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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Meine Jugend "ut die Religion

Unhold, der mich aus der Dämmerung der Kirchen in den Tag begleitet hatte, fand
im Tageslichte Genossen, die mich nicht minder grausam quälten als er.

Am Mainkai in der Nähe eines großen Kraus hatten bei Jahrmärkten die
Karusselle, die Kasperltheater und die Schaubuden ihren Stand. Ich mußte auch
diese Herrlichkeiten sehen und mich ein paarmal durch das Menschengewimmel
mahlen lassen, das sich vor der langen, bunten Wand der Buden und Zelte hin
und her schob. Die Bilder in den Kirchen und die Legende des heiligen Kilian
hatten meine Augen furchtsam und meine Seele krank gemacht. Und nun diese
Bilderwand. Die Morddämonen der Legendenbilder und ihre Opfer, die feurige,
blutige Qual, den bleichen Tod -- alles, was mich in den Kirchen entsetzt hatte,
fand ich hier wieder, uur nicht golden umrahmt, nicht von Blumen gesäumt, nur
aus dem hohen Format der Altarbilder ins Breite, ins endlose Breite gezerrt.
Glut und Blut überall, grellrot und dunkelrot, bläulich bleiche Leichen, braunrote
brutale Henkergestalten, Femschöffen, Ketzer-, Hexenrichter. Bang fragend und roh
beschieden lernte ich damals die Feine und die Folter kennen. Und nun war alles,
was auf diesen entsetzlichen Bildern quälte, würgte, litt und starb, hinter mir her,
nackte, blutende Dämonen und wohlgekleidete in der Gugel, in der Kutte und in
der Halskrause fanden sich zusammen mich zu quälen. Denn die lächerliche Kunst-
losigkeit dieser Bilder bewahrte mich noch nicht gegen den Eindruck der Stoffe.
So brach nun auch die Geschichte wie ein wildes Heer in meine Phantasie und in
mein Leben ein, und kein Eckart war mir nah, mich zu schützen.

Es war ein eignes Mißgeschick, daß auch die Geschichte der Gegenwart in
blutigem Gewände vor mein Auge trat. Als meine Seele so schwer mit Schreck¬
nissen der Vergangenheit zu kämpfen hatte, glomm und entbrannte der Krieg
zwischen Rußland und der Türkei. Telegramme und Kriegsberichte, die ich mit
meiner jungen Lesekunst entzifferte, und der rohe Kommentar zu den Ereignissen,
den ich aus illustrierten Zeitungen niedern Rangs und aus Äußerungen bigotter
Menschen -- nicht meiner Eltern -- über den Kampf zwischen Kreuz und Halb¬
mond aufschnappte, führten nun auch die Gegenwart brandrot und blutrot vor
meine Seele, die sich am Rhein an heiterm Grün und Blau gelabt hatte wie ein
sorgloses Wild auf sichrer Weide.

Besonders zwei Vorstellungen, von denen ich die eine Telegrammen und
Bilderbogen, die andre den Gesprächen Erwachsner entnahm, raubten mir damals
in Verbindung mit dem Grauen, das aus der alten Zeit in meine Seele geschlichen
war, die Ruhe: wie Baschi-Bosuks die christlichen Bewohner bulgarischer und
serbischer Dörfer marterten und töteten, und wie die Türken nach einer alten
Weissagung ihre Rosse im Rhein, im Rhein meiner Kindheit, tränkten. Ich hatte
so gar keine Kraft und Neigung zum Märtyrertum in mir, das war mir immer,
besonders als ich auf einem Bilde den heiligen Vitus als Kind in einem Kessel
siedenden Öls stehen sah, entsetzlich erschienen, und nun rückte das Schreckliche, das die
Frankenapostel Kilian, Kolonat und Totnan erlitten hatten, nach meiner kindlichen
Vorstellung unserm Volke, meinen Eltern und Geschwistern, mir selbst so nah. Mit
der Prophezeiung, die Türken würden noch einmal ihre Rosse im Rhein tränken,
brach das Grauen auch in die stille Insel meiner Jugendjnhre ein, die der Rhein
umfloß. Ich hatte damals natürlich keine klaren geographischen Vorstellungen.
Damit, daß auch der Rhein den Türken erreichbar sein sollte, schien mir jede Rettung
vor den Baschi-Bosuks ausgeschlossen und das Märtyrerlos unvermeidlich. Der
Knabe Vitus in Qualen, die Frankenapostel blutig und tot, die bulgarischen Frauen
und Kinder von Baschi-Bosuks verfolgt, die Baschi-Bosuks an, Rhein -- so kam
das neue Grauen mir nah und näher und schloß mich ein, und ich begriff nicht,


Meine Jugend »ut die Religion

Unhold, der mich aus der Dämmerung der Kirchen in den Tag begleitet hatte, fand
im Tageslichte Genossen, die mich nicht minder grausam quälten als er.

Am Mainkai in der Nähe eines großen Kraus hatten bei Jahrmärkten die
Karusselle, die Kasperltheater und die Schaubuden ihren Stand. Ich mußte auch
diese Herrlichkeiten sehen und mich ein paarmal durch das Menschengewimmel
mahlen lassen, das sich vor der langen, bunten Wand der Buden und Zelte hin
und her schob. Die Bilder in den Kirchen und die Legende des heiligen Kilian
hatten meine Augen furchtsam und meine Seele krank gemacht. Und nun diese
Bilderwand. Die Morddämonen der Legendenbilder und ihre Opfer, die feurige,
blutige Qual, den bleichen Tod — alles, was mich in den Kirchen entsetzt hatte,
fand ich hier wieder, uur nicht golden umrahmt, nicht von Blumen gesäumt, nur
aus dem hohen Format der Altarbilder ins Breite, ins endlose Breite gezerrt.
Glut und Blut überall, grellrot und dunkelrot, bläulich bleiche Leichen, braunrote
brutale Henkergestalten, Femschöffen, Ketzer-, Hexenrichter. Bang fragend und roh
beschieden lernte ich damals die Feine und die Folter kennen. Und nun war alles,
was auf diesen entsetzlichen Bildern quälte, würgte, litt und starb, hinter mir her,
nackte, blutende Dämonen und wohlgekleidete in der Gugel, in der Kutte und in
der Halskrause fanden sich zusammen mich zu quälen. Denn die lächerliche Kunst-
losigkeit dieser Bilder bewahrte mich noch nicht gegen den Eindruck der Stoffe.
So brach nun auch die Geschichte wie ein wildes Heer in meine Phantasie und in
mein Leben ein, und kein Eckart war mir nah, mich zu schützen.

Es war ein eignes Mißgeschick, daß auch die Geschichte der Gegenwart in
blutigem Gewände vor mein Auge trat. Als meine Seele so schwer mit Schreck¬
nissen der Vergangenheit zu kämpfen hatte, glomm und entbrannte der Krieg
zwischen Rußland und der Türkei. Telegramme und Kriegsberichte, die ich mit
meiner jungen Lesekunst entzifferte, und der rohe Kommentar zu den Ereignissen,
den ich aus illustrierten Zeitungen niedern Rangs und aus Äußerungen bigotter
Menschen — nicht meiner Eltern — über den Kampf zwischen Kreuz und Halb¬
mond aufschnappte, führten nun auch die Gegenwart brandrot und blutrot vor
meine Seele, die sich am Rhein an heiterm Grün und Blau gelabt hatte wie ein
sorgloses Wild auf sichrer Weide.

Besonders zwei Vorstellungen, von denen ich die eine Telegrammen und
Bilderbogen, die andre den Gesprächen Erwachsner entnahm, raubten mir damals
in Verbindung mit dem Grauen, das aus der alten Zeit in meine Seele geschlichen
war, die Ruhe: wie Baschi-Bosuks die christlichen Bewohner bulgarischer und
serbischer Dörfer marterten und töteten, und wie die Türken nach einer alten
Weissagung ihre Rosse im Rhein, im Rhein meiner Kindheit, tränkten. Ich hatte
so gar keine Kraft und Neigung zum Märtyrertum in mir, das war mir immer,
besonders als ich auf einem Bilde den heiligen Vitus als Kind in einem Kessel
siedenden Öls stehen sah, entsetzlich erschienen, und nun rückte das Schreckliche, das die
Frankenapostel Kilian, Kolonat und Totnan erlitten hatten, nach meiner kindlichen
Vorstellung unserm Volke, meinen Eltern und Geschwistern, mir selbst so nah. Mit
der Prophezeiung, die Türken würden noch einmal ihre Rosse im Rhein tränken,
brach das Grauen auch in die stille Insel meiner Jugendjnhre ein, die der Rhein
umfloß. Ich hatte damals natürlich keine klaren geographischen Vorstellungen.
Damit, daß auch der Rhein den Türken erreichbar sein sollte, schien mir jede Rettung
vor den Baschi-Bosuks ausgeschlossen und das Märtyrerlos unvermeidlich. Der
Knabe Vitus in Qualen, die Frankenapostel blutig und tot, die bulgarischen Frauen
und Kinder von Baschi-Bosuks verfolgt, die Baschi-Bosuks an, Rhein — so kam
das neue Grauen mir nah und näher und schloß mich ein, und ich begriff nicht,


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[0094] Meine Jugend »ut die Religion Unhold, der mich aus der Dämmerung der Kirchen in den Tag begleitet hatte, fand im Tageslichte Genossen, die mich nicht minder grausam quälten als er. Am Mainkai in der Nähe eines großen Kraus hatten bei Jahrmärkten die Karusselle, die Kasperltheater und die Schaubuden ihren Stand. Ich mußte auch diese Herrlichkeiten sehen und mich ein paarmal durch das Menschengewimmel mahlen lassen, das sich vor der langen, bunten Wand der Buden und Zelte hin und her schob. Die Bilder in den Kirchen und die Legende des heiligen Kilian hatten meine Augen furchtsam und meine Seele krank gemacht. Und nun diese Bilderwand. Die Morddämonen der Legendenbilder und ihre Opfer, die feurige, blutige Qual, den bleichen Tod — alles, was mich in den Kirchen entsetzt hatte, fand ich hier wieder, uur nicht golden umrahmt, nicht von Blumen gesäumt, nur aus dem hohen Format der Altarbilder ins Breite, ins endlose Breite gezerrt. Glut und Blut überall, grellrot und dunkelrot, bläulich bleiche Leichen, braunrote brutale Henkergestalten, Femschöffen, Ketzer-, Hexenrichter. Bang fragend und roh beschieden lernte ich damals die Feine und die Folter kennen. Und nun war alles, was auf diesen entsetzlichen Bildern quälte, würgte, litt und starb, hinter mir her, nackte, blutende Dämonen und wohlgekleidete in der Gugel, in der Kutte und in der Halskrause fanden sich zusammen mich zu quälen. Denn die lächerliche Kunst- losigkeit dieser Bilder bewahrte mich noch nicht gegen den Eindruck der Stoffe. So brach nun auch die Geschichte wie ein wildes Heer in meine Phantasie und in mein Leben ein, und kein Eckart war mir nah, mich zu schützen. Es war ein eignes Mißgeschick, daß auch die Geschichte der Gegenwart in blutigem Gewände vor mein Auge trat. Als meine Seele so schwer mit Schreck¬ nissen der Vergangenheit zu kämpfen hatte, glomm und entbrannte der Krieg zwischen Rußland und der Türkei. Telegramme und Kriegsberichte, die ich mit meiner jungen Lesekunst entzifferte, und der rohe Kommentar zu den Ereignissen, den ich aus illustrierten Zeitungen niedern Rangs und aus Äußerungen bigotter Menschen — nicht meiner Eltern — über den Kampf zwischen Kreuz und Halb¬ mond aufschnappte, führten nun auch die Gegenwart brandrot und blutrot vor meine Seele, die sich am Rhein an heiterm Grün und Blau gelabt hatte wie ein sorgloses Wild auf sichrer Weide. Besonders zwei Vorstellungen, von denen ich die eine Telegrammen und Bilderbogen, die andre den Gesprächen Erwachsner entnahm, raubten mir damals in Verbindung mit dem Grauen, das aus der alten Zeit in meine Seele geschlichen war, die Ruhe: wie Baschi-Bosuks die christlichen Bewohner bulgarischer und serbischer Dörfer marterten und töteten, und wie die Türken nach einer alten Weissagung ihre Rosse im Rhein, im Rhein meiner Kindheit, tränkten. Ich hatte so gar keine Kraft und Neigung zum Märtyrertum in mir, das war mir immer, besonders als ich auf einem Bilde den heiligen Vitus als Kind in einem Kessel siedenden Öls stehen sah, entsetzlich erschienen, und nun rückte das Schreckliche, das die Frankenapostel Kilian, Kolonat und Totnan erlitten hatten, nach meiner kindlichen Vorstellung unserm Volke, meinen Eltern und Geschwistern, mir selbst so nah. Mit der Prophezeiung, die Türken würden noch einmal ihre Rosse im Rhein tränken, brach das Grauen auch in die stille Insel meiner Jugendjnhre ein, die der Rhein umfloß. Ich hatte damals natürlich keine klaren geographischen Vorstellungen. Damit, daß auch der Rhein den Türken erreichbar sein sollte, schien mir jede Rettung vor den Baschi-Bosuks ausgeschlossen und das Märtyrerlos unvermeidlich. Der Knabe Vitus in Qualen, die Frankenapostel blutig und tot, die bulgarischen Frauen und Kinder von Baschi-Bosuks verfolgt, die Baschi-Bosuks an, Rhein — so kam das neue Grauen mir nah und näher und schloß mich ein, und ich begriff nicht,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/94>, abgerufen am 24.12.2024.