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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bismarck-Literatur

politischer Ton, und das politische Lied ist nicht häßlich, wenn es einer zu
singen versteht. Und hierin muß Gildemeister als ein Meistersinger gelten.
Nicht mit sensationellen Mätzchen, aufs originelle zugespitzten Redewendungen,
gesuchten Zitaten u. tgi. sucht er zu glänzen, damit arbeitet er nicht. Auf
der Grundlage eines umfassenden Wissens und durchdrungen von der Liebe
zum Vaterlande erreicht seine feine Gedankenführung, bei der sich stets der
klaren Auffassung ungezwungen der ebenso klare Ausdruck bietet, einen Wohl¬
laut der Sprache, der der modernen flackernden Schreibweise, trotz mancher be¬
stechender Reize und Neuheiten, durchaus abgeht. Eine Mozartarie neben
Tingeltangelmusik. Es war noch die Zeit, wo man nicht den geschickten Sen¬
sationsmacher, sondern einen gediegnen Schriftsteller zur Leitung eines Blattes
berief. Und Gildemeister stand auf einer Warte, von der er mit weitem Blick
die Ereignisse zu überschauen vermochte. Der eigentlichen Redaktion hat er
nur sieben Jahre angehört, schon 1857 wurde er Senator und später Bürger¬
meister der Hansestadt Bremen, die er auch von 1867 bis 1890 beim Bundesrat
vertrat. Aber auch in dieser Zeit gehörte er, wie noch später bis kurz vor
seinem Tode, zu den regelmäßigen Mitarbeitern der Weserzeitung, wobei die
Erfahrung des Staatsmanns und die Gewöhnung an objektive Betrachtung
der Dinge seiner vornehmen Denkweise und gewählten Ausdrucksform noch
zustatten kamen. Die Auswahl der Sammlung bemerkenswerter Artikel um¬
faßt den Zeitraum von der großen Entscheidung in Böhmen im Jahre 1866
bis zum Tode Bismarcks und dient dem Zwecke, eine historische Schilderung
jener großen weltgeschichtlichen Periode nach der Auffassung eines zum Urteil
ausnehmend berufnen Zeitgenossen zu geben. Sie bietet demnach ausgesprochne
Bismarckliteratur in der objektivster Gestalt unter jeglicher Fernhaltung aller
bloß phrasenhaften Verherrlichung und vollkommner Vermeidung jeder Aus¬
nützung für den Tagesstreit. Ein großer Zug gerechter Würdigung durchweht
die ganze Sammlung auch in Fällen, wo die Zustimmung fehlt. Gerade der
von Vorurteil und politischer Befangenheit freie Bismarckverehrer wird das
Buch mit tiefer Befriedigung lesen und selbst aus der Darstellung der von
Bismarcks Standpunkt abweichenden Anschauungen -- Gildemeister ist aus be¬
greiflichen Gründen Freihändler -- noch Nutzen ziehen. Einzelne Artikel wie
"Das einige Deutschland gegen Frankreich", "Das französische Volk ist der
Schuldige", "Die Kapitulation von Paris", "Bei Kaiser Friedrichs Tode",
"Moltke", "Zu Bismarcks Rücktritt", "Der Tod des Fürsten Bismarck" und
viele andre sind wahre Perlen der deutschen Literatur und wert, daß sie vor
dem üblichen Zeitungstode gerettet worden sind. Sie verdienen, dem bleibenden
deutschen Lesestoff eingereiht zu werden.

Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei unter dem Fürsten Bismarck,
Erinnerungen von Christoph v. Tiedemann (mit einem Bildnis Tiede-
manns, Leipzig, bei S. Hirzel, geheftet 9 Mark, gebunden 10 Mark) betitelt sich
ein Memoirenwerk, das als zweiter Band zur Fortsetzung des ersten (Schleswig-


Neue Bismarck-Literatur

politischer Ton, und das politische Lied ist nicht häßlich, wenn es einer zu
singen versteht. Und hierin muß Gildemeister als ein Meistersinger gelten.
Nicht mit sensationellen Mätzchen, aufs originelle zugespitzten Redewendungen,
gesuchten Zitaten u. tgi. sucht er zu glänzen, damit arbeitet er nicht. Auf
der Grundlage eines umfassenden Wissens und durchdrungen von der Liebe
zum Vaterlande erreicht seine feine Gedankenführung, bei der sich stets der
klaren Auffassung ungezwungen der ebenso klare Ausdruck bietet, einen Wohl¬
laut der Sprache, der der modernen flackernden Schreibweise, trotz mancher be¬
stechender Reize und Neuheiten, durchaus abgeht. Eine Mozartarie neben
Tingeltangelmusik. Es war noch die Zeit, wo man nicht den geschickten Sen¬
sationsmacher, sondern einen gediegnen Schriftsteller zur Leitung eines Blattes
berief. Und Gildemeister stand auf einer Warte, von der er mit weitem Blick
die Ereignisse zu überschauen vermochte. Der eigentlichen Redaktion hat er
nur sieben Jahre angehört, schon 1857 wurde er Senator und später Bürger¬
meister der Hansestadt Bremen, die er auch von 1867 bis 1890 beim Bundesrat
vertrat. Aber auch in dieser Zeit gehörte er, wie noch später bis kurz vor
seinem Tode, zu den regelmäßigen Mitarbeitern der Weserzeitung, wobei die
Erfahrung des Staatsmanns und die Gewöhnung an objektive Betrachtung
der Dinge seiner vornehmen Denkweise und gewählten Ausdrucksform noch
zustatten kamen. Die Auswahl der Sammlung bemerkenswerter Artikel um¬
faßt den Zeitraum von der großen Entscheidung in Böhmen im Jahre 1866
bis zum Tode Bismarcks und dient dem Zwecke, eine historische Schilderung
jener großen weltgeschichtlichen Periode nach der Auffassung eines zum Urteil
ausnehmend berufnen Zeitgenossen zu geben. Sie bietet demnach ausgesprochne
Bismarckliteratur in der objektivster Gestalt unter jeglicher Fernhaltung aller
bloß phrasenhaften Verherrlichung und vollkommner Vermeidung jeder Aus¬
nützung für den Tagesstreit. Ein großer Zug gerechter Würdigung durchweht
die ganze Sammlung auch in Fällen, wo die Zustimmung fehlt. Gerade der
von Vorurteil und politischer Befangenheit freie Bismarckverehrer wird das
Buch mit tiefer Befriedigung lesen und selbst aus der Darstellung der von
Bismarcks Standpunkt abweichenden Anschauungen — Gildemeister ist aus be¬
greiflichen Gründen Freihändler — noch Nutzen ziehen. Einzelne Artikel wie
„Das einige Deutschland gegen Frankreich", „Das französische Volk ist der
Schuldige", „Die Kapitulation von Paris", „Bei Kaiser Friedrichs Tode",
„Moltke", „Zu Bismarcks Rücktritt", „Der Tod des Fürsten Bismarck" und
viele andre sind wahre Perlen der deutschen Literatur und wert, daß sie vor
dem üblichen Zeitungstode gerettet worden sind. Sie verdienen, dem bleibenden
deutschen Lesestoff eingereiht zu werden.

Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei unter dem Fürsten Bismarck,
Erinnerungen von Christoph v. Tiedemann (mit einem Bildnis Tiede-
manns, Leipzig, bei S. Hirzel, geheftet 9 Mark, gebunden 10 Mark) betitelt sich
ein Memoirenwerk, das als zweiter Band zur Fortsetzung des ersten (Schleswig-


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[0218] Neue Bismarck-Literatur politischer Ton, und das politische Lied ist nicht häßlich, wenn es einer zu singen versteht. Und hierin muß Gildemeister als ein Meistersinger gelten. Nicht mit sensationellen Mätzchen, aufs originelle zugespitzten Redewendungen, gesuchten Zitaten u. tgi. sucht er zu glänzen, damit arbeitet er nicht. Auf der Grundlage eines umfassenden Wissens und durchdrungen von der Liebe zum Vaterlande erreicht seine feine Gedankenführung, bei der sich stets der klaren Auffassung ungezwungen der ebenso klare Ausdruck bietet, einen Wohl¬ laut der Sprache, der der modernen flackernden Schreibweise, trotz mancher be¬ stechender Reize und Neuheiten, durchaus abgeht. Eine Mozartarie neben Tingeltangelmusik. Es war noch die Zeit, wo man nicht den geschickten Sen¬ sationsmacher, sondern einen gediegnen Schriftsteller zur Leitung eines Blattes berief. Und Gildemeister stand auf einer Warte, von der er mit weitem Blick die Ereignisse zu überschauen vermochte. Der eigentlichen Redaktion hat er nur sieben Jahre angehört, schon 1857 wurde er Senator und später Bürger¬ meister der Hansestadt Bremen, die er auch von 1867 bis 1890 beim Bundesrat vertrat. Aber auch in dieser Zeit gehörte er, wie noch später bis kurz vor seinem Tode, zu den regelmäßigen Mitarbeitern der Weserzeitung, wobei die Erfahrung des Staatsmanns und die Gewöhnung an objektive Betrachtung der Dinge seiner vornehmen Denkweise und gewählten Ausdrucksform noch zustatten kamen. Die Auswahl der Sammlung bemerkenswerter Artikel um¬ faßt den Zeitraum von der großen Entscheidung in Böhmen im Jahre 1866 bis zum Tode Bismarcks und dient dem Zwecke, eine historische Schilderung jener großen weltgeschichtlichen Periode nach der Auffassung eines zum Urteil ausnehmend berufnen Zeitgenossen zu geben. Sie bietet demnach ausgesprochne Bismarckliteratur in der objektivster Gestalt unter jeglicher Fernhaltung aller bloß phrasenhaften Verherrlichung und vollkommner Vermeidung jeder Aus¬ nützung für den Tagesstreit. Ein großer Zug gerechter Würdigung durchweht die ganze Sammlung auch in Fällen, wo die Zustimmung fehlt. Gerade der von Vorurteil und politischer Befangenheit freie Bismarckverehrer wird das Buch mit tiefer Befriedigung lesen und selbst aus der Darstellung der von Bismarcks Standpunkt abweichenden Anschauungen — Gildemeister ist aus be¬ greiflichen Gründen Freihändler — noch Nutzen ziehen. Einzelne Artikel wie „Das einige Deutschland gegen Frankreich", „Das französische Volk ist der Schuldige", „Die Kapitulation von Paris", „Bei Kaiser Friedrichs Tode", „Moltke", „Zu Bismarcks Rücktritt", „Der Tod des Fürsten Bismarck" und viele andre sind wahre Perlen der deutschen Literatur und wert, daß sie vor dem üblichen Zeitungstode gerettet worden sind. Sie verdienen, dem bleibenden deutschen Lesestoff eingereiht zu werden. Sechs Jahre Chef der Reichskanzlei unter dem Fürsten Bismarck, Erinnerungen von Christoph v. Tiedemann (mit einem Bildnis Tiede- manns, Leipzig, bei S. Hirzel, geheftet 9 Mark, gebunden 10 Mark) betitelt sich ein Memoirenwerk, das als zweiter Band zur Fortsetzung des ersten (Schleswig-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/218>, abgerufen am 24.07.2024.