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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Scholastentum

die Wissenschaft von vorn anfangen will, um dann da zu endigen, wo eben
sein Vorgänger auch geendet hat.

Also Autorität ist überall, auch in der Wissenschaft; wir müssen nur ver¬
suchen, das Autoritative vom scholastischen zu scheiden. Das scheint zunächst
schwer, gelingt aber doch schließlich mit wenig Mühe.

Die Kritik muß im Prinzip zugelassen werden für alles und jedes ohne
Ausnahme. Sie muß nicht bloß zugelassen werden, sie muß gelehrt werden
als die Kontrolle des Wissenschaftlicher. Nicht jeder braucht aber alles, womit
er arbeitet, zu kontrollieren. Der eine kontrolliert dies, der andre das. Es
ist damit wie mit der Kontrolle an den Zollbureaus, wo auch nicht jeder
durchgehende Koffer geöffnet wird. Aber weil jeder Reisende prinzipiell der
Kontrolle unterliegen kann, hütet er sich, auch abgesehen von der Ehrlichkeit,
die nicht jedermanns Sache ist, in den meisten Fällen Konterbande mitzu¬
führen. Jene ist ein Damoklesschwert, das jedem über dem Haupte hängt.

Dieses Bild ist vortrefflich, weil es zeigt, daß es sich dabei mehr um
eine moralische als um eine intellektuelle Eigenschaft handelt. Sobald es ein
hochstehender Reisender übelnimmt, daß seine Siebensachen nachgesehen werden
und den Freipaß erzwingt, oder sobald der Weltkluge diesen durch ein Trink¬
geld erreicht, ist es mit der Kontrolle aus, und der Schmuggel beginnt große
Maße anzunehmen.

So auch in der Wissenschaft. Sobald sich das tonangebende Geschlecht,
die Lehrenden, darauf versteifen oder es durch Kunstgriffe dahin zu bringen
wissen, daß diese Kontrolle nicht bloß aufhört, sondern als pietätlos in Verruf
kommt, erstarrt die Wissenschaft in dem Zustande, in dem sie sich zurzeit be¬
findet, ja vielleicht für immer, da mit der Erstarrung das Leben erlischt.
Die Anknüpfungspunkte zu neuem Wachstum gehen so leicht verloren. Hier¬
durch erklärt sich die Tatsache der bleibenden Stagnation in den asiatischen
Reichen.

Die eigentliche Ursache der Erstarrung ist also wesentlich moralischer Natur.
Nicht bloß ein zu hoch gemessenes Maß von Pietät gegen das alte und her¬
gebrachte trügt daran Schuld; und somit kann eine zu engherzige Auffassung
der Religion diesen Einfluß haben; nicht die Religion an sich, aber die spe¬
zifische Kirche, die zu ihrer Erhaltung auf der Uncmtastvarkcit gewisser Dogmen
bestehen muß und dadurch leicht die Bekenner dazu bringt, sich auch im übrigen
des kritischen Geistes zu begeben. Auch die Erschlaffung des Willens, die
wieder durch sehr verschiedne Umstünde veranlaßt sein kann, tritt hier unter
den das Scholastentum begünstigenden Momenten in den Vordergrund.

Man begegnet oft der Vorstellung, als brauche man nur mit der Fackel
der Vernunft in die Nacht des Mittelalters hineinzuleuchten; daun entfliehe
der Geist des Dogmatismus, des Scholastentums und des Aberglaubens für
immer. Nichts ist falscher als diese Vorstellung, und wenn dem so wäre,
wie könnte dann auf eine Periode von hoher wissenschaftlicher Intelligenz je


Scholastentum

die Wissenschaft von vorn anfangen will, um dann da zu endigen, wo eben
sein Vorgänger auch geendet hat.

Also Autorität ist überall, auch in der Wissenschaft; wir müssen nur ver¬
suchen, das Autoritative vom scholastischen zu scheiden. Das scheint zunächst
schwer, gelingt aber doch schließlich mit wenig Mühe.

Die Kritik muß im Prinzip zugelassen werden für alles und jedes ohne
Ausnahme. Sie muß nicht bloß zugelassen werden, sie muß gelehrt werden
als die Kontrolle des Wissenschaftlicher. Nicht jeder braucht aber alles, womit
er arbeitet, zu kontrollieren. Der eine kontrolliert dies, der andre das. Es
ist damit wie mit der Kontrolle an den Zollbureaus, wo auch nicht jeder
durchgehende Koffer geöffnet wird. Aber weil jeder Reisende prinzipiell der
Kontrolle unterliegen kann, hütet er sich, auch abgesehen von der Ehrlichkeit,
die nicht jedermanns Sache ist, in den meisten Fällen Konterbande mitzu¬
führen. Jene ist ein Damoklesschwert, das jedem über dem Haupte hängt.

Dieses Bild ist vortrefflich, weil es zeigt, daß es sich dabei mehr um
eine moralische als um eine intellektuelle Eigenschaft handelt. Sobald es ein
hochstehender Reisender übelnimmt, daß seine Siebensachen nachgesehen werden
und den Freipaß erzwingt, oder sobald der Weltkluge diesen durch ein Trink¬
geld erreicht, ist es mit der Kontrolle aus, und der Schmuggel beginnt große
Maße anzunehmen.

So auch in der Wissenschaft. Sobald sich das tonangebende Geschlecht,
die Lehrenden, darauf versteifen oder es durch Kunstgriffe dahin zu bringen
wissen, daß diese Kontrolle nicht bloß aufhört, sondern als pietätlos in Verruf
kommt, erstarrt die Wissenschaft in dem Zustande, in dem sie sich zurzeit be¬
findet, ja vielleicht für immer, da mit der Erstarrung das Leben erlischt.
Die Anknüpfungspunkte zu neuem Wachstum gehen so leicht verloren. Hier¬
durch erklärt sich die Tatsache der bleibenden Stagnation in den asiatischen
Reichen.

Die eigentliche Ursache der Erstarrung ist also wesentlich moralischer Natur.
Nicht bloß ein zu hoch gemessenes Maß von Pietät gegen das alte und her¬
gebrachte trügt daran Schuld; und somit kann eine zu engherzige Auffassung
der Religion diesen Einfluß haben; nicht die Religion an sich, aber die spe¬
zifische Kirche, die zu ihrer Erhaltung auf der Uncmtastvarkcit gewisser Dogmen
bestehen muß und dadurch leicht die Bekenner dazu bringt, sich auch im übrigen
des kritischen Geistes zu begeben. Auch die Erschlaffung des Willens, die
wieder durch sehr verschiedne Umstünde veranlaßt sein kann, tritt hier unter
den das Scholastentum begünstigenden Momenten in den Vordergrund.

Man begegnet oft der Vorstellung, als brauche man nur mit der Fackel
der Vernunft in die Nacht des Mittelalters hineinzuleuchten; daun entfliehe
der Geist des Dogmatismus, des Scholastentums und des Aberglaubens für
immer. Nichts ist falscher als diese Vorstellung, und wenn dem so wäre,
wie könnte dann auf eine Periode von hoher wissenschaftlicher Intelligenz je


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[0168] Scholastentum die Wissenschaft von vorn anfangen will, um dann da zu endigen, wo eben sein Vorgänger auch geendet hat. Also Autorität ist überall, auch in der Wissenschaft; wir müssen nur ver¬ suchen, das Autoritative vom scholastischen zu scheiden. Das scheint zunächst schwer, gelingt aber doch schließlich mit wenig Mühe. Die Kritik muß im Prinzip zugelassen werden für alles und jedes ohne Ausnahme. Sie muß nicht bloß zugelassen werden, sie muß gelehrt werden als die Kontrolle des Wissenschaftlicher. Nicht jeder braucht aber alles, womit er arbeitet, zu kontrollieren. Der eine kontrolliert dies, der andre das. Es ist damit wie mit der Kontrolle an den Zollbureaus, wo auch nicht jeder durchgehende Koffer geöffnet wird. Aber weil jeder Reisende prinzipiell der Kontrolle unterliegen kann, hütet er sich, auch abgesehen von der Ehrlichkeit, die nicht jedermanns Sache ist, in den meisten Fällen Konterbande mitzu¬ führen. Jene ist ein Damoklesschwert, das jedem über dem Haupte hängt. Dieses Bild ist vortrefflich, weil es zeigt, daß es sich dabei mehr um eine moralische als um eine intellektuelle Eigenschaft handelt. Sobald es ein hochstehender Reisender übelnimmt, daß seine Siebensachen nachgesehen werden und den Freipaß erzwingt, oder sobald der Weltkluge diesen durch ein Trink¬ geld erreicht, ist es mit der Kontrolle aus, und der Schmuggel beginnt große Maße anzunehmen. So auch in der Wissenschaft. Sobald sich das tonangebende Geschlecht, die Lehrenden, darauf versteifen oder es durch Kunstgriffe dahin zu bringen wissen, daß diese Kontrolle nicht bloß aufhört, sondern als pietätlos in Verruf kommt, erstarrt die Wissenschaft in dem Zustande, in dem sie sich zurzeit be¬ findet, ja vielleicht für immer, da mit der Erstarrung das Leben erlischt. Die Anknüpfungspunkte zu neuem Wachstum gehen so leicht verloren. Hier¬ durch erklärt sich die Tatsache der bleibenden Stagnation in den asiatischen Reichen. Die eigentliche Ursache der Erstarrung ist also wesentlich moralischer Natur. Nicht bloß ein zu hoch gemessenes Maß von Pietät gegen das alte und her¬ gebrachte trügt daran Schuld; und somit kann eine zu engherzige Auffassung der Religion diesen Einfluß haben; nicht die Religion an sich, aber die spe¬ zifische Kirche, die zu ihrer Erhaltung auf der Uncmtastvarkcit gewisser Dogmen bestehen muß und dadurch leicht die Bekenner dazu bringt, sich auch im übrigen des kritischen Geistes zu begeben. Auch die Erschlaffung des Willens, die wieder durch sehr verschiedne Umstünde veranlaßt sein kann, tritt hier unter den das Scholastentum begünstigenden Momenten in den Vordergrund. Man begegnet oft der Vorstellung, als brauche man nur mit der Fackel der Vernunft in die Nacht des Mittelalters hineinzuleuchten; daun entfliehe der Geist des Dogmatismus, des Scholastentums und des Aberglaubens für immer. Nichts ist falscher als diese Vorstellung, und wenn dem so wäre, wie könnte dann auf eine Periode von hoher wissenschaftlicher Intelligenz je

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/168>, abgerufen am 24.07.2024.