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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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westdeutsche" Schwestern nicht messen, und das ist nun ein andrer Grund der
Nichtachtung, der unsre Provinz verfallen ist. Selbstverständlich haben auch
sie ihre Geschichte gehabt, und zwar eine recht bewegte, aber sie ist weniger
anziehend als die der rheinischen, schwäbischen, thüringischen und Harzstüdte.
Deren große Erinnerungen knüpfen sich an die Kaiscrgeschichte bis zum Ende
der Hohenstaufenzeit. Diese Geschichte ist. als eine Reihe von Taten großer
Könige und Herzöge verlaufend, einfach und übersichtlich, darum auch leicht
zu behalten. Damals aber bedeckte das Schlesierland noch der Urwald, in
den armselige Slawendörfer spärlich verstreut waren, die den Polen- oder
Vöhmenherzögcn oder einem ihrer Großen frondeten. Sie trieben einen
primitiven Ackerbau zur Befriedigung ihrer eignen Leibesnotdurft und hatten
daneben dem Grundherrn gewisse Dienste zu leisten oder gewisse Erzeugnisse
ihres rohen Kunstfleißes zu liefern, und zwar war jedem Dorfe eine einzige
Art von Leistung auferlegt, sodaß es Falknerdörfer, Dörfer von Biberjägern,
Bogenschützen, Köchen, Bäckern, Schustern. Böttchern, Schmieden. Drechslern
gab. Die Anfänge der höhern Kultur des Landes aber fallen in die Zeit,
wo sich die deutsche Neichsgeschichte in ein unübersichtliches Gewirr von Stadt-
und Territorialgeschichten zerfasert, mit der man sich schon darum nicht gern
befaßt, weil in dieser Periode eben das Reich selbst sich auflöste und politisch
betrachtet -- wer die geistige und die Wirtschaftsgeschichte studiert, findet es
anders -- einen unerfreulichen Anblick darbot. Zudem schauen wir jene frühere
Neichsgeschichte vom Glänze der romantischen Poesie verklärt, und von dieser
fällt kein Schimmer auf unser Schlesierland. Herrn Walther bedeutete in der
Richtung nach Nordosten Dobrilugk das Weltende, in schauerliche Winter-
nacht und Barbarei gehüllt. Ehe ich so länger lebte, klagt er einmal im
Winter seines Mißvergnügens, "ich würde e Münch ze Toberlu". Wer
denkt noch daran, daß in der Kreuzkirche zu Breslau ein Minnesänger be¬
graben liegt: der Herzog Heinrich der Vierte von Schlesien? Daß die
Herzogin Hedwig die Schwester jener Agnes von Meran war, um deren-
willen Frankreich nnter dem Interdikt geschmachtet hat, desgleichen die Schwester
der Königin Gertrud von Ungarn, der Mutter der heiligen Elisabeth, und
daß eine ihrer Töchter mit Otto von Wittelsbach, dem Mörder des Hohen-
staufen Philipp, verlobt, der der Mitschuld verdächtige Bischof Elbert von
Bamberg ihr Bruder war? Was oben von den kleinern schlesischen Städten
gesagt wurde, das gilt eben keineswegs von dem ganzen Lande und von der
Hauptstadt. Man erinnere sich nur daran, daß es die Eroberung von Schlesien
gewesen ist, was Preußen-Brandenburg zwar noch nicht zur Großmacht er¬
hoben aber in den Stand gesetzt hat, Großmachtansprüche zu erheben, und
welche Rolle Breslau im Jahre 1813 gespielt hat. Friedrich der Große hat
Breslau für die dritte. Friedrich Wilhelm der Vierte hat sie für die zweite
Stadt des Staates erklärt. Der Einwohnerzahl, industriellen, kommerziellen
und geistigen Bedeutung nach war sie das schon, als sie preußisch wurde, und


westdeutsche» Schwestern nicht messen, und das ist nun ein andrer Grund der
Nichtachtung, der unsre Provinz verfallen ist. Selbstverständlich haben auch
sie ihre Geschichte gehabt, und zwar eine recht bewegte, aber sie ist weniger
anziehend als die der rheinischen, schwäbischen, thüringischen und Harzstüdte.
Deren große Erinnerungen knüpfen sich an die Kaiscrgeschichte bis zum Ende
der Hohenstaufenzeit. Diese Geschichte ist. als eine Reihe von Taten großer
Könige und Herzöge verlaufend, einfach und übersichtlich, darum auch leicht
zu behalten. Damals aber bedeckte das Schlesierland noch der Urwald, in
den armselige Slawendörfer spärlich verstreut waren, die den Polen- oder
Vöhmenherzögcn oder einem ihrer Großen frondeten. Sie trieben einen
primitiven Ackerbau zur Befriedigung ihrer eignen Leibesnotdurft und hatten
daneben dem Grundherrn gewisse Dienste zu leisten oder gewisse Erzeugnisse
ihres rohen Kunstfleißes zu liefern, und zwar war jedem Dorfe eine einzige
Art von Leistung auferlegt, sodaß es Falknerdörfer, Dörfer von Biberjägern,
Bogenschützen, Köchen, Bäckern, Schustern. Böttchern, Schmieden. Drechslern
gab. Die Anfänge der höhern Kultur des Landes aber fallen in die Zeit,
wo sich die deutsche Neichsgeschichte in ein unübersichtliches Gewirr von Stadt-
und Territorialgeschichten zerfasert, mit der man sich schon darum nicht gern
befaßt, weil in dieser Periode eben das Reich selbst sich auflöste und politisch
betrachtet — wer die geistige und die Wirtschaftsgeschichte studiert, findet es
anders — einen unerfreulichen Anblick darbot. Zudem schauen wir jene frühere
Neichsgeschichte vom Glänze der romantischen Poesie verklärt, und von dieser
fällt kein Schimmer auf unser Schlesierland. Herrn Walther bedeutete in der
Richtung nach Nordosten Dobrilugk das Weltende, in schauerliche Winter-
nacht und Barbarei gehüllt. Ehe ich so länger lebte, klagt er einmal im
Winter seines Mißvergnügens, „ich würde e Münch ze Toberlu". Wer
denkt noch daran, daß in der Kreuzkirche zu Breslau ein Minnesänger be¬
graben liegt: der Herzog Heinrich der Vierte von Schlesien? Daß die
Herzogin Hedwig die Schwester jener Agnes von Meran war, um deren-
willen Frankreich nnter dem Interdikt geschmachtet hat, desgleichen die Schwester
der Königin Gertrud von Ungarn, der Mutter der heiligen Elisabeth, und
daß eine ihrer Töchter mit Otto von Wittelsbach, dem Mörder des Hohen-
staufen Philipp, verlobt, der der Mitschuld verdächtige Bischof Elbert von
Bamberg ihr Bruder war? Was oben von den kleinern schlesischen Städten
gesagt wurde, das gilt eben keineswegs von dem ganzen Lande und von der
Hauptstadt. Man erinnere sich nur daran, daß es die Eroberung von Schlesien
gewesen ist, was Preußen-Brandenburg zwar noch nicht zur Großmacht er¬
hoben aber in den Stand gesetzt hat, Großmachtansprüche zu erheben, und
welche Rolle Breslau im Jahre 1813 gespielt hat. Friedrich der Große hat
Breslau für die dritte. Friedrich Wilhelm der Vierte hat sie für die zweite
Stadt des Staates erklärt. Der Einwohnerzahl, industriellen, kommerziellen
und geistigen Bedeutung nach war sie das schon, als sie preußisch wurde, und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/173>, abgerufen am 24.07.2024.