Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Breslau
von Carl Jentsch 2

>s hätte nicht mit rechten Dingen zugehn müssen, wenn keine
Reibungen zwischen Deutschen und Polen vorgekommen wären
in einer Zeit, wo jedermann mit seinem Nachbar in Fehde lag,
falls dieser nicht gerade sein Verbündeter gegen einen andern
I Nachbar war. Aber diese Reibungen hatten keine Ähnlichkeit mit
dem heutigen Nationalitätenkampfe, und wenn neuere Geschichtschreiber von
polnisch-klerikalen Umtrieben sprechen, so tragen sie moderne Vorstellungen.
Empfindungen und Kategorien in eine Zeit hinein, der sie fremd waren. Die
mittelalterlichen Menschen waren naive Egoisten, die immer, sogar in ihren
religiösen Schwärmereien, ganz reelle Zwecke verfolgten. Schädelmessungen
nahmen sie nicht vor, und nicht die Haar- und Augenfarbe, sondern das ge¬
werbliche, Handels- oder Grundbesitzerinteresse bestimmte sie bei ihren Bünd¬
nissen und Feindschaften. Sie zögerten nicht, den eignen Volksgenossen aufs
Blut zu bekämpfen, wenn ein augenblickliches Interesse sie dazu trieb, wie denn
das wackre Bauernvölkchen der Stedinger um der Zehnten und Zinsen willen,
die sie verweigerten, von den benachbarten Bischöfen und Grafen völlig aus¬
gerottet worden ist. Solches Verhalten war aber nicht etwa eine germanische
Eigentümlichkeit, sondern in Italien, in Frankreich, in den Slawenländern hielt
man es ebenso. Und ist es im alten Griechenland, im alten Italien anders
gewesen? Wie im mittelalterlichen Italien erst im vierzehnten Jahrhundert das
Nationalbewußtsein gekeimt hat, habe ich bei einer andern Gelegenheit gezeigt.
Der moderne Großstaat, der diesem Zustande ein Ende gemacht hat, ist eine
Frucht der modernen Technik und des Kapitalismus. Dieser hat, wie Kautsky
übertreibend aber nicht unrichtig sagt, indem er weite geschlossene Ausbeutungs¬
gebiete braucht, den heutigen Nationalismus erzeugt. Die Sprachverschiedenheit
nahm man als etwas Natürliches hin, ohne sich darüber aufzuregen. Sie war
eine Unbequemlichkeit, aber keine große, weil sich Leute verschiedner Sprache,
die regelmäßig Geschäfte miteinander haben, rasch und leicht die paar dazu
erforderlichen Phrasen der andern Sprache aneignen. Als diplomatische und
Gelehrtensprache diente allen Europäern die lateinische. Wurde ein Nationalitäten¬
splitter der herrschenden Nation unbequem oder verhaßt, so quälte man sich nicht
damit, die fremdsprachigen Zungen anders zu gewöhnen, wozu ja auch die heutigen




Breslau
von Carl Jentsch 2

>s hätte nicht mit rechten Dingen zugehn müssen, wenn keine
Reibungen zwischen Deutschen und Polen vorgekommen wären
in einer Zeit, wo jedermann mit seinem Nachbar in Fehde lag,
falls dieser nicht gerade sein Verbündeter gegen einen andern
I Nachbar war. Aber diese Reibungen hatten keine Ähnlichkeit mit
dem heutigen Nationalitätenkampfe, und wenn neuere Geschichtschreiber von
polnisch-klerikalen Umtrieben sprechen, so tragen sie moderne Vorstellungen.
Empfindungen und Kategorien in eine Zeit hinein, der sie fremd waren. Die
mittelalterlichen Menschen waren naive Egoisten, die immer, sogar in ihren
religiösen Schwärmereien, ganz reelle Zwecke verfolgten. Schädelmessungen
nahmen sie nicht vor, und nicht die Haar- und Augenfarbe, sondern das ge¬
werbliche, Handels- oder Grundbesitzerinteresse bestimmte sie bei ihren Bünd¬
nissen und Feindschaften. Sie zögerten nicht, den eignen Volksgenossen aufs
Blut zu bekämpfen, wenn ein augenblickliches Interesse sie dazu trieb, wie denn
das wackre Bauernvölkchen der Stedinger um der Zehnten und Zinsen willen,
die sie verweigerten, von den benachbarten Bischöfen und Grafen völlig aus¬
gerottet worden ist. Solches Verhalten war aber nicht etwa eine germanische
Eigentümlichkeit, sondern in Italien, in Frankreich, in den Slawenländern hielt
man es ebenso. Und ist es im alten Griechenland, im alten Italien anders
gewesen? Wie im mittelalterlichen Italien erst im vierzehnten Jahrhundert das
Nationalbewußtsein gekeimt hat, habe ich bei einer andern Gelegenheit gezeigt.
Der moderne Großstaat, der diesem Zustande ein Ende gemacht hat, ist eine
Frucht der modernen Technik und des Kapitalismus. Dieser hat, wie Kautsky
übertreibend aber nicht unrichtig sagt, indem er weite geschlossene Ausbeutungs¬
gebiete braucht, den heutigen Nationalismus erzeugt. Die Sprachverschiedenheit
nahm man als etwas Natürliches hin, ohne sich darüber aufzuregen. Sie war
eine Unbequemlichkeit, aber keine große, weil sich Leute verschiedner Sprache,
die regelmäßig Geschäfte miteinander haben, rasch und leicht die paar dazu
erforderlichen Phrasen der andern Sprache aneignen. Als diplomatische und
Gelehrtensprache diente allen Europäern die lateinische. Wurde ein Nationalitäten¬
splitter der herrschenden Nation unbequem oder verhaßt, so quälte man sich nicht
damit, die fremdsprachigen Zungen anders zu gewöhnen, wozu ja auch die heutigen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0222" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314569"/>
          <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341889_314346/figures/grenzboten_341889_314346_314569_000.jpg"/><lb/>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Breslau<lb/><note type="byline"> von Carl Jentsch</note> 2</head><lb/>
          <p xml:id="ID_1117" next="#ID_1118"> &gt;s hätte nicht mit rechten Dingen zugehn müssen, wenn keine<lb/>
Reibungen zwischen Deutschen und Polen vorgekommen wären<lb/>
in einer Zeit, wo jedermann mit seinem Nachbar in Fehde lag,<lb/>
falls dieser nicht gerade sein Verbündeter gegen einen andern<lb/>
I Nachbar war. Aber diese Reibungen hatten keine Ähnlichkeit mit<lb/>
dem heutigen Nationalitätenkampfe, und wenn neuere Geschichtschreiber von<lb/>
polnisch-klerikalen Umtrieben sprechen, so tragen sie moderne Vorstellungen.<lb/>
Empfindungen und Kategorien in eine Zeit hinein, der sie fremd waren. Die<lb/>
mittelalterlichen Menschen waren naive Egoisten, die immer, sogar in ihren<lb/>
religiösen Schwärmereien, ganz reelle Zwecke verfolgten. Schädelmessungen<lb/>
nahmen sie nicht vor, und nicht die Haar- und Augenfarbe, sondern das ge¬<lb/>
werbliche, Handels- oder Grundbesitzerinteresse bestimmte sie bei ihren Bünd¬<lb/>
nissen und Feindschaften. Sie zögerten nicht, den eignen Volksgenossen aufs<lb/>
Blut zu bekämpfen, wenn ein augenblickliches Interesse sie dazu trieb, wie denn<lb/>
das wackre Bauernvölkchen der Stedinger um der Zehnten und Zinsen willen,<lb/>
die sie verweigerten, von den benachbarten Bischöfen und Grafen völlig aus¬<lb/>
gerottet worden ist. Solches Verhalten war aber nicht etwa eine germanische<lb/>
Eigentümlichkeit, sondern in Italien, in Frankreich, in den Slawenländern hielt<lb/>
man es ebenso. Und ist es im alten Griechenland, im alten Italien anders<lb/>
gewesen? Wie im mittelalterlichen Italien erst im vierzehnten Jahrhundert das<lb/>
Nationalbewußtsein gekeimt hat, habe ich bei einer andern Gelegenheit gezeigt.<lb/>
Der moderne Großstaat, der diesem Zustande ein Ende gemacht hat, ist eine<lb/>
Frucht der modernen Technik und des Kapitalismus. Dieser hat, wie Kautsky<lb/>
übertreibend aber nicht unrichtig sagt, indem er weite geschlossene Ausbeutungs¬<lb/>
gebiete braucht, den heutigen Nationalismus erzeugt. Die Sprachverschiedenheit<lb/>
nahm man als etwas Natürliches hin, ohne sich darüber aufzuregen. Sie war<lb/>
eine Unbequemlichkeit, aber keine große, weil sich Leute verschiedner Sprache,<lb/>
die regelmäßig Geschäfte miteinander haben, rasch und leicht die paar dazu<lb/>
erforderlichen Phrasen der andern Sprache aneignen. Als diplomatische und<lb/>
Gelehrtensprache diente allen Europäern die lateinische. Wurde ein Nationalitäten¬<lb/>
splitter der herrschenden Nation unbequem oder verhaßt, so quälte man sich nicht<lb/>
damit, die fremdsprachigen Zungen anders zu gewöhnen, wozu ja auch die heutigen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0222] [Abbildung] Breslau von Carl Jentsch 2 >s hätte nicht mit rechten Dingen zugehn müssen, wenn keine Reibungen zwischen Deutschen und Polen vorgekommen wären in einer Zeit, wo jedermann mit seinem Nachbar in Fehde lag, falls dieser nicht gerade sein Verbündeter gegen einen andern I Nachbar war. Aber diese Reibungen hatten keine Ähnlichkeit mit dem heutigen Nationalitätenkampfe, und wenn neuere Geschichtschreiber von polnisch-klerikalen Umtrieben sprechen, so tragen sie moderne Vorstellungen. Empfindungen und Kategorien in eine Zeit hinein, der sie fremd waren. Die mittelalterlichen Menschen waren naive Egoisten, die immer, sogar in ihren religiösen Schwärmereien, ganz reelle Zwecke verfolgten. Schädelmessungen nahmen sie nicht vor, und nicht die Haar- und Augenfarbe, sondern das ge¬ werbliche, Handels- oder Grundbesitzerinteresse bestimmte sie bei ihren Bünd¬ nissen und Feindschaften. Sie zögerten nicht, den eignen Volksgenossen aufs Blut zu bekämpfen, wenn ein augenblickliches Interesse sie dazu trieb, wie denn das wackre Bauernvölkchen der Stedinger um der Zehnten und Zinsen willen, die sie verweigerten, von den benachbarten Bischöfen und Grafen völlig aus¬ gerottet worden ist. Solches Verhalten war aber nicht etwa eine germanische Eigentümlichkeit, sondern in Italien, in Frankreich, in den Slawenländern hielt man es ebenso. Und ist es im alten Griechenland, im alten Italien anders gewesen? Wie im mittelalterlichen Italien erst im vierzehnten Jahrhundert das Nationalbewußtsein gekeimt hat, habe ich bei einer andern Gelegenheit gezeigt. Der moderne Großstaat, der diesem Zustande ein Ende gemacht hat, ist eine Frucht der modernen Technik und des Kapitalismus. Dieser hat, wie Kautsky übertreibend aber nicht unrichtig sagt, indem er weite geschlossene Ausbeutungs¬ gebiete braucht, den heutigen Nationalismus erzeugt. Die Sprachverschiedenheit nahm man als etwas Natürliches hin, ohne sich darüber aufzuregen. Sie war eine Unbequemlichkeit, aber keine große, weil sich Leute verschiedner Sprache, die regelmäßig Geschäfte miteinander haben, rasch und leicht die paar dazu erforderlichen Phrasen der andern Sprache aneignen. Als diplomatische und Gelehrtensprache diente allen Europäern die lateinische. Wurde ein Nationalitäten¬ splitter der herrschenden Nation unbequem oder verhaßt, so quälte man sich nicht damit, die fremdsprachigen Zungen anders zu gewöhnen, wozu ja auch die heutigen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/222
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/222>, abgerufen am 24.07.2024.