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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Jesus im Urteil der Jahrhunderte

ein Ende des fünfzehnten Jahrhunderts sogar in die Kirche ein. Im geist¬
lichen Schauspiel tritt der biblische Christus lebendig, in allen seinen Zügen,
vor die Augen des Volkes.

Luther hält -- wie Melanchthon, Zwingli und Calvin -- streng ein den
Formulierungen der alten Kirche fest, aber seine Auffassung Christi sprengt im
Prinzip den Rahmen des Dogmas. Denn er klammert sich fest an den ge¬
schichtlichen Jesus an und will vor allem beachtet wissen, was er für uns ist,
nicht was er für sich ist. Leider hat er nur dieses menschliche Personbild durch
seine verhängnisvolle Abendmahlslehre wieder entstellt.

Die neue streitsüchtige Scholastik der lutherischen Theologen verliert sich
wieder in Subtilitüten der "reinen" Lehre, der Pietismus in ein süßliches
Liebesgetändel mit dem Seelenbräutigam. '

Die englischen Deisten verehren in Jesus vor allem den Lehrer der allein
wahren Gotteserkenntnis. Voltaire bewundert seine Moral und seinen Kampf
gegen den Klerus, bemitleidet aber seinen Mangel an Bildung, seine Schwärmerei;
Rousseau erkennt seine göttliche Superioritüt zum Beispiel gegenüber Sokrcites
begeistert an. Auch Spinoza nennt Christi Stimme Gottes Stimme und findet
in ihm die einzige Gottesoffenbarung "unmittelbar durch den Geist", während
die Propheten nur Worte und Gesichte empfangen hätten. Für Leibniz und
den gereiften Lessing ist er vor allem der Lehrer der göttlichen Unsterblichkeit,
für Reimarus der Vertreter einer rein irdischen Messiasidee, für Klopstock "der
liebenswürdige Mittler". Hamann findet es "eher möglich, ohne Herz und Kopf
zu leben als ohne Jesus den Gekreuzigten". Herder, der größte Überwinder
der Aufklärung, schreibt zwei Leben Jesu, eins nach den Synoptikern, eins nach
Johannes, und schildert ihn in seinen "Ideen zur Philosophie der Geschichte
der Menschheit" als den stillen großen Apostel der Humanität. Der geniale
Lavater erhebt sich mit seinen Christusideen über das Dogma; er erklärt den
Christus der Aufklärung, verglichen mit dem neutestamentlichen, für eine unge¬
heure Reduktion und Entleerung und will ihn als ausschließliche Gottesoffen¬
barung und Zusammenfassung aller menschlichen Vollkommenheiten geschützt
wissen. Goethe versteht, daß Lavater "in einem Individuo" alles genießen
und sich selbst in ihm anbeten möchte, aber es verdrießt ihn, daß er seinen
"Paradiesvogel" mit allen köstlichen Federn unter dem Himmel schmückt. Im
Alter beugt er sich in anbetender Ehrfurcht vor Christus als der göttlichen
Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit.

Kein Jahrhundert hat größeres Interesse an dem historischen Lebensbilde
Jesu bewiesen als das neunzehnte. Nicht bloß die theologische" Kreise, auch
die philosophischen, literarischen, sozialpolitischen, künstlerischen suchten sich des
einzigartigen Stoffes mit unerhörtem Eiser zu bemächtigen. Weinet in seinem
"Jesus im neunzehnten Jahrhundert", Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-
Jesu-Forschung "Von Reimarus bis Wrede" hatten hier dem Verfasser der
neuen Urteilssammlung vorgearbeitet. Aber seine wissenschaftliche Kenntnis,


Grenzboten IV 1909 3
Jesus im Urteil der Jahrhunderte

ein Ende des fünfzehnten Jahrhunderts sogar in die Kirche ein. Im geist¬
lichen Schauspiel tritt der biblische Christus lebendig, in allen seinen Zügen,
vor die Augen des Volkes.

Luther hält — wie Melanchthon, Zwingli und Calvin — streng ein den
Formulierungen der alten Kirche fest, aber seine Auffassung Christi sprengt im
Prinzip den Rahmen des Dogmas. Denn er klammert sich fest an den ge¬
schichtlichen Jesus an und will vor allem beachtet wissen, was er für uns ist,
nicht was er für sich ist. Leider hat er nur dieses menschliche Personbild durch
seine verhängnisvolle Abendmahlslehre wieder entstellt.

Die neue streitsüchtige Scholastik der lutherischen Theologen verliert sich
wieder in Subtilitüten der „reinen" Lehre, der Pietismus in ein süßliches
Liebesgetändel mit dem Seelenbräutigam. '

Die englischen Deisten verehren in Jesus vor allem den Lehrer der allein
wahren Gotteserkenntnis. Voltaire bewundert seine Moral und seinen Kampf
gegen den Klerus, bemitleidet aber seinen Mangel an Bildung, seine Schwärmerei;
Rousseau erkennt seine göttliche Superioritüt zum Beispiel gegenüber Sokrcites
begeistert an. Auch Spinoza nennt Christi Stimme Gottes Stimme und findet
in ihm die einzige Gottesoffenbarung „unmittelbar durch den Geist", während
die Propheten nur Worte und Gesichte empfangen hätten. Für Leibniz und
den gereiften Lessing ist er vor allem der Lehrer der göttlichen Unsterblichkeit,
für Reimarus der Vertreter einer rein irdischen Messiasidee, für Klopstock „der
liebenswürdige Mittler". Hamann findet es „eher möglich, ohne Herz und Kopf
zu leben als ohne Jesus den Gekreuzigten". Herder, der größte Überwinder
der Aufklärung, schreibt zwei Leben Jesu, eins nach den Synoptikern, eins nach
Johannes, und schildert ihn in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte
der Menschheit" als den stillen großen Apostel der Humanität. Der geniale
Lavater erhebt sich mit seinen Christusideen über das Dogma; er erklärt den
Christus der Aufklärung, verglichen mit dem neutestamentlichen, für eine unge¬
heure Reduktion und Entleerung und will ihn als ausschließliche Gottesoffen¬
barung und Zusammenfassung aller menschlichen Vollkommenheiten geschützt
wissen. Goethe versteht, daß Lavater „in einem Individuo" alles genießen
und sich selbst in ihm anbeten möchte, aber es verdrießt ihn, daß er seinen
„Paradiesvogel" mit allen köstlichen Federn unter dem Himmel schmückt. Im
Alter beugt er sich in anbetender Ehrfurcht vor Christus als der göttlichen
Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit.

Kein Jahrhundert hat größeres Interesse an dem historischen Lebensbilde
Jesu bewiesen als das neunzehnte. Nicht bloß die theologische» Kreise, auch
die philosophischen, literarischen, sozialpolitischen, künstlerischen suchten sich des
einzigartigen Stoffes mit unerhörtem Eiser zu bemächtigen. Weinet in seinem
„Jesus im neunzehnten Jahrhundert", Schweitzer in seiner Geschichte der Leben-
Jesu-Forschung „Von Reimarus bis Wrede" hatten hier dem Verfasser der
neuen Urteilssammlung vorgearbeitet. Aber seine wissenschaftliche Kenntnis,


Grenzboten IV 1909 3
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[0025] Jesus im Urteil der Jahrhunderte ein Ende des fünfzehnten Jahrhunderts sogar in die Kirche ein. Im geist¬ lichen Schauspiel tritt der biblische Christus lebendig, in allen seinen Zügen, vor die Augen des Volkes. Luther hält — wie Melanchthon, Zwingli und Calvin — streng ein den Formulierungen der alten Kirche fest, aber seine Auffassung Christi sprengt im Prinzip den Rahmen des Dogmas. Denn er klammert sich fest an den ge¬ schichtlichen Jesus an und will vor allem beachtet wissen, was er für uns ist, nicht was er für sich ist. Leider hat er nur dieses menschliche Personbild durch seine verhängnisvolle Abendmahlslehre wieder entstellt. Die neue streitsüchtige Scholastik der lutherischen Theologen verliert sich wieder in Subtilitüten der „reinen" Lehre, der Pietismus in ein süßliches Liebesgetändel mit dem Seelenbräutigam. ' Die englischen Deisten verehren in Jesus vor allem den Lehrer der allein wahren Gotteserkenntnis. Voltaire bewundert seine Moral und seinen Kampf gegen den Klerus, bemitleidet aber seinen Mangel an Bildung, seine Schwärmerei; Rousseau erkennt seine göttliche Superioritüt zum Beispiel gegenüber Sokrcites begeistert an. Auch Spinoza nennt Christi Stimme Gottes Stimme und findet in ihm die einzige Gottesoffenbarung „unmittelbar durch den Geist", während die Propheten nur Worte und Gesichte empfangen hätten. Für Leibniz und den gereiften Lessing ist er vor allem der Lehrer der göttlichen Unsterblichkeit, für Reimarus der Vertreter einer rein irdischen Messiasidee, für Klopstock „der liebenswürdige Mittler". Hamann findet es „eher möglich, ohne Herz und Kopf zu leben als ohne Jesus den Gekreuzigten". Herder, der größte Überwinder der Aufklärung, schreibt zwei Leben Jesu, eins nach den Synoptikern, eins nach Johannes, und schildert ihn in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit" als den stillen großen Apostel der Humanität. Der geniale Lavater erhebt sich mit seinen Christusideen über das Dogma; er erklärt den Christus der Aufklärung, verglichen mit dem neutestamentlichen, für eine unge¬ heure Reduktion und Entleerung und will ihn als ausschließliche Gottesoffen¬ barung und Zusammenfassung aller menschlichen Vollkommenheiten geschützt wissen. Goethe versteht, daß Lavater „in einem Individuo" alles genießen und sich selbst in ihm anbeten möchte, aber es verdrießt ihn, daß er seinen „Paradiesvogel" mit allen köstlichen Federn unter dem Himmel schmückt. Im Alter beugt er sich in anbetender Ehrfurcht vor Christus als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. Kein Jahrhundert hat größeres Interesse an dem historischen Lebensbilde Jesu bewiesen als das neunzehnte. Nicht bloß die theologische» Kreise, auch die philosophischen, literarischen, sozialpolitischen, künstlerischen suchten sich des einzigartigen Stoffes mit unerhörtem Eiser zu bemächtigen. Weinet in seinem „Jesus im neunzehnten Jahrhundert", Schweitzer in seiner Geschichte der Leben- Jesu-Forschung „Von Reimarus bis Wrede" hatten hier dem Verfasser der neuen Urteilssammlung vorgearbeitet. Aber seine wissenschaftliche Kenntnis, Grenzboten IV 1909 3

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/25>, abgerufen am 25.07.2024.