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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bismarck - Literatur

sichern Besitz des damals mit schweren Opfern Errungnen lebenden Gegenwart
zum großen Teil wieder abhanden gekommen zu sein scheint. Hoffentlich nur
so lange, bis sie eine neue große Zeit wieder aufruft, wenn sie ihrer bedarf;
denn das Deutsche Reich hat die Tage seiner Bollendung noch nicht hinter
sich, um so weniger-wenn darunter nicht eine Weltherrschaft im Sinne Napo¬
leons begriffen werden soll. Nicht ohne Bewegung kann man die schlichte
Größe des Ausdrucks wieder empfinden, mit der Gildemeister am 1. September
1870 -- also noch vor dem überwältigenden Siege von Sedan -- schreibt:
"Das Erwachen des deutschen Riesen erlebt zu haben, wie er seine gewaltige
Rüstung anlegte; darum werden uns noch späte Geschlechter beneiden. Ein
neuer Tag der Weltgeschichte brach an. und wir erlebten diesen Tag in dem
vollen Bewußtsein seiner unaussprechlichen Größe. Wir wußten, was es zu
bedeuten hatte, als die Wächter von den Zinnen bliesen. Wir sahen den
Genius unsers Volks in Fleisch und Blut durch die deutschen Lande ziehen,
und wir vernahmen deutlich, was er sagte: daß die große Stund? gekommen
Seil" Und fast wie ein feierliches Gelöbnis klingt die Äußerung am 1. Oktober:
"Dies war das Ziel, , auf welches, bald mit halbem Bewußtsein. bald Mit
dunklem Triebe, seit -Jahrhunderten die Großen unseres Volks. Staatsmänner
und Denker, Kriegshelden und Dichter hingearbeitet und hingewiesen haben,
Wie auf eine' ferne, ferne Zukunft, die dermaleinst späten glücklichen Geschlechtern
aufgehen werde, und nun liegt das Ziel sichtbar im Sonnenglanze vor uns;
der-Traum der Sehnsucht ist Wirklichkeit, die Zukunft ist Gegenwart geworden,
und uns. den Lebenden, fällt die glorreiche Aufgabe zu, das Gemeinwesen
freier deutscher Bürger auf-dem Boden eines einigen, starken, ruhmgekrönten
Vaterlandes aufzubauen." So dachte, so empfand damals das ganze deutsche
Volk, und wenn auch nicht in gleicher Vollendung, war es damals die Sprache
seiner Tagesblätter. Denn diese Perlen deutschen Denkens und deutscheu Stils,
die wir zu einer köstlichen und langen Schnur weiterknüpfen könnten, ent¬
stammen, wie die ganze Sammlung, der Weserzeitung. Die große Zeit brachte
edle Gedanken, und eine vornehme Sprache verlieh ihnen Ausdruck selbst in
der schlichten Tagesliteratur. Gildemeister und noch viele andre, deren Geist
der Genius des Vaterlandes damals für ihr Wirken geweiht hatte, bewahrten
diesen Ton, bis die Feder ihrer Hand entsank. Für die Gegenwart ist es
kein Glück, daß dem, mit wenigen Ausnahmen, nicht mehr so ist. und bloß
noch die Auffassung Crispis gilt, daß die Zeitung ein Gewerbe sei und als
solches betrieben werden müsse. Um so mehr wird es für die Epigonen ein
Segen sein, wenn sie in einer Zeit, die minder geeignet ist, das Herz höher
schlagen zu machen, gelegentlich eines dieser feinen politischen Kapitel nach¬
lesen, die uns wohl sachlich nichts neues mehr bieten können, aber eine köst¬
liche, erfrischende und erzieherische Wirkung jeden ausüben Müssen, dem
der heutige Parteistreit die Lust an den Geschäften des Vaterlandes vergällt
hat. Nicht die Politik verdirbt den Charakter, sondern nur ein gewisser
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Grenzboien IV 1909 , ^ 27 -
Neue Bismarck - Literatur

sichern Besitz des damals mit schweren Opfern Errungnen lebenden Gegenwart
zum großen Teil wieder abhanden gekommen zu sein scheint. Hoffentlich nur
so lange, bis sie eine neue große Zeit wieder aufruft, wenn sie ihrer bedarf;
denn das Deutsche Reich hat die Tage seiner Bollendung noch nicht hinter
sich, um so weniger-wenn darunter nicht eine Weltherrschaft im Sinne Napo¬
leons begriffen werden soll. Nicht ohne Bewegung kann man die schlichte
Größe des Ausdrucks wieder empfinden, mit der Gildemeister am 1. September
1870 — also noch vor dem überwältigenden Siege von Sedan — schreibt:
„Das Erwachen des deutschen Riesen erlebt zu haben, wie er seine gewaltige
Rüstung anlegte; darum werden uns noch späte Geschlechter beneiden. Ein
neuer Tag der Weltgeschichte brach an. und wir erlebten diesen Tag in dem
vollen Bewußtsein seiner unaussprechlichen Größe. Wir wußten, was es zu
bedeuten hatte, als die Wächter von den Zinnen bliesen. Wir sahen den
Genius unsers Volks in Fleisch und Blut durch die deutschen Lande ziehen,
und wir vernahmen deutlich, was er sagte: daß die große Stund? gekommen
Seil" Und fast wie ein feierliches Gelöbnis klingt die Äußerung am 1. Oktober:
„Dies war das Ziel, , auf welches, bald mit halbem Bewußtsein. bald Mit
dunklem Triebe, seit -Jahrhunderten die Großen unseres Volks. Staatsmänner
und Denker, Kriegshelden und Dichter hingearbeitet und hingewiesen haben,
Wie auf eine' ferne, ferne Zukunft, die dermaleinst späten glücklichen Geschlechtern
aufgehen werde, und nun liegt das Ziel sichtbar im Sonnenglanze vor uns;
der-Traum der Sehnsucht ist Wirklichkeit, die Zukunft ist Gegenwart geworden,
und uns. den Lebenden, fällt die glorreiche Aufgabe zu, das Gemeinwesen
freier deutscher Bürger auf-dem Boden eines einigen, starken, ruhmgekrönten
Vaterlandes aufzubauen." So dachte, so empfand damals das ganze deutsche
Volk, und wenn auch nicht in gleicher Vollendung, war es damals die Sprache
seiner Tagesblätter. Denn diese Perlen deutschen Denkens und deutscheu Stils,
die wir zu einer köstlichen und langen Schnur weiterknüpfen könnten, ent¬
stammen, wie die ganze Sammlung, der Weserzeitung. Die große Zeit brachte
edle Gedanken, und eine vornehme Sprache verlieh ihnen Ausdruck selbst in
der schlichten Tagesliteratur. Gildemeister und noch viele andre, deren Geist
der Genius des Vaterlandes damals für ihr Wirken geweiht hatte, bewahrten
diesen Ton, bis die Feder ihrer Hand entsank. Für die Gegenwart ist es
kein Glück, daß dem, mit wenigen Ausnahmen, nicht mehr so ist. und bloß
noch die Auffassung Crispis gilt, daß die Zeitung ein Gewerbe sei und als
solches betrieben werden müsse. Um so mehr wird es für die Epigonen ein
Segen sein, wenn sie in einer Zeit, die minder geeignet ist, das Herz höher
schlagen zu machen, gelegentlich eines dieser feinen politischen Kapitel nach¬
lesen, die uns wohl sachlich nichts neues mehr bieten können, aber eine köst¬
liche, erfrischende und erzieherische Wirkung jeden ausüben Müssen, dem
der heutige Parteistreit die Lust an den Geschäften des Vaterlandes vergällt
hat. Nicht die Politik verdirbt den Charakter, sondern nur ein gewisser
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Grenzboien IV 1909 , ^ 27 -
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[0217] Neue Bismarck - Literatur sichern Besitz des damals mit schweren Opfern Errungnen lebenden Gegenwart zum großen Teil wieder abhanden gekommen zu sein scheint. Hoffentlich nur so lange, bis sie eine neue große Zeit wieder aufruft, wenn sie ihrer bedarf; denn das Deutsche Reich hat die Tage seiner Bollendung noch nicht hinter sich, um so weniger-wenn darunter nicht eine Weltherrschaft im Sinne Napo¬ leons begriffen werden soll. Nicht ohne Bewegung kann man die schlichte Größe des Ausdrucks wieder empfinden, mit der Gildemeister am 1. September 1870 — also noch vor dem überwältigenden Siege von Sedan — schreibt: „Das Erwachen des deutschen Riesen erlebt zu haben, wie er seine gewaltige Rüstung anlegte; darum werden uns noch späte Geschlechter beneiden. Ein neuer Tag der Weltgeschichte brach an. und wir erlebten diesen Tag in dem vollen Bewußtsein seiner unaussprechlichen Größe. Wir wußten, was es zu bedeuten hatte, als die Wächter von den Zinnen bliesen. Wir sahen den Genius unsers Volks in Fleisch und Blut durch die deutschen Lande ziehen, und wir vernahmen deutlich, was er sagte: daß die große Stund? gekommen Seil" Und fast wie ein feierliches Gelöbnis klingt die Äußerung am 1. Oktober: „Dies war das Ziel, , auf welches, bald mit halbem Bewußtsein. bald Mit dunklem Triebe, seit -Jahrhunderten die Großen unseres Volks. Staatsmänner und Denker, Kriegshelden und Dichter hingearbeitet und hingewiesen haben, Wie auf eine' ferne, ferne Zukunft, die dermaleinst späten glücklichen Geschlechtern aufgehen werde, und nun liegt das Ziel sichtbar im Sonnenglanze vor uns; der-Traum der Sehnsucht ist Wirklichkeit, die Zukunft ist Gegenwart geworden, und uns. den Lebenden, fällt die glorreiche Aufgabe zu, das Gemeinwesen freier deutscher Bürger auf-dem Boden eines einigen, starken, ruhmgekrönten Vaterlandes aufzubauen." So dachte, so empfand damals das ganze deutsche Volk, und wenn auch nicht in gleicher Vollendung, war es damals die Sprache seiner Tagesblätter. Denn diese Perlen deutschen Denkens und deutscheu Stils, die wir zu einer köstlichen und langen Schnur weiterknüpfen könnten, ent¬ stammen, wie die ganze Sammlung, der Weserzeitung. Die große Zeit brachte edle Gedanken, und eine vornehme Sprache verlieh ihnen Ausdruck selbst in der schlichten Tagesliteratur. Gildemeister und noch viele andre, deren Geist der Genius des Vaterlandes damals für ihr Wirken geweiht hatte, bewahrten diesen Ton, bis die Feder ihrer Hand entsank. Für die Gegenwart ist es kein Glück, daß dem, mit wenigen Ausnahmen, nicht mehr so ist. und bloß noch die Auffassung Crispis gilt, daß die Zeitung ein Gewerbe sei und als solches betrieben werden müsse. Um so mehr wird es für die Epigonen ein Segen sein, wenn sie in einer Zeit, die minder geeignet ist, das Herz höher schlagen zu machen, gelegentlich eines dieser feinen politischen Kapitel nach¬ lesen, die uns wohl sachlich nichts neues mehr bieten können, aber eine köst¬ liche, erfrischende und erzieherische Wirkung jeden ausüben Müssen, dem der heutige Parteistreit die Lust an den Geschäften des Vaterlandes vergällt hat. Nicht die Politik verdirbt den Charakter, sondern nur ein gewisser ' Grenzboien IV 1909 , ^ 27 -

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/217>, abgerufen am 24.07.2024.