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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Zur Schicksalsstunde des ehemaligen Königreichs Hannover

des Kopfes deren Entgegennahme bekundete, ein völlig andrer. Ohne daß noch
ein weiteres Wort gewechselt wurde, verbeugte er sich und schritt dnrch die in¬
zwischen geöffnete Tür zu seinem Wagen, um sich, was die Pferde laufen
konnten, nach Herrenhausen zum Könige zu begeben."

Die Ereignisse nahmen nun ihren bekannten schnellen Verlauf. Jedoch
noch zweimal innerhalb der nächsten zehn Tage boten sie der hannoverschen
Staatsleitm.g die Hand, der sich vorbereitenden Katastrophe eine minder harte
Gestaltung, wenn nicht gar eine Abwendung zu geben. Zuerst gelegentlich der
militärischen Operationen zur beabsichtigten Vereinigung der Armee mit den
Bayern. Bei einheitlicher Leitung eines energisch, konsequent und schnell durch¬
geführten Vormarsches wäre es trotz aller innern Schwierigkeiten zweifellos
gelungen, bei Eisenach durchzubrechen, sich den Weg nach Süden zu bahnen.
Die Folgen konnten unberechenbar sein. Daß es nicht gelang, lag an den
durch Entschlußlosigkeit und allerhand Nebenabsichten hervorgerufnen Kreuz-
und Querzügen dieses kurzen Feldzuges, als natürlicher Fortsetzung der voran¬
gegangnen in gleich verfehlter Weise geführten diplomatischen Aktion. Das
andremal hätte eine Kapitulation noch am Abend des 26. Juni dem Kampfe
am 27. vorbeugen und bei der in jenen Tagen noch durchaus versöhnlichen
Gesinnung König Wilhelms die staatliche Existenz Hannovers wahrscheinlich
noch retten können. Das hat König Georg von sich gewiesen. Tapfern Sinnes,
wie der Welfe war, zog er den Kampf einer unrühmlichen Waffenstreckung
vor. Das tat er getreu seinem bisherigen Verhalten und getreu vor allem
seiner Eigenart, der er sich weder begeben konnte noch wollte. Und noch
aus andern, Grunde. Schon längst des Sehvermögens beraubt, sah er sich
nur auf die Augen andrer und deren Befähigung oder guten Willen ange¬
wiesen, Personen, Dinge, Geschehnisse zu beurteilen. Damit war ihm das Ver¬
ständnis für die Wirklichkeit notwendig verloren gegangen. Befangen zudem in
mystisch-phantastischen Vorstellungen seiner Würde und Hoheit, zeigte er sich
von der unbedingten Unverletzlichkeit seiner Souveränität, seinem unveräußer¬
lichen Rechte und nicht zum wenigsten von der hohen Bestimmung seiner
Dynastie so felsenfest überzeugt wie von der Wahrheit des Evangeliums. An
alledem hielt er hartnäckig fest, und so ist es auch erklärlich, daß sich sein
ganzer Stolz aufbäumte bei dem Gedanken, sich der Suprematie des empor-
gekommnen Nachbarstaates unterwerfen zu sollen. Wenn er darüber Krone,
Land und Heimat verlor, wer wollte ob seines überzeugungsvollen Tuns un¬
billig mit ihm rechten! "Denn, so sagt Friedjung über ihn, des Menschen
Natur ist stärker als alle Gründe, oft stärker als selbst der augenscheinliche
Vorteil. Wer sich selbst getreu untergeht, dem kann menschliche Teilnahme
nicht versagt werden." Auch nicht einer treuen, seiner Dynastie anhänglichen
Bevölkerung. Aber sie schließt doch auch die Überzeugung nicht aus, daß im
Interesse der Zukunft des Deutschen Reiches und Volkes die eisernen Würfel
des Jahres 1866 nicht anders fallen konnten. Denn da, wo Volks- und
nationale Interessen den Ausschlag geben, ist es unwesentlich, ob der gewaltsame


Grenzboten III 1909
Zur Schicksalsstunde des ehemaligen Königreichs Hannover

des Kopfes deren Entgegennahme bekundete, ein völlig andrer. Ohne daß noch
ein weiteres Wort gewechselt wurde, verbeugte er sich und schritt dnrch die in¬
zwischen geöffnete Tür zu seinem Wagen, um sich, was die Pferde laufen
konnten, nach Herrenhausen zum Könige zu begeben."

Die Ereignisse nahmen nun ihren bekannten schnellen Verlauf. Jedoch
noch zweimal innerhalb der nächsten zehn Tage boten sie der hannoverschen
Staatsleitm.g die Hand, der sich vorbereitenden Katastrophe eine minder harte
Gestaltung, wenn nicht gar eine Abwendung zu geben. Zuerst gelegentlich der
militärischen Operationen zur beabsichtigten Vereinigung der Armee mit den
Bayern. Bei einheitlicher Leitung eines energisch, konsequent und schnell durch¬
geführten Vormarsches wäre es trotz aller innern Schwierigkeiten zweifellos
gelungen, bei Eisenach durchzubrechen, sich den Weg nach Süden zu bahnen.
Die Folgen konnten unberechenbar sein. Daß es nicht gelang, lag an den
durch Entschlußlosigkeit und allerhand Nebenabsichten hervorgerufnen Kreuz-
und Querzügen dieses kurzen Feldzuges, als natürlicher Fortsetzung der voran¬
gegangnen in gleich verfehlter Weise geführten diplomatischen Aktion. Das
andremal hätte eine Kapitulation noch am Abend des 26. Juni dem Kampfe
am 27. vorbeugen und bei der in jenen Tagen noch durchaus versöhnlichen
Gesinnung König Wilhelms die staatliche Existenz Hannovers wahrscheinlich
noch retten können. Das hat König Georg von sich gewiesen. Tapfern Sinnes,
wie der Welfe war, zog er den Kampf einer unrühmlichen Waffenstreckung
vor. Das tat er getreu seinem bisherigen Verhalten und getreu vor allem
seiner Eigenart, der er sich weder begeben konnte noch wollte. Und noch
aus andern, Grunde. Schon längst des Sehvermögens beraubt, sah er sich
nur auf die Augen andrer und deren Befähigung oder guten Willen ange¬
wiesen, Personen, Dinge, Geschehnisse zu beurteilen. Damit war ihm das Ver¬
ständnis für die Wirklichkeit notwendig verloren gegangen. Befangen zudem in
mystisch-phantastischen Vorstellungen seiner Würde und Hoheit, zeigte er sich
von der unbedingten Unverletzlichkeit seiner Souveränität, seinem unveräußer¬
lichen Rechte und nicht zum wenigsten von der hohen Bestimmung seiner
Dynastie so felsenfest überzeugt wie von der Wahrheit des Evangeliums. An
alledem hielt er hartnäckig fest, und so ist es auch erklärlich, daß sich sein
ganzer Stolz aufbäumte bei dem Gedanken, sich der Suprematie des empor-
gekommnen Nachbarstaates unterwerfen zu sollen. Wenn er darüber Krone,
Land und Heimat verlor, wer wollte ob seines überzeugungsvollen Tuns un¬
billig mit ihm rechten! „Denn, so sagt Friedjung über ihn, des Menschen
Natur ist stärker als alle Gründe, oft stärker als selbst der augenscheinliche
Vorteil. Wer sich selbst getreu untergeht, dem kann menschliche Teilnahme
nicht versagt werden." Auch nicht einer treuen, seiner Dynastie anhänglichen
Bevölkerung. Aber sie schließt doch auch die Überzeugung nicht aus, daß im
Interesse der Zukunft des Deutschen Reiches und Volkes die eisernen Würfel
des Jahres 1866 nicht anders fallen konnten. Denn da, wo Volks- und
nationale Interessen den Ausschlag geben, ist es unwesentlich, ob der gewaltsame


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[0085] Zur Schicksalsstunde des ehemaligen Königreichs Hannover des Kopfes deren Entgegennahme bekundete, ein völlig andrer. Ohne daß noch ein weiteres Wort gewechselt wurde, verbeugte er sich und schritt dnrch die in¬ zwischen geöffnete Tür zu seinem Wagen, um sich, was die Pferde laufen konnten, nach Herrenhausen zum Könige zu begeben." Die Ereignisse nahmen nun ihren bekannten schnellen Verlauf. Jedoch noch zweimal innerhalb der nächsten zehn Tage boten sie der hannoverschen Staatsleitm.g die Hand, der sich vorbereitenden Katastrophe eine minder harte Gestaltung, wenn nicht gar eine Abwendung zu geben. Zuerst gelegentlich der militärischen Operationen zur beabsichtigten Vereinigung der Armee mit den Bayern. Bei einheitlicher Leitung eines energisch, konsequent und schnell durch¬ geführten Vormarsches wäre es trotz aller innern Schwierigkeiten zweifellos gelungen, bei Eisenach durchzubrechen, sich den Weg nach Süden zu bahnen. Die Folgen konnten unberechenbar sein. Daß es nicht gelang, lag an den durch Entschlußlosigkeit und allerhand Nebenabsichten hervorgerufnen Kreuz- und Querzügen dieses kurzen Feldzuges, als natürlicher Fortsetzung der voran¬ gegangnen in gleich verfehlter Weise geführten diplomatischen Aktion. Das andremal hätte eine Kapitulation noch am Abend des 26. Juni dem Kampfe am 27. vorbeugen und bei der in jenen Tagen noch durchaus versöhnlichen Gesinnung König Wilhelms die staatliche Existenz Hannovers wahrscheinlich noch retten können. Das hat König Georg von sich gewiesen. Tapfern Sinnes, wie der Welfe war, zog er den Kampf einer unrühmlichen Waffenstreckung vor. Das tat er getreu seinem bisherigen Verhalten und getreu vor allem seiner Eigenart, der er sich weder begeben konnte noch wollte. Und noch aus andern, Grunde. Schon längst des Sehvermögens beraubt, sah er sich nur auf die Augen andrer und deren Befähigung oder guten Willen ange¬ wiesen, Personen, Dinge, Geschehnisse zu beurteilen. Damit war ihm das Ver¬ ständnis für die Wirklichkeit notwendig verloren gegangen. Befangen zudem in mystisch-phantastischen Vorstellungen seiner Würde und Hoheit, zeigte er sich von der unbedingten Unverletzlichkeit seiner Souveränität, seinem unveräußer¬ lichen Rechte und nicht zum wenigsten von der hohen Bestimmung seiner Dynastie so felsenfest überzeugt wie von der Wahrheit des Evangeliums. An alledem hielt er hartnäckig fest, und so ist es auch erklärlich, daß sich sein ganzer Stolz aufbäumte bei dem Gedanken, sich der Suprematie des empor- gekommnen Nachbarstaates unterwerfen zu sollen. Wenn er darüber Krone, Land und Heimat verlor, wer wollte ob seines überzeugungsvollen Tuns un¬ billig mit ihm rechten! „Denn, so sagt Friedjung über ihn, des Menschen Natur ist stärker als alle Gründe, oft stärker als selbst der augenscheinliche Vorteil. Wer sich selbst getreu untergeht, dem kann menschliche Teilnahme nicht versagt werden." Auch nicht einer treuen, seiner Dynastie anhänglichen Bevölkerung. Aber sie schließt doch auch die Überzeugung nicht aus, daß im Interesse der Zukunft des Deutschen Reiches und Volkes die eisernen Würfel des Jahres 1866 nicht anders fallen konnten. Denn da, wo Volks- und nationale Interessen den Ausschlag geben, ist es unwesentlich, ob der gewaltsame Grenzboten III 1909

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/85>, abgerufen am 23.12.2024.