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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Jesus im ttrteil der Jahrhunderte

Beherrschung und Sichtung des auch im neuen Jahrhundert immer mehr an¬
schwellenden Materials, die Klarheit und maßhaltige Weisheit seiner Stellung¬
nahme auch gegenüber solchen Problemen, deren Diskussion noch im vollen
Gange ist, und die strenge Sachlichkeit, mit der er fast alle bedeutsamen
Stimmen, negative wie positive, bei aller deutlich fühlbaren persönlichen Christus¬
verehrung zu Worte kommen läßt, verdienen die dankbarste Anerkennung. Für
den Leser, der sein Buch in einem Zuge durchliest, wird es mehr und mehr
eine Quelle geistigen Genusses, je weiter er mit ihm vorwärts dringt. Er
wird es als eins der wertvollsten Quellenbücher in seine Bibliothek aufnehmen,
das ihn zuverlässig und übersichtlich auch über alle wichtigen modernen Be¬
urteilungen Jesu unterrichtet, sei es durch die zusammenfassenden Einleitungen, sei
es durch die charakteristischen urkundlichen Bekenntnisse. Da fehlt keiner von
den bedeutenden theologischen Forschern, die mit dem Geheimnis dieser er¬
habensten Menschengestalt gerungen haben. Schleiermacher und Keim, Strauß
und Renan, Welthaufen und Weiß, Harncick, Jülicher und der Katholik Hermann
Schelk liefern ihren Beitrag zur Lösung des Problems. Romanhaft idealisierte
und modernisierte Christusbilder, solche, die der rein religiösen Erfahrung der
christlichen Gemeinde entstammen, und solche, denen ihre apokalyptische Sehn¬
sucht einseitig die Farbe aufträgt, breit ausgeführte Lebensbilder und scharf um-
rissene Charakterbilder ziehn beim Klänge dieser Namen vor unserm Geiste
vorüber.

Dann folgen die großen kritischen Philosophen, die in Jesus die Ver¬
körperung ihrer Ideen finden: Kant und seine drei Nachfolger; die Pessimisten
Schopenhauer, Richard Wagner und Eduard Hartmann, die ihn zum Prediger der
buddhistischen Weltverneinung und sogar zum Feinde aller Kultur machen; im
Gegensatz zu ihnen Chamberlain, der in Christus den Anbruch eines neuen
Weltalters sieht; Ernst Häckel, der ihn bald als Lehrer einer monistischen
Ethik gelten läßt, bald sich auf Kalthoffs Seite stellt; Friedrich Nietzsche, der
in ihm den interessantesten Dekadenten wittert; John Stucirt Mill, der in
einer Nachlaßschrist erklärt, dem Leben und den Reden Jesu sei der Stempel
des Tiefsinns und der unerfindlichsten persönlichen Originalität aufgeprägt;
endlich als Vertreter des neuern Idealismus: Lotze, Fechner, Wundt, Paulsen
und Eucken, die alle ein tiefes Verständnis für die grundlegende geschichtliche
Persönlichkeit Jesu und sein Lebensideal bekunden.

Von allgemeinsten Interesse ist ferner das Kapitel "Jesus und die
Literatur des neunzehnten Jahrhunderts", das als ein besonders feiner Essay
Pfannmttllers gewürdigt zu werden verdiente, da er den Christusgestaltnngen
der Dichtung von den Tagen der Romantik bis zur Gegenwart sorgfältig
nachspürt und auch hier die Skepsis nicht totschweigt. Ebenso findet die sozia¬
listische Literatur und ihre Beziehung zu Jesus eine eingehende Berücksichtigung.
Christuslieder von Knapp, Spitta, Sturm und Gcrok lassen das verdienstvolle
Werk harmonisch ausklingen. Es wird übrigens durchgängig noch durch die


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Beherrschung und Sichtung des auch im neuen Jahrhundert immer mehr an¬
schwellenden Materials, die Klarheit und maßhaltige Weisheit seiner Stellung¬
nahme auch gegenüber solchen Problemen, deren Diskussion noch im vollen
Gange ist, und die strenge Sachlichkeit, mit der er fast alle bedeutsamen
Stimmen, negative wie positive, bei aller deutlich fühlbaren persönlichen Christus¬
verehrung zu Worte kommen läßt, verdienen die dankbarste Anerkennung. Für
den Leser, der sein Buch in einem Zuge durchliest, wird es mehr und mehr
eine Quelle geistigen Genusses, je weiter er mit ihm vorwärts dringt. Er
wird es als eins der wertvollsten Quellenbücher in seine Bibliothek aufnehmen,
das ihn zuverlässig und übersichtlich auch über alle wichtigen modernen Be¬
urteilungen Jesu unterrichtet, sei es durch die zusammenfassenden Einleitungen, sei
es durch die charakteristischen urkundlichen Bekenntnisse. Da fehlt keiner von
den bedeutenden theologischen Forschern, die mit dem Geheimnis dieser er¬
habensten Menschengestalt gerungen haben. Schleiermacher und Keim, Strauß
und Renan, Welthaufen und Weiß, Harncick, Jülicher und der Katholik Hermann
Schelk liefern ihren Beitrag zur Lösung des Problems. Romanhaft idealisierte
und modernisierte Christusbilder, solche, die der rein religiösen Erfahrung der
christlichen Gemeinde entstammen, und solche, denen ihre apokalyptische Sehn¬
sucht einseitig die Farbe aufträgt, breit ausgeführte Lebensbilder und scharf um-
rissene Charakterbilder ziehn beim Klänge dieser Namen vor unserm Geiste
vorüber.

Dann folgen die großen kritischen Philosophen, die in Jesus die Ver¬
körperung ihrer Ideen finden: Kant und seine drei Nachfolger; die Pessimisten
Schopenhauer, Richard Wagner und Eduard Hartmann, die ihn zum Prediger der
buddhistischen Weltverneinung und sogar zum Feinde aller Kultur machen; im
Gegensatz zu ihnen Chamberlain, der in Christus den Anbruch eines neuen
Weltalters sieht; Ernst Häckel, der ihn bald als Lehrer einer monistischen
Ethik gelten läßt, bald sich auf Kalthoffs Seite stellt; Friedrich Nietzsche, der
in ihm den interessantesten Dekadenten wittert; John Stucirt Mill, der in
einer Nachlaßschrist erklärt, dem Leben und den Reden Jesu sei der Stempel
des Tiefsinns und der unerfindlichsten persönlichen Originalität aufgeprägt;
endlich als Vertreter des neuern Idealismus: Lotze, Fechner, Wundt, Paulsen
und Eucken, die alle ein tiefes Verständnis für die grundlegende geschichtliche
Persönlichkeit Jesu und sein Lebensideal bekunden.

Von allgemeinsten Interesse ist ferner das Kapitel „Jesus und die
Literatur des neunzehnten Jahrhunderts", das als ein besonders feiner Essay
Pfannmttllers gewürdigt zu werden verdiente, da er den Christusgestaltnngen
der Dichtung von den Tagen der Romantik bis zur Gegenwart sorgfältig
nachspürt und auch hier die Skepsis nicht totschweigt. Ebenso findet die sozia¬
listische Literatur und ihre Beziehung zu Jesus eine eingehende Berücksichtigung.
Christuslieder von Knapp, Spitta, Sturm und Gcrok lassen das verdienstvolle
Werk harmonisch ausklingen. Es wird übrigens durchgängig noch durch die


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[0026] Jesus im ttrteil der Jahrhunderte Beherrschung und Sichtung des auch im neuen Jahrhundert immer mehr an¬ schwellenden Materials, die Klarheit und maßhaltige Weisheit seiner Stellung¬ nahme auch gegenüber solchen Problemen, deren Diskussion noch im vollen Gange ist, und die strenge Sachlichkeit, mit der er fast alle bedeutsamen Stimmen, negative wie positive, bei aller deutlich fühlbaren persönlichen Christus¬ verehrung zu Worte kommen läßt, verdienen die dankbarste Anerkennung. Für den Leser, der sein Buch in einem Zuge durchliest, wird es mehr und mehr eine Quelle geistigen Genusses, je weiter er mit ihm vorwärts dringt. Er wird es als eins der wertvollsten Quellenbücher in seine Bibliothek aufnehmen, das ihn zuverlässig und übersichtlich auch über alle wichtigen modernen Be¬ urteilungen Jesu unterrichtet, sei es durch die zusammenfassenden Einleitungen, sei es durch die charakteristischen urkundlichen Bekenntnisse. Da fehlt keiner von den bedeutenden theologischen Forschern, die mit dem Geheimnis dieser er¬ habensten Menschengestalt gerungen haben. Schleiermacher und Keim, Strauß und Renan, Welthaufen und Weiß, Harncick, Jülicher und der Katholik Hermann Schelk liefern ihren Beitrag zur Lösung des Problems. Romanhaft idealisierte und modernisierte Christusbilder, solche, die der rein religiösen Erfahrung der christlichen Gemeinde entstammen, und solche, denen ihre apokalyptische Sehn¬ sucht einseitig die Farbe aufträgt, breit ausgeführte Lebensbilder und scharf um- rissene Charakterbilder ziehn beim Klänge dieser Namen vor unserm Geiste vorüber. Dann folgen die großen kritischen Philosophen, die in Jesus die Ver¬ körperung ihrer Ideen finden: Kant und seine drei Nachfolger; die Pessimisten Schopenhauer, Richard Wagner und Eduard Hartmann, die ihn zum Prediger der buddhistischen Weltverneinung und sogar zum Feinde aller Kultur machen; im Gegensatz zu ihnen Chamberlain, der in Christus den Anbruch eines neuen Weltalters sieht; Ernst Häckel, der ihn bald als Lehrer einer monistischen Ethik gelten läßt, bald sich auf Kalthoffs Seite stellt; Friedrich Nietzsche, der in ihm den interessantesten Dekadenten wittert; John Stucirt Mill, der in einer Nachlaßschrist erklärt, dem Leben und den Reden Jesu sei der Stempel des Tiefsinns und der unerfindlichsten persönlichen Originalität aufgeprägt; endlich als Vertreter des neuern Idealismus: Lotze, Fechner, Wundt, Paulsen und Eucken, die alle ein tiefes Verständnis für die grundlegende geschichtliche Persönlichkeit Jesu und sein Lebensideal bekunden. Von allgemeinsten Interesse ist ferner das Kapitel „Jesus und die Literatur des neunzehnten Jahrhunderts", das als ein besonders feiner Essay Pfannmttllers gewürdigt zu werden verdiente, da er den Christusgestaltnngen der Dichtung von den Tagen der Romantik bis zur Gegenwart sorgfältig nachspürt und auch hier die Skepsis nicht totschweigt. Ebenso findet die sozia¬ listische Literatur und ihre Beziehung zu Jesus eine eingehende Berücksichtigung. Christuslieder von Knapp, Spitta, Sturm und Gcrok lassen das verdienstvolle Werk harmonisch ausklingen. Es wird übrigens durchgängig noch durch die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/26>, abgerufen am 24.07.2024.