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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Der englische Staat von heute

Mache geleitet und war deshalb, wie Macaulay schreibt, zügellos: verletzte alle
Rechte und machte sich so verhaßt, daß das Volk froh war, vor der Tyrannei
seiner erwählten Vertreter Zuflucht zu finden unter dem Schutze des Thrones
und der erblichen Aristokratie. Als sich dann der Brauch herausbildete, die
Kabinettsmitglieder aus der Mehrheit des Unterhauses zu wählen, erlangten
die Minister, als Führer der Mehrheit, eine gewisse Disziplinargewalt, während
sie selbst zugleich, weil von dem Wahlausfall abhängig, unter die Kontrolle der
Nation gerieten. Aber die Unbotmäßig keit einzelner Parlamentsmitglieder und
ganzer Gruppen blieb ein bestündiges Hemmnis der Geschäftsführung und nötigte
zu einer starken Einschränkung der Rechte der Mitglieder. Theoretisch, schreibt
Low, besitzt ja das Unterhaus noch das Recht, selbst Gesetzentwürfe einzubringen
und Gesetzentwürfe der Regierung zu verändern oder zu verwerfen, und diese
Rechte werden noch oft, bald in klagendem Tone, bald mit Erbitterung verteidigt,
aber praktisch sind diese Rechte kaum noch vorhanden. Sie werden vereitelt
durch Formalitäten, die dazu dienen, Antrüge und Beschlüsse als geschüfts-
ordnungswidrig unwirksam zu machen. Die strenge Zeiteinteilung sodann, die
den Regierungsvorlagen den größten Teil der Zeit sichert, den Anträgen der
"privaten" Mitglieder, das heißt derer, die nicht Minister sind, nur wenig
übrig läßt, und die planmäßig zur Abkürzung unliebsamer Debatten gehand-
habte parlamentarische Guillotine, die Closure, bringen die Mitglieder um allen
Einfluß. Ihre Anträge sind Demonstrationen ohne Wirkung, Resolutionen des
Hauses werden von der Regierung ignoriert. Jahr für Jahr wurde der Gesetz¬
entwurf eingebracht, nach dem die Ehe mit der Schwester der verstorbnen Frau
giltig sein sollte. Im Jahre 1902 fand der Antrag eine Zweidrittelmehrheit.
Aber die Negierung machte ihn nicht zu dem ihrigen, und die Abstimmung blieb
ohne Wirkung. Sie bedeutete nicht mehr als die Annahme einer beliebigen
Resolution in irgendeiner Volksversammlung. De Lolme hat gesagt: das
Unterhaus könne alles, nur nicht aus einem Weibe einen Mann oder aus einem
Manne ein Weib machen. In Wirklichkeit kann es nicht einmal ein Gesetz auf¬
heben, das von der Mehrheit des Volkes für unvernünftig und schädlich ge¬
halten wird. Der Sieg bei jener Abstimmung "war eine die Agitation för¬
dernde Reklame; aber das war alles. Sie zeigt auf das deutlichste, daß die
Legislativgewalt von dem Hause als Ganzem auf sein Exekutivkomitee über¬
gegangen ist." Die hergebrachte Redensart, das Unterhaus mache die Gesetze,
entspricht dem heutigen tatsächlichen Zustande so wenig mehr wie die in der
Theorie giltige Formel: jedes Statut werde vom Könige erlassen auf den Rat
und mit der Zustimmung des Parlaments. Tatsächlich werden neue Gesetze
vom Ministerium! mit der Billigung der Majorität und unter dem heftigen
Widerspruch der Minorität gemacht. Die Krone hat mit der Sache gar nichts,
das Oberhaus sehr wenig zu tun; es hat die Macht, die aber in Fällen von
wirklicher Bedeutung nur selten ausgeübt wird, das Inkrafttreten der vorge¬
schlagnen Maßnahmen aufzuschieben. Die Opposition protestiert in jedem
Stadium energisch, aber vergebens, dagegen, und die Parteigänger des


Der englische Staat von heute

Mache geleitet und war deshalb, wie Macaulay schreibt, zügellos: verletzte alle
Rechte und machte sich so verhaßt, daß das Volk froh war, vor der Tyrannei
seiner erwählten Vertreter Zuflucht zu finden unter dem Schutze des Thrones
und der erblichen Aristokratie. Als sich dann der Brauch herausbildete, die
Kabinettsmitglieder aus der Mehrheit des Unterhauses zu wählen, erlangten
die Minister, als Führer der Mehrheit, eine gewisse Disziplinargewalt, während
sie selbst zugleich, weil von dem Wahlausfall abhängig, unter die Kontrolle der
Nation gerieten. Aber die Unbotmäßig keit einzelner Parlamentsmitglieder und
ganzer Gruppen blieb ein bestündiges Hemmnis der Geschäftsführung und nötigte
zu einer starken Einschränkung der Rechte der Mitglieder. Theoretisch, schreibt
Low, besitzt ja das Unterhaus noch das Recht, selbst Gesetzentwürfe einzubringen
und Gesetzentwürfe der Regierung zu verändern oder zu verwerfen, und diese
Rechte werden noch oft, bald in klagendem Tone, bald mit Erbitterung verteidigt,
aber praktisch sind diese Rechte kaum noch vorhanden. Sie werden vereitelt
durch Formalitäten, die dazu dienen, Antrüge und Beschlüsse als geschüfts-
ordnungswidrig unwirksam zu machen. Die strenge Zeiteinteilung sodann, die
den Regierungsvorlagen den größten Teil der Zeit sichert, den Anträgen der
„privaten" Mitglieder, das heißt derer, die nicht Minister sind, nur wenig
übrig läßt, und die planmäßig zur Abkürzung unliebsamer Debatten gehand-
habte parlamentarische Guillotine, die Closure, bringen die Mitglieder um allen
Einfluß. Ihre Anträge sind Demonstrationen ohne Wirkung, Resolutionen des
Hauses werden von der Regierung ignoriert. Jahr für Jahr wurde der Gesetz¬
entwurf eingebracht, nach dem die Ehe mit der Schwester der verstorbnen Frau
giltig sein sollte. Im Jahre 1902 fand der Antrag eine Zweidrittelmehrheit.
Aber die Negierung machte ihn nicht zu dem ihrigen, und die Abstimmung blieb
ohne Wirkung. Sie bedeutete nicht mehr als die Annahme einer beliebigen
Resolution in irgendeiner Volksversammlung. De Lolme hat gesagt: das
Unterhaus könne alles, nur nicht aus einem Weibe einen Mann oder aus einem
Manne ein Weib machen. In Wirklichkeit kann es nicht einmal ein Gesetz auf¬
heben, das von der Mehrheit des Volkes für unvernünftig und schädlich ge¬
halten wird. Der Sieg bei jener Abstimmung „war eine die Agitation för¬
dernde Reklame; aber das war alles. Sie zeigt auf das deutlichste, daß die
Legislativgewalt von dem Hause als Ganzem auf sein Exekutivkomitee über¬
gegangen ist." Die hergebrachte Redensart, das Unterhaus mache die Gesetze,
entspricht dem heutigen tatsächlichen Zustande so wenig mehr wie die in der
Theorie giltige Formel: jedes Statut werde vom Könige erlassen auf den Rat
und mit der Zustimmung des Parlaments. Tatsächlich werden neue Gesetze
vom Ministerium! mit der Billigung der Majorität und unter dem heftigen
Widerspruch der Minorität gemacht. Die Krone hat mit der Sache gar nichts,
das Oberhaus sehr wenig zu tun; es hat die Macht, die aber in Fällen von
wirklicher Bedeutung nur selten ausgeübt wird, das Inkrafttreten der vorge¬
schlagnen Maßnahmen aufzuschieben. Die Opposition protestiert in jedem
Stadium energisch, aber vergebens, dagegen, und die Parteigänger des


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[0074] Der englische Staat von heute Mache geleitet und war deshalb, wie Macaulay schreibt, zügellos: verletzte alle Rechte und machte sich so verhaßt, daß das Volk froh war, vor der Tyrannei seiner erwählten Vertreter Zuflucht zu finden unter dem Schutze des Thrones und der erblichen Aristokratie. Als sich dann der Brauch herausbildete, die Kabinettsmitglieder aus der Mehrheit des Unterhauses zu wählen, erlangten die Minister, als Führer der Mehrheit, eine gewisse Disziplinargewalt, während sie selbst zugleich, weil von dem Wahlausfall abhängig, unter die Kontrolle der Nation gerieten. Aber die Unbotmäßig keit einzelner Parlamentsmitglieder und ganzer Gruppen blieb ein bestündiges Hemmnis der Geschäftsführung und nötigte zu einer starken Einschränkung der Rechte der Mitglieder. Theoretisch, schreibt Low, besitzt ja das Unterhaus noch das Recht, selbst Gesetzentwürfe einzubringen und Gesetzentwürfe der Regierung zu verändern oder zu verwerfen, und diese Rechte werden noch oft, bald in klagendem Tone, bald mit Erbitterung verteidigt, aber praktisch sind diese Rechte kaum noch vorhanden. Sie werden vereitelt durch Formalitäten, die dazu dienen, Antrüge und Beschlüsse als geschüfts- ordnungswidrig unwirksam zu machen. Die strenge Zeiteinteilung sodann, die den Regierungsvorlagen den größten Teil der Zeit sichert, den Anträgen der „privaten" Mitglieder, das heißt derer, die nicht Minister sind, nur wenig übrig läßt, und die planmäßig zur Abkürzung unliebsamer Debatten gehand- habte parlamentarische Guillotine, die Closure, bringen die Mitglieder um allen Einfluß. Ihre Anträge sind Demonstrationen ohne Wirkung, Resolutionen des Hauses werden von der Regierung ignoriert. Jahr für Jahr wurde der Gesetz¬ entwurf eingebracht, nach dem die Ehe mit der Schwester der verstorbnen Frau giltig sein sollte. Im Jahre 1902 fand der Antrag eine Zweidrittelmehrheit. Aber die Negierung machte ihn nicht zu dem ihrigen, und die Abstimmung blieb ohne Wirkung. Sie bedeutete nicht mehr als die Annahme einer beliebigen Resolution in irgendeiner Volksversammlung. De Lolme hat gesagt: das Unterhaus könne alles, nur nicht aus einem Weibe einen Mann oder aus einem Manne ein Weib machen. In Wirklichkeit kann es nicht einmal ein Gesetz auf¬ heben, das von der Mehrheit des Volkes für unvernünftig und schädlich ge¬ halten wird. Der Sieg bei jener Abstimmung „war eine die Agitation för¬ dernde Reklame; aber das war alles. Sie zeigt auf das deutlichste, daß die Legislativgewalt von dem Hause als Ganzem auf sein Exekutivkomitee über¬ gegangen ist." Die hergebrachte Redensart, das Unterhaus mache die Gesetze, entspricht dem heutigen tatsächlichen Zustande so wenig mehr wie die in der Theorie giltige Formel: jedes Statut werde vom Könige erlassen auf den Rat und mit der Zustimmung des Parlaments. Tatsächlich werden neue Gesetze vom Ministerium! mit der Billigung der Majorität und unter dem heftigen Widerspruch der Minorität gemacht. Die Krone hat mit der Sache gar nichts, das Oberhaus sehr wenig zu tun; es hat die Macht, die aber in Fällen von wirklicher Bedeutung nur selten ausgeübt wird, das Inkrafttreten der vorge¬ schlagnen Maßnahmen aufzuschieben. Die Opposition protestiert in jedem Stadium energisch, aber vergebens, dagegen, und die Parteigänger des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/74>, abgerufen am 23.07.2024.