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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Der englische Staat von heute

wichtigsten Angelegenheiten werden in undurchdringlichem Dunkel entschieden. Die
Beratungen verlaufen ganz formlos. Dieses Komitee hat keinen gewählten Vor¬
sitzenden, keinen Sekretär, keine Statuten, keinen bestimmten Versammlungsort,
keine feststehende Versammlungszeit, kein Siegel, kein Briefpapier und kein Geld,
Briefpapier zu kaufen und einen Boten zu bezahlen. Die gedruckte Einladung zu
den formlosen Sitzungen trägt keine Unterschrift; sie geht vom Ersten Lord des
Schatzamts aus und besagt, daß sich "die Diener Seiner Majestät", im Aus¬
wärtigen Amt oder Ur. 10 Downing Street zu der und der Zeit versammeln
werden. Die Leitung -- von Vorsitz kann nicht wohl die Rede sein -- hat
der Premierminister in der Hand, der zur Sprache bringt, was ihm beliebt.
Die Beratung wird im Tone einer zwanglosen Unterhaltung gepflogen. Es
gibt kein Protokoll, keine Akten. Während der Sitzung Notizen zu machen, ist
nicht gestattet. Algernon West erzählt, daß er als Privatsekretür des Premiers
nach der Sitzung alle beschriebnen Papiere, die etwa im Beratungszimmer
liegen geblieben waren, zu sammeln und zu vernichten Pflegte; er habe aber
selten etwas gefunden, weil es gegen die Etikette verstößt, in der Sitzung zu
schreiben. "Vom Premierminister wird erwartet, daß er dem Souverän einen
schriftlichen Bericht über das Ergebnis der Sitzung übersendet; sonst wird
an niemand berichtet. Mag eine Kohorte von Zeitungsreportern in Downing
Street warten -- sie erfahren nichts." In sehr seltnen Fällen wird auf Be¬
schluß der Mitglieder und mit Erlaubnis des Souveräns ein Sitzungsergebnis
bekannt gemacht, so der Rücktritt von Chamberlain, Ritchie, Hamilton und
Balfour im September 1903. Dieser Fall wirft ein Licht auf die Formlosigkeit
der Verhandlungen, denn aus der nachträglichen Erklärung mehrerer Mitglieder
geht hervor, daß sie von der Hauptsache in der Sitzung fast gar nichts erfahren
haben, im Stimmengewirr der zwanglosen Unterhaltung ist sie ihnen entgangen.
Nur durch diese Heimlichkeit wird die Parteiregierung ermöglicht. Wenn, wie
ehedem, der König den Vorsitz führte (was er as Mo auch heute noch darf),
und wenn Protokollführer wenigstens eine beschränkte Öffentlichkeit sicherten,
müßten die politischen Fragen rein sachlich erörtert werden, und es wäre ganz
unmöglich, daß einer der Ri^ut Houvuradlös etwa sagte: nein, diese Steuer
dürfen wir nicht vorschlagen, da verlieren wir die Stimmen der Bierbrauer oder
der Kneipwirte oder was sonst für Gewerbetreibende betroffen sein mögen. Im
Geheimkomitee können solche Argumente entscheiden. Geschaffen ist dieses Geheim¬
komitee durch den Zufall, daß Georg I. kein Englisch verstand, demnach an den
Beratungen der Minister nicht teilnehmen konnte. Seitdem sind die Herren
unter sich geblieben.' (Übrigens regiert nicht das ganze, aus 16 bis 20 Mit¬
gliedern bestehende Kabinett, sondern nur "der innere Ring", der seine besondre
Heimlichkeiten hat, und dessen Mitglieder sich, wie es scheint, aus einer kleinen
Gruppe mächtiger^ Familien rekrutieren.) Ein andrer Zufall stiftete die Ver¬
bindung zwischen Kabinett und Parlamentsmehrheit. In der Zeit der heftigen
Kämpfe zwischen König und Parlament galt es als Regel, daß kein Beamter
im Unterhause sitzen dürfe. Später wurde es Brauch, daß keiner Minister


Der englische Staat von heute

wichtigsten Angelegenheiten werden in undurchdringlichem Dunkel entschieden. Die
Beratungen verlaufen ganz formlos. Dieses Komitee hat keinen gewählten Vor¬
sitzenden, keinen Sekretär, keine Statuten, keinen bestimmten Versammlungsort,
keine feststehende Versammlungszeit, kein Siegel, kein Briefpapier und kein Geld,
Briefpapier zu kaufen und einen Boten zu bezahlen. Die gedruckte Einladung zu
den formlosen Sitzungen trägt keine Unterschrift; sie geht vom Ersten Lord des
Schatzamts aus und besagt, daß sich „die Diener Seiner Majestät", im Aus¬
wärtigen Amt oder Ur. 10 Downing Street zu der und der Zeit versammeln
werden. Die Leitung — von Vorsitz kann nicht wohl die Rede sein — hat
der Premierminister in der Hand, der zur Sprache bringt, was ihm beliebt.
Die Beratung wird im Tone einer zwanglosen Unterhaltung gepflogen. Es
gibt kein Protokoll, keine Akten. Während der Sitzung Notizen zu machen, ist
nicht gestattet. Algernon West erzählt, daß er als Privatsekretür des Premiers
nach der Sitzung alle beschriebnen Papiere, die etwa im Beratungszimmer
liegen geblieben waren, zu sammeln und zu vernichten Pflegte; er habe aber
selten etwas gefunden, weil es gegen die Etikette verstößt, in der Sitzung zu
schreiben. „Vom Premierminister wird erwartet, daß er dem Souverän einen
schriftlichen Bericht über das Ergebnis der Sitzung übersendet; sonst wird
an niemand berichtet. Mag eine Kohorte von Zeitungsreportern in Downing
Street warten — sie erfahren nichts." In sehr seltnen Fällen wird auf Be¬
schluß der Mitglieder und mit Erlaubnis des Souveräns ein Sitzungsergebnis
bekannt gemacht, so der Rücktritt von Chamberlain, Ritchie, Hamilton und
Balfour im September 1903. Dieser Fall wirft ein Licht auf die Formlosigkeit
der Verhandlungen, denn aus der nachträglichen Erklärung mehrerer Mitglieder
geht hervor, daß sie von der Hauptsache in der Sitzung fast gar nichts erfahren
haben, im Stimmengewirr der zwanglosen Unterhaltung ist sie ihnen entgangen.
Nur durch diese Heimlichkeit wird die Parteiregierung ermöglicht. Wenn, wie
ehedem, der König den Vorsitz führte (was er as Mo auch heute noch darf),
und wenn Protokollführer wenigstens eine beschränkte Öffentlichkeit sicherten,
müßten die politischen Fragen rein sachlich erörtert werden, und es wäre ganz
unmöglich, daß einer der Ri^ut Houvuradlös etwa sagte: nein, diese Steuer
dürfen wir nicht vorschlagen, da verlieren wir die Stimmen der Bierbrauer oder
der Kneipwirte oder was sonst für Gewerbetreibende betroffen sein mögen. Im
Geheimkomitee können solche Argumente entscheiden. Geschaffen ist dieses Geheim¬
komitee durch den Zufall, daß Georg I. kein Englisch verstand, demnach an den
Beratungen der Minister nicht teilnehmen konnte. Seitdem sind die Herren
unter sich geblieben.' (Übrigens regiert nicht das ganze, aus 16 bis 20 Mit¬
gliedern bestehende Kabinett, sondern nur „der innere Ring", der seine besondre
Heimlichkeiten hat, und dessen Mitglieder sich, wie es scheint, aus einer kleinen
Gruppe mächtiger^ Familien rekrutieren.) Ein andrer Zufall stiftete die Ver¬
bindung zwischen Kabinett und Parlamentsmehrheit. In der Zeit der heftigen
Kämpfe zwischen König und Parlament galt es als Regel, daß kein Beamter
im Unterhause sitzen dürfe. Später wurde es Brauch, daß keiner Minister


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[0072] Der englische Staat von heute wichtigsten Angelegenheiten werden in undurchdringlichem Dunkel entschieden. Die Beratungen verlaufen ganz formlos. Dieses Komitee hat keinen gewählten Vor¬ sitzenden, keinen Sekretär, keine Statuten, keinen bestimmten Versammlungsort, keine feststehende Versammlungszeit, kein Siegel, kein Briefpapier und kein Geld, Briefpapier zu kaufen und einen Boten zu bezahlen. Die gedruckte Einladung zu den formlosen Sitzungen trägt keine Unterschrift; sie geht vom Ersten Lord des Schatzamts aus und besagt, daß sich „die Diener Seiner Majestät", im Aus¬ wärtigen Amt oder Ur. 10 Downing Street zu der und der Zeit versammeln werden. Die Leitung — von Vorsitz kann nicht wohl die Rede sein — hat der Premierminister in der Hand, der zur Sprache bringt, was ihm beliebt. Die Beratung wird im Tone einer zwanglosen Unterhaltung gepflogen. Es gibt kein Protokoll, keine Akten. Während der Sitzung Notizen zu machen, ist nicht gestattet. Algernon West erzählt, daß er als Privatsekretür des Premiers nach der Sitzung alle beschriebnen Papiere, die etwa im Beratungszimmer liegen geblieben waren, zu sammeln und zu vernichten Pflegte; er habe aber selten etwas gefunden, weil es gegen die Etikette verstößt, in der Sitzung zu schreiben. „Vom Premierminister wird erwartet, daß er dem Souverän einen schriftlichen Bericht über das Ergebnis der Sitzung übersendet; sonst wird an niemand berichtet. Mag eine Kohorte von Zeitungsreportern in Downing Street warten — sie erfahren nichts." In sehr seltnen Fällen wird auf Be¬ schluß der Mitglieder und mit Erlaubnis des Souveräns ein Sitzungsergebnis bekannt gemacht, so der Rücktritt von Chamberlain, Ritchie, Hamilton und Balfour im September 1903. Dieser Fall wirft ein Licht auf die Formlosigkeit der Verhandlungen, denn aus der nachträglichen Erklärung mehrerer Mitglieder geht hervor, daß sie von der Hauptsache in der Sitzung fast gar nichts erfahren haben, im Stimmengewirr der zwanglosen Unterhaltung ist sie ihnen entgangen. Nur durch diese Heimlichkeit wird die Parteiregierung ermöglicht. Wenn, wie ehedem, der König den Vorsitz führte (was er as Mo auch heute noch darf), und wenn Protokollführer wenigstens eine beschränkte Öffentlichkeit sicherten, müßten die politischen Fragen rein sachlich erörtert werden, und es wäre ganz unmöglich, daß einer der Ri^ut Houvuradlös etwa sagte: nein, diese Steuer dürfen wir nicht vorschlagen, da verlieren wir die Stimmen der Bierbrauer oder der Kneipwirte oder was sonst für Gewerbetreibende betroffen sein mögen. Im Geheimkomitee können solche Argumente entscheiden. Geschaffen ist dieses Geheim¬ komitee durch den Zufall, daß Georg I. kein Englisch verstand, demnach an den Beratungen der Minister nicht teilnehmen konnte. Seitdem sind die Herren unter sich geblieben.' (Übrigens regiert nicht das ganze, aus 16 bis 20 Mit¬ gliedern bestehende Kabinett, sondern nur „der innere Ring", der seine besondre Heimlichkeiten hat, und dessen Mitglieder sich, wie es scheint, aus einer kleinen Gruppe mächtiger^ Familien rekrutieren.) Ein andrer Zufall stiftete die Ver¬ bindung zwischen Kabinett und Parlamentsmehrheit. In der Zeit der heftigen Kämpfe zwischen König und Parlament galt es als Regel, daß kein Beamter im Unterhause sitzen dürfe. Später wurde es Brauch, daß keiner Minister

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/72>, abgerufen am 22.12.2024.