gesetzlich und verfassungsmäßig vorgesehenen Frei¬
heiten der "Fremdvölker" nichts andres als Gefahren für das Reich. So wurde
während seiner Regierungszeit weder in Polen noch in Finnland der Landtag be¬
rufen, und alle Angelegenheiten dieser Staatswesen mußten auf administrativen
Wege erledigt werden. Infolge dieser Politik wurden die betroffnen Nationen nur
um so mehr verbittert, was wieder den Gegnern ihrer Freiheiten neue Beweis¬
mittel zum Kampf gegen sie lieferte. So sympathisierten die Finnländer im
Jahre 1854 mit den Engländern. Ihre Lotsen ermöglichten es der englischen
Flotte, bis tief in den Finnischen Meerbusen vorzudringen und die Befestigungen
an der Nvwwamündung zu beschießen, während die russische Armee bei


Nliborg und Lholm

Allen diesen schlechthin als Russifizierungsmaßnahmen bekannten Be¬
strebungen der Regierung begegnet Widerstand von zwei Seiten: von den be¬
troffnen Nationalitäten und von den gebildeten Russen, die, sei es auf Grund von
politischen, sei es von wirtschaftlichen Anschauungen, Gegner des Zentralismus
sind- Diese Gegner bilden, wenn wir von den „Unzufrieduen" absehen, zwei
Gruppen. Die eine Gruppe könnte befriedigt werden durch eine liberalere
Ausgestaltung der Selbstverwaltung in den rein russischen Bezirken. Die
Regierung Stolypins hat das auch erkannt und kommt den sogenannten
Autonomisten vorsichtig entgegen. Dadurch wird in diesem Lager die
Forderung nach Autonomie für die Grenzmarken jetzt weniger radikal gestellt
als noch vor wenigen Jahren. Die andre Gruppe setzt sich aus den sogenannten
Föderalisten zusammen. Diese Richtung ist der Negierung vor allen Dingen
deshalb unangenehm, weil sie alle Sozialisten und bürgerlichen Demokraten,
aber auch einen Teil der modernen Slawjanophilen auf die Seite der Polen
treibt. Es handelt sich somit um eine überaus starke Strömung.

> Die Neigung zum Föderalismus ist in Rußland in dem Maße gewachsen,
Wie sich das Reich ausdehnte, und wie neben das Großrussentum zahlreiche
andre russische und fremdländische Stämme traten. Infolgedessen waren es auch
die Kleinrussen oder Ukrainer, durch die der föderalistische Gedanke zuerst zum
Ausdruck gebracht wurde. Er trat lebhaft in der geistigen Bewegung zutage,
die in den Dezembertagen des Jahres 1826 ihren vorläufigen Abschluß fand.
Die Idee war damals durchaus nicht so utopisch, wie sie heute vielleicht klingt.
Das Reich Alexanders des Ersten war tatsächlich nichts andres als ein durch die
Person des Monarchen zusammengehaltner Föderativstaat. Er wurde gebildet
aus dem eigentlichen Rußland mit Teilen von Kleinrußland, Litauen und
den Baltischen Provinzen, dem Zartum Polen, dem sogenannten Kongre߬
polen, und dem Großfürstentum Finnland. Es galt nur die noch vorhandnen
Sonderheiten weiter auszubauen, wie es die einzelnen Nationalitäten wünschten.
Die Politik Alexanders bestärkte den Glauben derer, die meinten, Rußland werde
ähnlich andern westeuropäischen Ländern den Weg zum Föderativstaat gehn
müssen. Nikolaus der Erste trat allen solchen Ideen mit rücksichtsloser Strenge
entgegen. Er war als Feind der Demokratie auch ein entschiedner Gegner des
föderativem Gedankens. Er wurde darin durch den polnischen Aufstand bestärkt
und sah schließlich auch in den gesetzlich und verfassungsmäßig vorgesehenen Frei¬
heiten der „Fremdvölker" nichts andres als Gefahren für das Reich. So wurde
während seiner Regierungszeit weder in Polen noch in Finnland der Landtag be¬
rufen, und alle Angelegenheiten dieser Staatswesen mußten auf administrativen
Wege erledigt werden. Infolge dieser Politik wurden die betroffnen Nationen nur
um so mehr verbittert, was wieder den Gegnern ihrer Freiheiten neue Beweis¬
mittel zum Kampf gegen sie lieferte. So sympathisierten die Finnländer im
Jahre 1854 mit den Engländern. Ihre Lotsen ermöglichten es der englischen
Flotte, bis tief in den Finnischen Meerbusen vorzudringen und die Befestigungen
an der Nvwwamündung zu beschießen, während die russische Armee bei


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[0303] Nliborg und Lholm Allen diesen schlechthin als Russifizierungsmaßnahmen bekannten Be¬ strebungen der Regierung begegnet Widerstand von zwei Seiten: von den be¬ troffnen Nationalitäten und von den gebildeten Russen, die, sei es auf Grund von politischen, sei es von wirtschaftlichen Anschauungen, Gegner des Zentralismus sind- Diese Gegner bilden, wenn wir von den „Unzufrieduen" absehen, zwei Gruppen. Die eine Gruppe könnte befriedigt werden durch eine liberalere Ausgestaltung der Selbstverwaltung in den rein russischen Bezirken. Die Regierung Stolypins hat das auch erkannt und kommt den sogenannten Autonomisten vorsichtig entgegen. Dadurch wird in diesem Lager die Forderung nach Autonomie für die Grenzmarken jetzt weniger radikal gestellt als noch vor wenigen Jahren. Die andre Gruppe setzt sich aus den sogenannten Föderalisten zusammen. Diese Richtung ist der Negierung vor allen Dingen deshalb unangenehm, weil sie alle Sozialisten und bürgerlichen Demokraten, aber auch einen Teil der modernen Slawjanophilen auf die Seite der Polen treibt. Es handelt sich somit um eine überaus starke Strömung. > Die Neigung zum Föderalismus ist in Rußland in dem Maße gewachsen, Wie sich das Reich ausdehnte, und wie neben das Großrussentum zahlreiche andre russische und fremdländische Stämme traten. Infolgedessen waren es auch die Kleinrussen oder Ukrainer, durch die der föderalistische Gedanke zuerst zum Ausdruck gebracht wurde. Er trat lebhaft in der geistigen Bewegung zutage, die in den Dezembertagen des Jahres 1826 ihren vorläufigen Abschluß fand. Die Idee war damals durchaus nicht so utopisch, wie sie heute vielleicht klingt. Das Reich Alexanders des Ersten war tatsächlich nichts andres als ein durch die Person des Monarchen zusammengehaltner Föderativstaat. Er wurde gebildet aus dem eigentlichen Rußland mit Teilen von Kleinrußland, Litauen und den Baltischen Provinzen, dem Zartum Polen, dem sogenannten Kongre߬ polen, und dem Großfürstentum Finnland. Es galt nur die noch vorhandnen Sonderheiten weiter auszubauen, wie es die einzelnen Nationalitäten wünschten. Die Politik Alexanders bestärkte den Glauben derer, die meinten, Rußland werde ähnlich andern westeuropäischen Ländern den Weg zum Föderativstaat gehn müssen. Nikolaus der Erste trat allen solchen Ideen mit rücksichtsloser Strenge entgegen. Er war als Feind der Demokratie auch ein entschiedner Gegner des föderativem Gedankens. Er wurde darin durch den polnischen Aufstand bestärkt und sah schließlich auch in den gesetzlich und verfassungsmäßig vorgesehenen Frei¬ heiten der „Fremdvölker" nichts andres als Gefahren für das Reich. So wurde während seiner Regierungszeit weder in Polen noch in Finnland der Landtag be¬ rufen, und alle Angelegenheiten dieser Staatswesen mußten auf administrativen Wege erledigt werden. Infolge dieser Politik wurden die betroffnen Nationen nur um so mehr verbittert, was wieder den Gegnern ihrer Freiheiten neue Beweis¬ mittel zum Kampf gegen sie lieferte. So sympathisierten die Finnländer im Jahre 1854 mit den Engländern. Ihre Lotsen ermöglichten es der englischen Flotte, bis tief in den Finnischen Meerbusen vorzudringen und die Befestigungen an der Nvwwamündung zu beschießen, während die russische Armee bei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/303>, abgerufen am 24.07.2024.