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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Scholastentum

eine solche der Erstarrung folgen, was doch, wie die Geschichte lehrt, eher die
Regel als die Ausnahme ist. Deshalb sind wir auch keineswegs sicher, daß
nicht wieder eine Periode des Scholastentums über Europa hereinbrechen wird.
Im Gegenteil, wir müssen mit aller Energie die Flamme der freien Forschung
behüten, daß sie nicht verhüllt werde von dem Qualm, der allemal ein Be¬
gleiter eines schlecht brennenden Feuers ist. Ja noch mehr, wir stecken noch
mit unserm halben Wesen im Scholastentum. und wo wir uns davon frei ge¬
macht haben, da droht immer wieder Rauch und Qualm die Fackel zu ver¬
dunkeln. Auch hier müssen wir wachsam sein, daß der böse Feind nicht komme
und sein Unkraut zwischen unsern Weizen säe.

Wir stecken noch im Scholastentum: in der Philosophie, in der Ästhetik;
wir haben uns davon beinahe frei gemacht: in den Naturwissenschaften, vielleicht
>"ni sie für die praktischen Erfolge, für unser stoffliches Leben so wichtig sind,
und in den Geisteswissenschaften, die sich rühmen. Naturwissenschaften zu sem
"der Verwandtschaft mit ihr bezeugen, in der vergleichenden Sprachwissenschaft
und in der Geschichte. Aber auch in dieser richtet die Scholastik oft noch
Verwüstungen an.

Ein Theologe, der in der Bibelkritik einen bedeutenden Namen hat, sagte
dieser Tage zu mir. er habe gefunden, und andre mit ihm. daß die Worte
w es ?ktrus eingeschoben seien, und fügte hinzu: Man denke sich den Lauf
der Weltgeschichte, wenn dies nicht geschehen wäre. Ich dachte, was diese
scharfsinnigen Textkritiker doch über die Schranken ihres engen Faches hinaus
wenig scharfsichtig sind. Wer die enorme politische Macht der römischen Kirche
kennt, die man noch heute aus Hunderten von Beispielen kennen lernen kann,
und wozu man keiner Gelehrsamkeit, sondern nur offner Sinne bedarf, der
muß doch zu der Überzeugung kommen, daß sie für ihre Lage nicht eines ge¬
gebnen Textes bedarf. Sie würde immer etwas brauchbares gefunden haben,
wenn ihr der Sinn danach stand, die Suprematie zu behaupten. Aus solchen
Kleinigkeiten baut sich nicht die Weltgeschichte. Auch daß bei dem Hergang
die absichtliche Fälschung zu diesem Zweck in Abrede gestellt wird, ist ziemlich
gleichgiltig. da doch die Erfahrung lehrt, daß auch gelegentlich für einen
solchen Zweck jedes Mittel recht befunden worden wäre. Ebenso ist die ganze
historische Reduktion der Person von Jesus eigentlich recht irrelevant. Die
christliche Idee und der christliche Idealismus gehören doch eben jener Zeit
an, auf wieviel Träger sie sich auch verteilt haben mögen. Nur der Wirksam¬
keit des plastischen Christusideals wird durch solche Kritik unendlich geschadet,
und gerade diese müßte man auf jede Weise festzuhalten suchen.

Aber selbst in der Naturwissenschaft droht das Scholastentum auf Schritt
und Tritt, am meisten beim Lehren auf den Schule", aber auch in der
Forschung selber. Auf den Schulen, weil es dem überarbeiteten Lehrer weit
bequemer ist, das, was er seinerzeit lernte, und was er am Schnürchen ab¬
haspeln kann, als einen festen Kanon mitzuteilen und auswendig lernen zu


Grenzboten IV 1903 21
Scholastentum

eine solche der Erstarrung folgen, was doch, wie die Geschichte lehrt, eher die
Regel als die Ausnahme ist. Deshalb sind wir auch keineswegs sicher, daß
nicht wieder eine Periode des Scholastentums über Europa hereinbrechen wird.
Im Gegenteil, wir müssen mit aller Energie die Flamme der freien Forschung
behüten, daß sie nicht verhüllt werde von dem Qualm, der allemal ein Be¬
gleiter eines schlecht brennenden Feuers ist. Ja noch mehr, wir stecken noch
mit unserm halben Wesen im Scholastentum. und wo wir uns davon frei ge¬
macht haben, da droht immer wieder Rauch und Qualm die Fackel zu ver¬
dunkeln. Auch hier müssen wir wachsam sein, daß der böse Feind nicht komme
und sein Unkraut zwischen unsern Weizen säe.

Wir stecken noch im Scholastentum: in der Philosophie, in der Ästhetik;
wir haben uns davon beinahe frei gemacht: in den Naturwissenschaften, vielleicht
>"ni sie für die praktischen Erfolge, für unser stoffliches Leben so wichtig sind,
und in den Geisteswissenschaften, die sich rühmen. Naturwissenschaften zu sem
»der Verwandtschaft mit ihr bezeugen, in der vergleichenden Sprachwissenschaft
und in der Geschichte. Aber auch in dieser richtet die Scholastik oft noch
Verwüstungen an.

Ein Theologe, der in der Bibelkritik einen bedeutenden Namen hat, sagte
dieser Tage zu mir. er habe gefunden, und andre mit ihm. daß die Worte
w es ?ktrus eingeschoben seien, und fügte hinzu: Man denke sich den Lauf
der Weltgeschichte, wenn dies nicht geschehen wäre. Ich dachte, was diese
scharfsinnigen Textkritiker doch über die Schranken ihres engen Faches hinaus
wenig scharfsichtig sind. Wer die enorme politische Macht der römischen Kirche
kennt, die man noch heute aus Hunderten von Beispielen kennen lernen kann,
und wozu man keiner Gelehrsamkeit, sondern nur offner Sinne bedarf, der
muß doch zu der Überzeugung kommen, daß sie für ihre Lage nicht eines ge¬
gebnen Textes bedarf. Sie würde immer etwas brauchbares gefunden haben,
wenn ihr der Sinn danach stand, die Suprematie zu behaupten. Aus solchen
Kleinigkeiten baut sich nicht die Weltgeschichte. Auch daß bei dem Hergang
die absichtliche Fälschung zu diesem Zweck in Abrede gestellt wird, ist ziemlich
gleichgiltig. da doch die Erfahrung lehrt, daß auch gelegentlich für einen
solchen Zweck jedes Mittel recht befunden worden wäre. Ebenso ist die ganze
historische Reduktion der Person von Jesus eigentlich recht irrelevant. Die
christliche Idee und der christliche Idealismus gehören doch eben jener Zeit
an, auf wieviel Träger sie sich auch verteilt haben mögen. Nur der Wirksam¬
keit des plastischen Christusideals wird durch solche Kritik unendlich geschadet,
und gerade diese müßte man auf jede Weise festzuhalten suchen.

Aber selbst in der Naturwissenschaft droht das Scholastentum auf Schritt
und Tritt, am meisten beim Lehren auf den Schule», aber auch in der
Forschung selber. Auf den Schulen, weil es dem überarbeiteten Lehrer weit
bequemer ist, das, was er seinerzeit lernte, und was er am Schnürchen ab¬
haspeln kann, als einen festen Kanon mitzuteilen und auswendig lernen zu


Grenzboten IV 1903 21
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[0169] Scholastentum eine solche der Erstarrung folgen, was doch, wie die Geschichte lehrt, eher die Regel als die Ausnahme ist. Deshalb sind wir auch keineswegs sicher, daß nicht wieder eine Periode des Scholastentums über Europa hereinbrechen wird. Im Gegenteil, wir müssen mit aller Energie die Flamme der freien Forschung behüten, daß sie nicht verhüllt werde von dem Qualm, der allemal ein Be¬ gleiter eines schlecht brennenden Feuers ist. Ja noch mehr, wir stecken noch mit unserm halben Wesen im Scholastentum. und wo wir uns davon frei ge¬ macht haben, da droht immer wieder Rauch und Qualm die Fackel zu ver¬ dunkeln. Auch hier müssen wir wachsam sein, daß der böse Feind nicht komme und sein Unkraut zwischen unsern Weizen säe. Wir stecken noch im Scholastentum: in der Philosophie, in der Ästhetik; wir haben uns davon beinahe frei gemacht: in den Naturwissenschaften, vielleicht >"ni sie für die praktischen Erfolge, für unser stoffliches Leben so wichtig sind, und in den Geisteswissenschaften, die sich rühmen. Naturwissenschaften zu sem »der Verwandtschaft mit ihr bezeugen, in der vergleichenden Sprachwissenschaft und in der Geschichte. Aber auch in dieser richtet die Scholastik oft noch Verwüstungen an. Ein Theologe, der in der Bibelkritik einen bedeutenden Namen hat, sagte dieser Tage zu mir. er habe gefunden, und andre mit ihm. daß die Worte w es ?ktrus eingeschoben seien, und fügte hinzu: Man denke sich den Lauf der Weltgeschichte, wenn dies nicht geschehen wäre. Ich dachte, was diese scharfsinnigen Textkritiker doch über die Schranken ihres engen Faches hinaus wenig scharfsichtig sind. Wer die enorme politische Macht der römischen Kirche kennt, die man noch heute aus Hunderten von Beispielen kennen lernen kann, und wozu man keiner Gelehrsamkeit, sondern nur offner Sinne bedarf, der muß doch zu der Überzeugung kommen, daß sie für ihre Lage nicht eines ge¬ gebnen Textes bedarf. Sie würde immer etwas brauchbares gefunden haben, wenn ihr der Sinn danach stand, die Suprematie zu behaupten. Aus solchen Kleinigkeiten baut sich nicht die Weltgeschichte. Auch daß bei dem Hergang die absichtliche Fälschung zu diesem Zweck in Abrede gestellt wird, ist ziemlich gleichgiltig. da doch die Erfahrung lehrt, daß auch gelegentlich für einen solchen Zweck jedes Mittel recht befunden worden wäre. Ebenso ist die ganze historische Reduktion der Person von Jesus eigentlich recht irrelevant. Die christliche Idee und der christliche Idealismus gehören doch eben jener Zeit an, auf wieviel Träger sie sich auch verteilt haben mögen. Nur der Wirksam¬ keit des plastischen Christusideals wird durch solche Kritik unendlich geschadet, und gerade diese müßte man auf jede Weise festzuhalten suchen. Aber selbst in der Naturwissenschaft droht das Scholastentum auf Schritt und Tritt, am meisten beim Lehren auf den Schule», aber auch in der Forschung selber. Auf den Schulen, weil es dem überarbeiteten Lehrer weit bequemer ist, das, was er seinerzeit lernte, und was er am Schnürchen ab¬ haspeln kann, als einen festen Kanon mitzuteilen und auswendig lernen zu Grenzboten IV 1903 21

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/169>, abgerufen am 24.07.2024.