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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Scholastentum

diese Häute zeigen doch eine organische Ordnung an. Sie sind notwendig im
Gang des Entwicklungsprozesses.

Aber in der Philosophie ist es oft, als ob sich fremde Parasiten des
Jnsektenkleides bemächtigt hätten; und auf einmal schlüpfen statt des Schmetter¬
lings kleine Wespen aus, die mit der ganzen Entwicklung gar nichts zu tun
haben. Schopenhauer nennt ganz willkürlich den Willen zum Leben, den
er zum Mittelpunkt seines Systems erheben will, das Dingansich Kants. Alle
andern Philosophen hatten diesem Dingansich eine ganz andre Deutung ge¬
geben. Der eine nennt den andern einen Verderber der Wissenschaft. Sogar
Dilettanten, wie der Philologe Nietzsche, machen sich auf diesem großen
Tummelplätze breit, und wenn sie es auch nicht zum abgerundeten System
bringen, so sind sie doch durch ihre scharfe Beobachtung im einzelnen oft
lichtvoller als die Fachmänner, die in ihrem Gedankenkreise festgebannt sind.

Aber diese Erscheinung ist es nicht allein. Die Unfruchtbarkeit der
modernen Philosophie gibt ihr das schlimmste Urteil. Die Philosophie Hegels
galt seinerzeit für ein System von universaler Fruchtbarkeit, aber was ist
das für eine Fruchtbarkeit, die das Widersprechendste gebärt! Sie ließ sich
gebrauchen zu einer Apologie des Christentums, des modernen Staates und
ebenso zu einer Begründung der internationalen gottlosen Sozialdemokratie.
Der Mann war es, der geistreiche, der hinter dieser Philosophie stand, und der
jedermann anregte.

Ihrer Definition nach ist die Philosophie die Wissenschaft der Wissen¬
schaften, ihre Königin. Aber was ist das für eine Königin, von deren Be¬
stehen die untergeordneten Geister gar nichts wissen! Und es ist doch eine
Tatsache, daß selbst Führer auf dem Gebiete der Naturwissenschaft der Philo¬
sophie ganz fremd geblieben sind. Ja erfahrne warnen häufig junge Leute
vor deren Studium, weil sie offenbar mehr verwirrend als fördernd wirke.

Eine gesunde Logik lernt man im praktischen Leben, ohne daß der Geist
nach Goethes Persiflage einem zuvor dressiert und in spanische Stiefel ge¬
schnürt worden wäre. Metaphysik ist eine unmögliche Disziplin, und die Er¬
kenntnistheorie hat mehr von der Naturwissenschaft zu lernen als die
Naturwissenschaft von ihr.

Damit steht im Zusammenhange, daß große Geister ihren eignen Be¬
kenntnissen nach öfters des philosophischen Organs entbehrt haben, daß große
Nationen, die wissenschaftlich an der Spitze der Zivilisation marschieren, von
der Philosophie im deutschen Sinne keine Notiz nehmen. Und wie der
Naturwissenschaftler über sie die Achseln zuckt, so ist auch der Künstler auf
den Zweig der Philosophie, der sich mit dem Schönen befaßt, meist herzlich
schlecht zu sprechen. "Mir hilft die Kunsthistorie nur wenig, ich kann aus
ihr die Kunst nicht fassen. Hätte ich ein paar Jahre meines Lebens mit
Praktischer Pfuscherei verloren, so würde mir dies für mein Verständnis viel
nützlicher sein als alle Vorlesungen und Bücher dieser Welt. Wenn ich sonst


Grenzboten IV 1909 lZ3
Scholastentum

diese Häute zeigen doch eine organische Ordnung an. Sie sind notwendig im
Gang des Entwicklungsprozesses.

Aber in der Philosophie ist es oft, als ob sich fremde Parasiten des
Jnsektenkleides bemächtigt hätten; und auf einmal schlüpfen statt des Schmetter¬
lings kleine Wespen aus, die mit der ganzen Entwicklung gar nichts zu tun
haben. Schopenhauer nennt ganz willkürlich den Willen zum Leben, den
er zum Mittelpunkt seines Systems erheben will, das Dingansich Kants. Alle
andern Philosophen hatten diesem Dingansich eine ganz andre Deutung ge¬
geben. Der eine nennt den andern einen Verderber der Wissenschaft. Sogar
Dilettanten, wie der Philologe Nietzsche, machen sich auf diesem großen
Tummelplätze breit, und wenn sie es auch nicht zum abgerundeten System
bringen, so sind sie doch durch ihre scharfe Beobachtung im einzelnen oft
lichtvoller als die Fachmänner, die in ihrem Gedankenkreise festgebannt sind.

Aber diese Erscheinung ist es nicht allein. Die Unfruchtbarkeit der
modernen Philosophie gibt ihr das schlimmste Urteil. Die Philosophie Hegels
galt seinerzeit für ein System von universaler Fruchtbarkeit, aber was ist
das für eine Fruchtbarkeit, die das Widersprechendste gebärt! Sie ließ sich
gebrauchen zu einer Apologie des Christentums, des modernen Staates und
ebenso zu einer Begründung der internationalen gottlosen Sozialdemokratie.
Der Mann war es, der geistreiche, der hinter dieser Philosophie stand, und der
jedermann anregte.

Ihrer Definition nach ist die Philosophie die Wissenschaft der Wissen¬
schaften, ihre Königin. Aber was ist das für eine Königin, von deren Be¬
stehen die untergeordneten Geister gar nichts wissen! Und es ist doch eine
Tatsache, daß selbst Führer auf dem Gebiete der Naturwissenschaft der Philo¬
sophie ganz fremd geblieben sind. Ja erfahrne warnen häufig junge Leute
vor deren Studium, weil sie offenbar mehr verwirrend als fördernd wirke.

Eine gesunde Logik lernt man im praktischen Leben, ohne daß der Geist
nach Goethes Persiflage einem zuvor dressiert und in spanische Stiefel ge¬
schnürt worden wäre. Metaphysik ist eine unmögliche Disziplin, und die Er¬
kenntnistheorie hat mehr von der Naturwissenschaft zu lernen als die
Naturwissenschaft von ihr.

Damit steht im Zusammenhange, daß große Geister ihren eignen Be¬
kenntnissen nach öfters des philosophischen Organs entbehrt haben, daß große
Nationen, die wissenschaftlich an der Spitze der Zivilisation marschieren, von
der Philosophie im deutschen Sinne keine Notiz nehmen. Und wie der
Naturwissenschaftler über sie die Achseln zuckt, so ist auch der Künstler auf
den Zweig der Philosophie, der sich mit dem Schönen befaßt, meist herzlich
schlecht zu sprechen. „Mir hilft die Kunsthistorie nur wenig, ich kann aus
ihr die Kunst nicht fassen. Hätte ich ein paar Jahre meines Lebens mit
Praktischer Pfuscherei verloren, so würde mir dies für mein Verständnis viel
nützlicher sein als alle Vorlesungen und Bücher dieser Welt. Wenn ich sonst


Grenzboten IV 1909 lZ3
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[0265] Scholastentum diese Häute zeigen doch eine organische Ordnung an. Sie sind notwendig im Gang des Entwicklungsprozesses. Aber in der Philosophie ist es oft, als ob sich fremde Parasiten des Jnsektenkleides bemächtigt hätten; und auf einmal schlüpfen statt des Schmetter¬ lings kleine Wespen aus, die mit der ganzen Entwicklung gar nichts zu tun haben. Schopenhauer nennt ganz willkürlich den Willen zum Leben, den er zum Mittelpunkt seines Systems erheben will, das Dingansich Kants. Alle andern Philosophen hatten diesem Dingansich eine ganz andre Deutung ge¬ geben. Der eine nennt den andern einen Verderber der Wissenschaft. Sogar Dilettanten, wie der Philologe Nietzsche, machen sich auf diesem großen Tummelplätze breit, und wenn sie es auch nicht zum abgerundeten System bringen, so sind sie doch durch ihre scharfe Beobachtung im einzelnen oft lichtvoller als die Fachmänner, die in ihrem Gedankenkreise festgebannt sind. Aber diese Erscheinung ist es nicht allein. Die Unfruchtbarkeit der modernen Philosophie gibt ihr das schlimmste Urteil. Die Philosophie Hegels galt seinerzeit für ein System von universaler Fruchtbarkeit, aber was ist das für eine Fruchtbarkeit, die das Widersprechendste gebärt! Sie ließ sich gebrauchen zu einer Apologie des Christentums, des modernen Staates und ebenso zu einer Begründung der internationalen gottlosen Sozialdemokratie. Der Mann war es, der geistreiche, der hinter dieser Philosophie stand, und der jedermann anregte. Ihrer Definition nach ist die Philosophie die Wissenschaft der Wissen¬ schaften, ihre Königin. Aber was ist das für eine Königin, von deren Be¬ stehen die untergeordneten Geister gar nichts wissen! Und es ist doch eine Tatsache, daß selbst Führer auf dem Gebiete der Naturwissenschaft der Philo¬ sophie ganz fremd geblieben sind. Ja erfahrne warnen häufig junge Leute vor deren Studium, weil sie offenbar mehr verwirrend als fördernd wirke. Eine gesunde Logik lernt man im praktischen Leben, ohne daß der Geist nach Goethes Persiflage einem zuvor dressiert und in spanische Stiefel ge¬ schnürt worden wäre. Metaphysik ist eine unmögliche Disziplin, und die Er¬ kenntnistheorie hat mehr von der Naturwissenschaft zu lernen als die Naturwissenschaft von ihr. Damit steht im Zusammenhange, daß große Geister ihren eignen Be¬ kenntnissen nach öfters des philosophischen Organs entbehrt haben, daß große Nationen, die wissenschaftlich an der Spitze der Zivilisation marschieren, von der Philosophie im deutschen Sinne keine Notiz nehmen. Und wie der Naturwissenschaftler über sie die Achseln zuckt, so ist auch der Künstler auf den Zweig der Philosophie, der sich mit dem Schönen befaßt, meist herzlich schlecht zu sprechen. „Mir hilft die Kunsthistorie nur wenig, ich kann aus ihr die Kunst nicht fassen. Hätte ich ein paar Jahre meines Lebens mit Praktischer Pfuscherei verloren, so würde mir dies für mein Verständnis viel nützlicher sein als alle Vorlesungen und Bücher dieser Welt. Wenn ich sonst Grenzboten IV 1909 lZ3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/265>, abgerufen am 24.07.2024.