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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Rudolf Lindaus Geschichten aus der Türkei

Kind im Arm, um den Gatten zu befreien, eine ganze Reihe reizvoller weib¬
licher Gestalten. Keine, außer jener unmenschlichen Verkörperung hexenhafter
Habsucht, die mehr als nur einen Schritt das strenge Gesetz des Harems über¬
schritte -- aber dieser eine Schritt ist immer eingegeben von einer echten Neigung
oder einem liebenswürdigen Mutterwitz, der schließlich das Spiel gewinnt. Da
entbrennt die Schöne in Liebe zu einem Fischerjüngling, und die Sklavin muß
ihr Gelegenheit schaffen, seine Stimme zu hören, sein Antlitz zu sehen. Da
prüft die selbständige Prinzessin die Kammerjunker und Adjutanten des groß-
herrlichen Gefolges durch ein frugales Mahl, dessen Auftragung ein Rätsel
birgt; und der es löst und -- schweigen kann, wird, hart am Henkertod vorbei,
ihr Gemahl. Da entflieht die Tochter des reichen Kaufmanns dem Tode durch
einen gemeinen Lüstling, sie wird des zufällig getroffnen Sultans Gemahl,
entspringt auf einer Reise zum zweitenmal drohender Schmach und weiß endlich,
verkleidet, des Vaters und des Sultans Auge zu öffnen und die Bösewichter
der Strafe zu überliefern, während das Glück der schwer Heimgesuchten doch
nicht mehr lange Dauer hat.

Wir erfahren viel von alter türkischer Volkssitte, von türkischem Recht,
vom Leben der Städte und des Landes, und da in den Märchen das Wunder
an sich fast völlig vermieden ist, so ergibt sich im ganzen ein nicht kleines
Kulturbild. Aber das bleibt, wie eben immer bei Lindau, bescheidne Mitgabe,
der Mensch ist auch hier die Hauptsache, er wird (nach einem Wort des
Theaterkritikers Fontane) nie "arabeskenhaft verbraucht", behauptet immer seine
Vordergrunds- und Mittelstellung. Und das alles ist getaucht in die goldne
Atmosphäre einer einfachen Welt, die glaubt und vertraut. Wir atmen einmal
ganz andre Luft, wir leben mit in einer Zeit, die wirklich noch Zeit hat und
deren Glanz, wenn schon Zauberei und Wunderkünste fern bleiben, doch den
vollen Reiz des Märchens widerstrahlt. Wir spinnen uns gemach ebenso ein
wie der Erzähler türkischer und sein Dolmetsch und Mitdichter deutscher Nation,
wir lächeln und runzeln einmal die Stirn, wir lassen wohl auch die Hände
bequem ruhen und blasen langsam den Rauch der Zigarre von uns, wir
träumen, ganz gefangen, mit -- wir glauben jetzt dem Lehrer und dem
Schüler, wenn sie sagen: "Weil man über manches in diesen Geschichten nach¬
denken kann, deshalb werden sie seit Jahrhunderten immer und immer wieder
erzählt."

Ganz anders als der stille Muselmann der "Türkischen Geschichten" wird
der Erzähler eingeführt, dem Lindau die "Erzählungen eines Effendi" abgelauscht
haben will, ein Buch, das dem Lindau befreundeten Direktor der kaiserlichen
Museen in Stambul, Hamdy Bey, gewidmet ist.

"Mein neuer Freund ist ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit einem
klugen und wohlwollenden Gesicht und der würdigen Ruhe in Sprache und
Gebärden, die viele der vornehmen Türken auszeichnet, und die ihnen häufig
anerzogen wird, wenn sie sie nicht von Natur besitzen. Denn ruhiger, würdiger


Rudolf Lindaus Geschichten aus der Türkei

Kind im Arm, um den Gatten zu befreien, eine ganze Reihe reizvoller weib¬
licher Gestalten. Keine, außer jener unmenschlichen Verkörperung hexenhafter
Habsucht, die mehr als nur einen Schritt das strenge Gesetz des Harems über¬
schritte — aber dieser eine Schritt ist immer eingegeben von einer echten Neigung
oder einem liebenswürdigen Mutterwitz, der schließlich das Spiel gewinnt. Da
entbrennt die Schöne in Liebe zu einem Fischerjüngling, und die Sklavin muß
ihr Gelegenheit schaffen, seine Stimme zu hören, sein Antlitz zu sehen. Da
prüft die selbständige Prinzessin die Kammerjunker und Adjutanten des groß-
herrlichen Gefolges durch ein frugales Mahl, dessen Auftragung ein Rätsel
birgt; und der es löst und — schweigen kann, wird, hart am Henkertod vorbei,
ihr Gemahl. Da entflieht die Tochter des reichen Kaufmanns dem Tode durch
einen gemeinen Lüstling, sie wird des zufällig getroffnen Sultans Gemahl,
entspringt auf einer Reise zum zweitenmal drohender Schmach und weiß endlich,
verkleidet, des Vaters und des Sultans Auge zu öffnen und die Bösewichter
der Strafe zu überliefern, während das Glück der schwer Heimgesuchten doch
nicht mehr lange Dauer hat.

Wir erfahren viel von alter türkischer Volkssitte, von türkischem Recht,
vom Leben der Städte und des Landes, und da in den Märchen das Wunder
an sich fast völlig vermieden ist, so ergibt sich im ganzen ein nicht kleines
Kulturbild. Aber das bleibt, wie eben immer bei Lindau, bescheidne Mitgabe,
der Mensch ist auch hier die Hauptsache, er wird (nach einem Wort des
Theaterkritikers Fontane) nie „arabeskenhaft verbraucht", behauptet immer seine
Vordergrunds- und Mittelstellung. Und das alles ist getaucht in die goldne
Atmosphäre einer einfachen Welt, die glaubt und vertraut. Wir atmen einmal
ganz andre Luft, wir leben mit in einer Zeit, die wirklich noch Zeit hat und
deren Glanz, wenn schon Zauberei und Wunderkünste fern bleiben, doch den
vollen Reiz des Märchens widerstrahlt. Wir spinnen uns gemach ebenso ein
wie der Erzähler türkischer und sein Dolmetsch und Mitdichter deutscher Nation,
wir lächeln und runzeln einmal die Stirn, wir lassen wohl auch die Hände
bequem ruhen und blasen langsam den Rauch der Zigarre von uns, wir
träumen, ganz gefangen, mit — wir glauben jetzt dem Lehrer und dem
Schüler, wenn sie sagen: „Weil man über manches in diesen Geschichten nach¬
denken kann, deshalb werden sie seit Jahrhunderten immer und immer wieder
erzählt."

Ganz anders als der stille Muselmann der „Türkischen Geschichten" wird
der Erzähler eingeführt, dem Lindau die „Erzählungen eines Effendi" abgelauscht
haben will, ein Buch, das dem Lindau befreundeten Direktor der kaiserlichen
Museen in Stambul, Hamdy Bey, gewidmet ist.

„Mein neuer Freund ist ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit einem
klugen und wohlwollenden Gesicht und der würdigen Ruhe in Sprache und
Gebärden, die viele der vornehmen Türken auszeichnet, und die ihnen häufig
anerzogen wird, wenn sie sie nicht von Natur besitzen. Denn ruhiger, würdiger


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[0238] Rudolf Lindaus Geschichten aus der Türkei Kind im Arm, um den Gatten zu befreien, eine ganze Reihe reizvoller weib¬ licher Gestalten. Keine, außer jener unmenschlichen Verkörperung hexenhafter Habsucht, die mehr als nur einen Schritt das strenge Gesetz des Harems über¬ schritte — aber dieser eine Schritt ist immer eingegeben von einer echten Neigung oder einem liebenswürdigen Mutterwitz, der schließlich das Spiel gewinnt. Da entbrennt die Schöne in Liebe zu einem Fischerjüngling, und die Sklavin muß ihr Gelegenheit schaffen, seine Stimme zu hören, sein Antlitz zu sehen. Da prüft die selbständige Prinzessin die Kammerjunker und Adjutanten des groß- herrlichen Gefolges durch ein frugales Mahl, dessen Auftragung ein Rätsel birgt; und der es löst und — schweigen kann, wird, hart am Henkertod vorbei, ihr Gemahl. Da entflieht die Tochter des reichen Kaufmanns dem Tode durch einen gemeinen Lüstling, sie wird des zufällig getroffnen Sultans Gemahl, entspringt auf einer Reise zum zweitenmal drohender Schmach und weiß endlich, verkleidet, des Vaters und des Sultans Auge zu öffnen und die Bösewichter der Strafe zu überliefern, während das Glück der schwer Heimgesuchten doch nicht mehr lange Dauer hat. Wir erfahren viel von alter türkischer Volkssitte, von türkischem Recht, vom Leben der Städte und des Landes, und da in den Märchen das Wunder an sich fast völlig vermieden ist, so ergibt sich im ganzen ein nicht kleines Kulturbild. Aber das bleibt, wie eben immer bei Lindau, bescheidne Mitgabe, der Mensch ist auch hier die Hauptsache, er wird (nach einem Wort des Theaterkritikers Fontane) nie „arabeskenhaft verbraucht", behauptet immer seine Vordergrunds- und Mittelstellung. Und das alles ist getaucht in die goldne Atmosphäre einer einfachen Welt, die glaubt und vertraut. Wir atmen einmal ganz andre Luft, wir leben mit in einer Zeit, die wirklich noch Zeit hat und deren Glanz, wenn schon Zauberei und Wunderkünste fern bleiben, doch den vollen Reiz des Märchens widerstrahlt. Wir spinnen uns gemach ebenso ein wie der Erzähler türkischer und sein Dolmetsch und Mitdichter deutscher Nation, wir lächeln und runzeln einmal die Stirn, wir lassen wohl auch die Hände bequem ruhen und blasen langsam den Rauch der Zigarre von uns, wir träumen, ganz gefangen, mit — wir glauben jetzt dem Lehrer und dem Schüler, wenn sie sagen: „Weil man über manches in diesen Geschichten nach¬ denken kann, deshalb werden sie seit Jahrhunderten immer und immer wieder erzählt." Ganz anders als der stille Muselmann der „Türkischen Geschichten" wird der Erzähler eingeführt, dem Lindau die „Erzählungen eines Effendi" abgelauscht haben will, ein Buch, das dem Lindau befreundeten Direktor der kaiserlichen Museen in Stambul, Hamdy Bey, gewidmet ist. „Mein neuer Freund ist ein Mann von etwa fünfzig Jahren, mit einem klugen und wohlwollenden Gesicht und der würdigen Ruhe in Sprache und Gebärden, die viele der vornehmen Türken auszeichnet, und die ihnen häufig anerzogen wird, wenn sie sie nicht von Natur besitzen. Denn ruhiger, würdiger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/238>, abgerufen am 24.07.2024.