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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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literarische Rundschau

worden und dann nach Paris ausgewandert sind. Dort haben sie langsam
in harter Arbeit wieder Vermögen erworben, sind beim Ausbruch des großen
Krieges zurückgekehrt und haben sich im Unterdorf angebaut, heißen Rache¬
durst im Herzen. Und den befriedigen sie nun; sie gewinnen allmählich die
Mehrheit im Dorfe und setzen die Wahl eines der Ihren zum Bürgermeister
an Stelle des verhaßten alten durch. Freilich sind ihnen alle Mittel dabei
recht. Und die Spuren des Kampfes bleiben einem betrognen Mädchen, der
Tochter des alten Bürgermeisters, für immer eingedrückt; erst spät findet sie,
da sie ohne Habe davonziehen muß, den ersten Frühschein eines neuen be¬
scheidnen Glücks. Unaufdringlich und echt ist der kleine Kreis des Dorfes, in
das doch alle großen Leidenschaften hineinschlagen, gegeben.

Weitern Ausblick bei aller Enge der dargestellten Szene bietet die Er¬
zählung des jungen deutschen Luxemburgers Norbert Jacques "Funchal"
(Berlin, S. Fischer), eine Geschichte der Sehnsucht, wie er selbst sie bezeichnet.
Der Findling eines Wracks, das von Madeira her in der Nähe der jütischen
Küste gescheitert ist, trägt die Sehnsucht nach der Heimat mitten unter seinen
blonden Stiefgeschwistern so eigen mit sich wie seine dunkeln Augen. Sie
treibt ihn, da er erwachsen ist, zum Wandern, sie durchglüht den Liebesbund,
die Ehe des immer wieder Zurückkehrenden, der nun an der Küste der neuen
Heimat ein Fischer wird wie alle andern. Und in der wunderbar schönen
Gestalt der einzigen Tochter scheint sich diese mitschwingende Sehnsucht zu
verkörpern. Wie an einem Sturmtag all das zerbricht, wie dabei das Lebens-
glück dessen mit in Trümmer geht, der das Herz dieser Tochter der Sehnsucht
gewonnen hat, das gibt das von echten und feinen Stimmungen durchzogne
Buch ergreifend wieder. Jacques ist sicherlich ein Talent, von dem wir noch
vieles und feines erwarten dürfen.

Meiner letzten literarhistorischen Rundschau möchte ich heute noch die
Anzeige von zwei ganz vortrefflichen und weithin ausgreifenden Werken nach¬
schicken, in denen sich ein echt deutscher Fleiß großen Gestalten der französischen
Literaturgeschichte hingibt: Josef Ettlingers "Benjamin Konstant" und Paul
Mahns "Guy de Maupassant" (beide bei Egon Fleischel 6 Co.). Ettlinger
nennt sein Werk "den Roman eines Lebens" mit Recht, denn hier ruht die
Darstellung weniger auf der ästhetischen Analyse von Constants Werken, deren
eines, den Roman "Adolphe", Ettlinger früher (bei Otto Hendel in Halle) in
deutscher Übersetzung hat erscheinen lassen. Ettlinger gibt vielmehr, vor allem
auf Grund der jetzt sehr reich fließenden Quellen, die äußern und innern
Schicksale dieses merkwürdigen Mannes. Wir sehen Constant durch eine von
allen guten Geistern wirklicher Erziehung verlassene Kindheit gehn, erleben,
wie er unter den Einfluß der viel ältern Frau von Charriere gelangt und
dann in Braunschweig heimisch wird, zum erstenmal auf deutscher Erde. Er
findet eine deutsche Frau, die Hofdame Wilhelmine von Cramm, die er freilich
weniger aus Liebe als aus unbeherrschten Mitleid heiratet, beurlaubt sich


literarische Rundschau

worden und dann nach Paris ausgewandert sind. Dort haben sie langsam
in harter Arbeit wieder Vermögen erworben, sind beim Ausbruch des großen
Krieges zurückgekehrt und haben sich im Unterdorf angebaut, heißen Rache¬
durst im Herzen. Und den befriedigen sie nun; sie gewinnen allmählich die
Mehrheit im Dorfe und setzen die Wahl eines der Ihren zum Bürgermeister
an Stelle des verhaßten alten durch. Freilich sind ihnen alle Mittel dabei
recht. Und die Spuren des Kampfes bleiben einem betrognen Mädchen, der
Tochter des alten Bürgermeisters, für immer eingedrückt; erst spät findet sie,
da sie ohne Habe davonziehen muß, den ersten Frühschein eines neuen be¬
scheidnen Glücks. Unaufdringlich und echt ist der kleine Kreis des Dorfes, in
das doch alle großen Leidenschaften hineinschlagen, gegeben.

Weitern Ausblick bei aller Enge der dargestellten Szene bietet die Er¬
zählung des jungen deutschen Luxemburgers Norbert Jacques „Funchal"
(Berlin, S. Fischer), eine Geschichte der Sehnsucht, wie er selbst sie bezeichnet.
Der Findling eines Wracks, das von Madeira her in der Nähe der jütischen
Küste gescheitert ist, trägt die Sehnsucht nach der Heimat mitten unter seinen
blonden Stiefgeschwistern so eigen mit sich wie seine dunkeln Augen. Sie
treibt ihn, da er erwachsen ist, zum Wandern, sie durchglüht den Liebesbund,
die Ehe des immer wieder Zurückkehrenden, der nun an der Küste der neuen
Heimat ein Fischer wird wie alle andern. Und in der wunderbar schönen
Gestalt der einzigen Tochter scheint sich diese mitschwingende Sehnsucht zu
verkörpern. Wie an einem Sturmtag all das zerbricht, wie dabei das Lebens-
glück dessen mit in Trümmer geht, der das Herz dieser Tochter der Sehnsucht
gewonnen hat, das gibt das von echten und feinen Stimmungen durchzogne
Buch ergreifend wieder. Jacques ist sicherlich ein Talent, von dem wir noch
vieles und feines erwarten dürfen.

Meiner letzten literarhistorischen Rundschau möchte ich heute noch die
Anzeige von zwei ganz vortrefflichen und weithin ausgreifenden Werken nach¬
schicken, in denen sich ein echt deutscher Fleiß großen Gestalten der französischen
Literaturgeschichte hingibt: Josef Ettlingers „Benjamin Konstant" und Paul
Mahns „Guy de Maupassant" (beide bei Egon Fleischel 6 Co.). Ettlinger
nennt sein Werk „den Roman eines Lebens" mit Recht, denn hier ruht die
Darstellung weniger auf der ästhetischen Analyse von Constants Werken, deren
eines, den Roman „Adolphe", Ettlinger früher (bei Otto Hendel in Halle) in
deutscher Übersetzung hat erscheinen lassen. Ettlinger gibt vielmehr, vor allem
auf Grund der jetzt sehr reich fließenden Quellen, die äußern und innern
Schicksale dieses merkwürdigen Mannes. Wir sehen Constant durch eine von
allen guten Geistern wirklicher Erziehung verlassene Kindheit gehn, erleben,
wie er unter den Einfluß der viel ältern Frau von Charriere gelangt und
dann in Braunschweig heimisch wird, zum erstenmal auf deutscher Erde. Er
findet eine deutsche Frau, die Hofdame Wilhelmine von Cramm, die er freilich
weniger aus Liebe als aus unbeherrschten Mitleid heiratet, beurlaubt sich


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[0272] literarische Rundschau worden und dann nach Paris ausgewandert sind. Dort haben sie langsam in harter Arbeit wieder Vermögen erworben, sind beim Ausbruch des großen Krieges zurückgekehrt und haben sich im Unterdorf angebaut, heißen Rache¬ durst im Herzen. Und den befriedigen sie nun; sie gewinnen allmählich die Mehrheit im Dorfe und setzen die Wahl eines der Ihren zum Bürgermeister an Stelle des verhaßten alten durch. Freilich sind ihnen alle Mittel dabei recht. Und die Spuren des Kampfes bleiben einem betrognen Mädchen, der Tochter des alten Bürgermeisters, für immer eingedrückt; erst spät findet sie, da sie ohne Habe davonziehen muß, den ersten Frühschein eines neuen be¬ scheidnen Glücks. Unaufdringlich und echt ist der kleine Kreis des Dorfes, in das doch alle großen Leidenschaften hineinschlagen, gegeben. Weitern Ausblick bei aller Enge der dargestellten Szene bietet die Er¬ zählung des jungen deutschen Luxemburgers Norbert Jacques „Funchal" (Berlin, S. Fischer), eine Geschichte der Sehnsucht, wie er selbst sie bezeichnet. Der Findling eines Wracks, das von Madeira her in der Nähe der jütischen Küste gescheitert ist, trägt die Sehnsucht nach der Heimat mitten unter seinen blonden Stiefgeschwistern so eigen mit sich wie seine dunkeln Augen. Sie treibt ihn, da er erwachsen ist, zum Wandern, sie durchglüht den Liebesbund, die Ehe des immer wieder Zurückkehrenden, der nun an der Küste der neuen Heimat ein Fischer wird wie alle andern. Und in der wunderbar schönen Gestalt der einzigen Tochter scheint sich diese mitschwingende Sehnsucht zu verkörpern. Wie an einem Sturmtag all das zerbricht, wie dabei das Lebens- glück dessen mit in Trümmer geht, der das Herz dieser Tochter der Sehnsucht gewonnen hat, das gibt das von echten und feinen Stimmungen durchzogne Buch ergreifend wieder. Jacques ist sicherlich ein Talent, von dem wir noch vieles und feines erwarten dürfen. Meiner letzten literarhistorischen Rundschau möchte ich heute noch die Anzeige von zwei ganz vortrefflichen und weithin ausgreifenden Werken nach¬ schicken, in denen sich ein echt deutscher Fleiß großen Gestalten der französischen Literaturgeschichte hingibt: Josef Ettlingers „Benjamin Konstant" und Paul Mahns „Guy de Maupassant" (beide bei Egon Fleischel 6 Co.). Ettlinger nennt sein Werk „den Roman eines Lebens" mit Recht, denn hier ruht die Darstellung weniger auf der ästhetischen Analyse von Constants Werken, deren eines, den Roman „Adolphe", Ettlinger früher (bei Otto Hendel in Halle) in deutscher Übersetzung hat erscheinen lassen. Ettlinger gibt vielmehr, vor allem auf Grund der jetzt sehr reich fließenden Quellen, die äußern und innern Schicksale dieses merkwürdigen Mannes. Wir sehen Constant durch eine von allen guten Geistern wirklicher Erziehung verlassene Kindheit gehn, erleben, wie er unter den Einfluß der viel ältern Frau von Charriere gelangt und dann in Braunschweig heimisch wird, zum erstenmal auf deutscher Erde. Er findet eine deutsche Frau, die Hofdame Wilhelmine von Cramm, die er freilich weniger aus Liebe als aus unbeherrschten Mitleid heiratet, beurlaubt sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/272>, abgerufen am 24.07.2024.