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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bismarck-Literatur

Holsteinische Erinnerungen) vom Sohne des Verstorbnen, Adolf, herausgegeben
worden ist. Zwar bringt dieser zweite Band nur einige fertig ausgearbeitete
Kapitel und Bruchstücke zu andern, das übrige ist ergänzt durch die Notizen
aus den Tagebüchern und durch vertrauliche Briefe Christoph v. Tiedemanns,
namentlich an seine Gattin. Wie der Herausgeber bedauert, steht das Werk
an Wert hinter einer von dem vor der Vollendung aus dem Leben abberufnen
Staatsmanns noch ausgeführten Bearbeitung zurück, doch bietet es selbst in
seinen nur skizzenhaft gebliebner Teilen noch eine reiche Ausbeute für die
Einsichtnahme in die ewig denkwürdigen Tage, wo Deutschlands größter
Staatsmann am Webstuhl der Zeit saß. Da der Sohn nur seinen Vater
selbst sprechen läßt, dieser in seinen Auszeichnungen mit der größten Gewissen¬
haftigkeit vorgeht und sich von allem Hof-, Bureau- und Parteiklatsch fern¬
hält, so ist hier jede Gefahr vermieden, wie bei andern nachträglich veröffent¬
lichten Memoirenwerken zu beklagen war, daß flüchtige, ungeprüfte Tagesnotizen
und ähnliches mit dem Schein der Zuverlässigkeit der Nachwelt überliefert
werden. Überraschend viel neues bringen die Aufzeichnungen wohl nicht, ihr
Wert besteht vielmehr in der Auffassung und Beurteilung, mit denen einer der
treusten und begabtesten Mitarbeiter des Altreichskanzlers diesem, andern be¬
deutenden Männern aus jener Zeit und der gesamten Entwicklung der Er¬
eignisse gegenübersteht. Der behandelte Zeitraum von Januar 1875 bis Ende
Juli 1881 umfaßt einen an Wendepunkten reichen Abschnitt der Bismarckschen
Politik im Reiche wie in Preußen: den Zerfall des Dreikaiserbündnisfes und
das Bündnis mit Österreich, die Reichsjustizreform und den Umschwung der
Wirtschafts- und Steuerpolitik, die preußische Verwaltungsreform und die
Wendung in der Kirchenpolitik, das Sozialistengesetz und die sozialpolitische
Fürsorge. Für die gerechte Bewertung dieser mit der schöpferischen Tätigkeit
Bismarcks aufs engste verbundnen politischen Neubildungen ist noch heute jeder
zuverlässige Beitrag mit Dank zu begrüßen. So sehr es auch Christoph
v. Tiedemann bis an sein Lebensende mit Stolz empfand, in dieser bedeutungs¬
vollen Zeit dem großen deutschen Staatsmanne geschäftlich und persönlich nahe
gestanden zu haben, so entging er doch auch nicht dem Schicksale, das der
Druck einer mächtigen Persönlichkeit jedem bereitet, der mit ihr zu tun hat.
Von Neid, Eifersucht oder gar Gegnerschaft braucht dabei gar nicht die Rede
zu sein, und bei Tiedemann war es nicht im geringsten der Fall, aber auch
der Verständige und Weitblickende, der vollkommen einsieht, daß ohne diesen
despotischen Willen kein großes Werk gelingen kann, empfindet den Druck und
sehnt sich nach Selbständigkeit. Am 31. März 1877 schreibt Tiedemann seiner
Mutter: "Die dämonische Anziehungskraft des Mannes ist wunderbar" und
fügt am 29. April hinzu: "Aber seitdem er fort ist, kommt mir das Leben
langweilig vor. Ich vermisse täglich die Anregung, die Anspannung der Geistes-
muskeln, die der Verkehr mit ihm mit sich brachte." Aber Anfang Februar
1881 bekennt er in seinem Tagebuche. warum er seine Stellung beim Fürsten


Neue Bismarck-Literatur

Holsteinische Erinnerungen) vom Sohne des Verstorbnen, Adolf, herausgegeben
worden ist. Zwar bringt dieser zweite Band nur einige fertig ausgearbeitete
Kapitel und Bruchstücke zu andern, das übrige ist ergänzt durch die Notizen
aus den Tagebüchern und durch vertrauliche Briefe Christoph v. Tiedemanns,
namentlich an seine Gattin. Wie der Herausgeber bedauert, steht das Werk
an Wert hinter einer von dem vor der Vollendung aus dem Leben abberufnen
Staatsmanns noch ausgeführten Bearbeitung zurück, doch bietet es selbst in
seinen nur skizzenhaft gebliebner Teilen noch eine reiche Ausbeute für die
Einsichtnahme in die ewig denkwürdigen Tage, wo Deutschlands größter
Staatsmann am Webstuhl der Zeit saß. Da der Sohn nur seinen Vater
selbst sprechen läßt, dieser in seinen Auszeichnungen mit der größten Gewissen¬
haftigkeit vorgeht und sich von allem Hof-, Bureau- und Parteiklatsch fern¬
hält, so ist hier jede Gefahr vermieden, wie bei andern nachträglich veröffent¬
lichten Memoirenwerken zu beklagen war, daß flüchtige, ungeprüfte Tagesnotizen
und ähnliches mit dem Schein der Zuverlässigkeit der Nachwelt überliefert
werden. Überraschend viel neues bringen die Aufzeichnungen wohl nicht, ihr
Wert besteht vielmehr in der Auffassung und Beurteilung, mit denen einer der
treusten und begabtesten Mitarbeiter des Altreichskanzlers diesem, andern be¬
deutenden Männern aus jener Zeit und der gesamten Entwicklung der Er¬
eignisse gegenübersteht. Der behandelte Zeitraum von Januar 1875 bis Ende
Juli 1881 umfaßt einen an Wendepunkten reichen Abschnitt der Bismarckschen
Politik im Reiche wie in Preußen: den Zerfall des Dreikaiserbündnisfes und
das Bündnis mit Österreich, die Reichsjustizreform und den Umschwung der
Wirtschafts- und Steuerpolitik, die preußische Verwaltungsreform und die
Wendung in der Kirchenpolitik, das Sozialistengesetz und die sozialpolitische
Fürsorge. Für die gerechte Bewertung dieser mit der schöpferischen Tätigkeit
Bismarcks aufs engste verbundnen politischen Neubildungen ist noch heute jeder
zuverlässige Beitrag mit Dank zu begrüßen. So sehr es auch Christoph
v. Tiedemann bis an sein Lebensende mit Stolz empfand, in dieser bedeutungs¬
vollen Zeit dem großen deutschen Staatsmanne geschäftlich und persönlich nahe
gestanden zu haben, so entging er doch auch nicht dem Schicksale, das der
Druck einer mächtigen Persönlichkeit jedem bereitet, der mit ihr zu tun hat.
Von Neid, Eifersucht oder gar Gegnerschaft braucht dabei gar nicht die Rede
zu sein, und bei Tiedemann war es nicht im geringsten der Fall, aber auch
der Verständige und Weitblickende, der vollkommen einsieht, daß ohne diesen
despotischen Willen kein großes Werk gelingen kann, empfindet den Druck und
sehnt sich nach Selbständigkeit. Am 31. März 1877 schreibt Tiedemann seiner
Mutter: „Die dämonische Anziehungskraft des Mannes ist wunderbar" und
fügt am 29. April hinzu: „Aber seitdem er fort ist, kommt mir das Leben
langweilig vor. Ich vermisse täglich die Anregung, die Anspannung der Geistes-
muskeln, die der Verkehr mit ihm mit sich brachte." Aber Anfang Februar
1881 bekennt er in seinem Tagebuche. warum er seine Stellung beim Fürsten


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[0219] Neue Bismarck-Literatur Holsteinische Erinnerungen) vom Sohne des Verstorbnen, Adolf, herausgegeben worden ist. Zwar bringt dieser zweite Band nur einige fertig ausgearbeitete Kapitel und Bruchstücke zu andern, das übrige ist ergänzt durch die Notizen aus den Tagebüchern und durch vertrauliche Briefe Christoph v. Tiedemanns, namentlich an seine Gattin. Wie der Herausgeber bedauert, steht das Werk an Wert hinter einer von dem vor der Vollendung aus dem Leben abberufnen Staatsmanns noch ausgeführten Bearbeitung zurück, doch bietet es selbst in seinen nur skizzenhaft gebliebner Teilen noch eine reiche Ausbeute für die Einsichtnahme in die ewig denkwürdigen Tage, wo Deutschlands größter Staatsmann am Webstuhl der Zeit saß. Da der Sohn nur seinen Vater selbst sprechen läßt, dieser in seinen Auszeichnungen mit der größten Gewissen¬ haftigkeit vorgeht und sich von allem Hof-, Bureau- und Parteiklatsch fern¬ hält, so ist hier jede Gefahr vermieden, wie bei andern nachträglich veröffent¬ lichten Memoirenwerken zu beklagen war, daß flüchtige, ungeprüfte Tagesnotizen und ähnliches mit dem Schein der Zuverlässigkeit der Nachwelt überliefert werden. Überraschend viel neues bringen die Aufzeichnungen wohl nicht, ihr Wert besteht vielmehr in der Auffassung und Beurteilung, mit denen einer der treusten und begabtesten Mitarbeiter des Altreichskanzlers diesem, andern be¬ deutenden Männern aus jener Zeit und der gesamten Entwicklung der Er¬ eignisse gegenübersteht. Der behandelte Zeitraum von Januar 1875 bis Ende Juli 1881 umfaßt einen an Wendepunkten reichen Abschnitt der Bismarckschen Politik im Reiche wie in Preußen: den Zerfall des Dreikaiserbündnisfes und das Bündnis mit Österreich, die Reichsjustizreform und den Umschwung der Wirtschafts- und Steuerpolitik, die preußische Verwaltungsreform und die Wendung in der Kirchenpolitik, das Sozialistengesetz und die sozialpolitische Fürsorge. Für die gerechte Bewertung dieser mit der schöpferischen Tätigkeit Bismarcks aufs engste verbundnen politischen Neubildungen ist noch heute jeder zuverlässige Beitrag mit Dank zu begrüßen. So sehr es auch Christoph v. Tiedemann bis an sein Lebensende mit Stolz empfand, in dieser bedeutungs¬ vollen Zeit dem großen deutschen Staatsmanne geschäftlich und persönlich nahe gestanden zu haben, so entging er doch auch nicht dem Schicksale, das der Druck einer mächtigen Persönlichkeit jedem bereitet, der mit ihr zu tun hat. Von Neid, Eifersucht oder gar Gegnerschaft braucht dabei gar nicht die Rede zu sein, und bei Tiedemann war es nicht im geringsten der Fall, aber auch der Verständige und Weitblickende, der vollkommen einsieht, daß ohne diesen despotischen Willen kein großes Werk gelingen kann, empfindet den Druck und sehnt sich nach Selbständigkeit. Am 31. März 1877 schreibt Tiedemann seiner Mutter: „Die dämonische Anziehungskraft des Mannes ist wunderbar" und fügt am 29. April hinzu: „Aber seitdem er fort ist, kommt mir das Leben langweilig vor. Ich vermisse täglich die Anregung, die Anspannung der Geistes- muskeln, die der Verkehr mit ihm mit sich brachte." Aber Anfang Februar 1881 bekennt er in seinem Tagebuche. warum er seine Stellung beim Fürsten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/219>, abgerufen am 24.07.2024.