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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Zu Bülows Rücktritt

Auffassung stehenden Parteigruppe empfunden und suchte diesem Übel abzuhelfen,
indem er beim ersten geeigneten Anlaß an die nationale Ader appellierte, die
in dem bunten Milieu, das sich in seinen Blättern selbst liberal nennt, un¬
zweifelhaft vorhanden ist. Im deutschen Volke hatte er sich nicht getäuscht,
aber die Parteiführer vermochten den nationalen Sinn seiner Bestrebungen nicht
zu erkennen oder wenigstens nicht dauernd über ihre Überlieferungen zu stellen.

Die Reichsfinanzreform legte allerdings dem Block eine Belastungsprobe
auf, die seine Parteien nur unter einem mächtigem nationalen Impuls und bei
fehlerloser Führung überstanden hätten. Die Volksstimmung war im Herbst so
günstig, daß unter ihrem Einfluß eigentlich die ganze Steuerreform auch mit
der Nachlaßsteuer vollkommen gesichert erschien, man Hütte nur rasche Arbeit
machen müssen. Das Volk würde sie mit tiefer Achtung vor dem Reichstage
aufgenommen haben. Die in ihrer politischen Zuspitzung gänzlich überflüssigen
Kaiserdebatten änderten zwar nicht die Volksstimmung, aber sie erregten das
Mißtrauen der Blockparteien gegeneinander von neuem in der gefährlichsten
Weise. Die Führung war auf beiden Flügeln mangelhaft und verkannte die
Katastrophe, der man zutrieb, und die nun als Rücktritt des Reichskanzlers von
rechts und links tief bedauert wird und den seit Bismarcks erstem nun aber¬
mals von Bülow aufgenommnen Versuch, eine nationale Mehrheit aus der
Rechten und den zur positiven politischen Bethätigung fähigen Liberalen zu
schaffen, auf längere Zeit, vielleicht für immer, vereitelt hat. Daß sich die
liberalen Führer über den Ernst der Lage getäuscht haben, wird aufmerksame
Beobachter nicht in Verwunderung setzen. Ihr gesamtes Tun seit der letzten
Reichstagswahl beruhte auf einer Reihe von Täuschungen. Im Besitz einer
unerwartet großen Zahl von Mandaten täuschte man sich vollständig über ihren
Ursprung. Schon am Tage nach den Stichwahlen verlangte die Vossische
Zeitung vom Reichskanzler, nun auch "aus dem Aufschwung des Liberalismus
die Nutzanwendung für die praktische Politik zu ziehen". Die Vossische Zeitung
ist nnter der Unzahl in allen liberalen Schattierungen schillernder Blätter doch
eins der ernsthaftesten und sachlichsten Organe, aber auch sie machte den bedeutenden
Zuwachs liberaler Abgeordneter ohne weiteres zu einem Siege des Liberalismus.
Warum war denn dieser Aufschwung früher nicht erfolgt? Einfach, weil es
dazu an den nötigen liberalen Wählern fehlte, und ihre Abgeordneten in der
großen Mehrzahl nur durch die Stichwahlen, weil man sie für das kleinere
Übel hielt, von rechts oder links in den Reichstag gesandt wurden. Diesmal
war es anders gewesen. Auf den Ruf Bülows waren Wähler aller Parteien,
dazu auch sehr viele bisherige NichtWähler, herbeigeeilt und hatten in nationaler
Begeisterung jeden gewählt, der sich für Kaiser und Kanzler bekannte.

Trotzdem hätte die Wahlentscheidung einen Aufschwung des Liberalismus
bringen können, und das lag auch im Plane Bülows. Die mehr oder weniger
vorteilhafte Stellung in einem Parteienbündnis, das der Block doch darstellen
sollte, hängt lediglich von dem Maße des Vertrauens ab, das sich eine Partei


Zu Bülows Rücktritt

Auffassung stehenden Parteigruppe empfunden und suchte diesem Übel abzuhelfen,
indem er beim ersten geeigneten Anlaß an die nationale Ader appellierte, die
in dem bunten Milieu, das sich in seinen Blättern selbst liberal nennt, un¬
zweifelhaft vorhanden ist. Im deutschen Volke hatte er sich nicht getäuscht,
aber die Parteiführer vermochten den nationalen Sinn seiner Bestrebungen nicht
zu erkennen oder wenigstens nicht dauernd über ihre Überlieferungen zu stellen.

Die Reichsfinanzreform legte allerdings dem Block eine Belastungsprobe
auf, die seine Parteien nur unter einem mächtigem nationalen Impuls und bei
fehlerloser Führung überstanden hätten. Die Volksstimmung war im Herbst so
günstig, daß unter ihrem Einfluß eigentlich die ganze Steuerreform auch mit
der Nachlaßsteuer vollkommen gesichert erschien, man Hütte nur rasche Arbeit
machen müssen. Das Volk würde sie mit tiefer Achtung vor dem Reichstage
aufgenommen haben. Die in ihrer politischen Zuspitzung gänzlich überflüssigen
Kaiserdebatten änderten zwar nicht die Volksstimmung, aber sie erregten das
Mißtrauen der Blockparteien gegeneinander von neuem in der gefährlichsten
Weise. Die Führung war auf beiden Flügeln mangelhaft und verkannte die
Katastrophe, der man zutrieb, und die nun als Rücktritt des Reichskanzlers von
rechts und links tief bedauert wird und den seit Bismarcks erstem nun aber¬
mals von Bülow aufgenommnen Versuch, eine nationale Mehrheit aus der
Rechten und den zur positiven politischen Bethätigung fähigen Liberalen zu
schaffen, auf längere Zeit, vielleicht für immer, vereitelt hat. Daß sich die
liberalen Führer über den Ernst der Lage getäuscht haben, wird aufmerksame
Beobachter nicht in Verwunderung setzen. Ihr gesamtes Tun seit der letzten
Reichstagswahl beruhte auf einer Reihe von Täuschungen. Im Besitz einer
unerwartet großen Zahl von Mandaten täuschte man sich vollständig über ihren
Ursprung. Schon am Tage nach den Stichwahlen verlangte die Vossische
Zeitung vom Reichskanzler, nun auch „aus dem Aufschwung des Liberalismus
die Nutzanwendung für die praktische Politik zu ziehen". Die Vossische Zeitung
ist nnter der Unzahl in allen liberalen Schattierungen schillernder Blätter doch
eins der ernsthaftesten und sachlichsten Organe, aber auch sie machte den bedeutenden
Zuwachs liberaler Abgeordneter ohne weiteres zu einem Siege des Liberalismus.
Warum war denn dieser Aufschwung früher nicht erfolgt? Einfach, weil es
dazu an den nötigen liberalen Wählern fehlte, und ihre Abgeordneten in der
großen Mehrzahl nur durch die Stichwahlen, weil man sie für das kleinere
Übel hielt, von rechts oder links in den Reichstag gesandt wurden. Diesmal
war es anders gewesen. Auf den Ruf Bülows waren Wähler aller Parteien,
dazu auch sehr viele bisherige NichtWähler, herbeigeeilt und hatten in nationaler
Begeisterung jeden gewählt, der sich für Kaiser und Kanzler bekannte.

Trotzdem hätte die Wahlentscheidung einen Aufschwung des Liberalismus
bringen können, und das lag auch im Plane Bülows. Die mehr oder weniger
vorteilhafte Stellung in einem Parteienbündnis, das der Block doch darstellen
sollte, hängt lediglich von dem Maße des Vertrauens ab, das sich eine Partei


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[0066] Zu Bülows Rücktritt Auffassung stehenden Parteigruppe empfunden und suchte diesem Übel abzuhelfen, indem er beim ersten geeigneten Anlaß an die nationale Ader appellierte, die in dem bunten Milieu, das sich in seinen Blättern selbst liberal nennt, un¬ zweifelhaft vorhanden ist. Im deutschen Volke hatte er sich nicht getäuscht, aber die Parteiführer vermochten den nationalen Sinn seiner Bestrebungen nicht zu erkennen oder wenigstens nicht dauernd über ihre Überlieferungen zu stellen. Die Reichsfinanzreform legte allerdings dem Block eine Belastungsprobe auf, die seine Parteien nur unter einem mächtigem nationalen Impuls und bei fehlerloser Führung überstanden hätten. Die Volksstimmung war im Herbst so günstig, daß unter ihrem Einfluß eigentlich die ganze Steuerreform auch mit der Nachlaßsteuer vollkommen gesichert erschien, man Hütte nur rasche Arbeit machen müssen. Das Volk würde sie mit tiefer Achtung vor dem Reichstage aufgenommen haben. Die in ihrer politischen Zuspitzung gänzlich überflüssigen Kaiserdebatten änderten zwar nicht die Volksstimmung, aber sie erregten das Mißtrauen der Blockparteien gegeneinander von neuem in der gefährlichsten Weise. Die Führung war auf beiden Flügeln mangelhaft und verkannte die Katastrophe, der man zutrieb, und die nun als Rücktritt des Reichskanzlers von rechts und links tief bedauert wird und den seit Bismarcks erstem nun aber¬ mals von Bülow aufgenommnen Versuch, eine nationale Mehrheit aus der Rechten und den zur positiven politischen Bethätigung fähigen Liberalen zu schaffen, auf längere Zeit, vielleicht für immer, vereitelt hat. Daß sich die liberalen Führer über den Ernst der Lage getäuscht haben, wird aufmerksame Beobachter nicht in Verwunderung setzen. Ihr gesamtes Tun seit der letzten Reichstagswahl beruhte auf einer Reihe von Täuschungen. Im Besitz einer unerwartet großen Zahl von Mandaten täuschte man sich vollständig über ihren Ursprung. Schon am Tage nach den Stichwahlen verlangte die Vossische Zeitung vom Reichskanzler, nun auch „aus dem Aufschwung des Liberalismus die Nutzanwendung für die praktische Politik zu ziehen". Die Vossische Zeitung ist nnter der Unzahl in allen liberalen Schattierungen schillernder Blätter doch eins der ernsthaftesten und sachlichsten Organe, aber auch sie machte den bedeutenden Zuwachs liberaler Abgeordneter ohne weiteres zu einem Siege des Liberalismus. Warum war denn dieser Aufschwung früher nicht erfolgt? Einfach, weil es dazu an den nötigen liberalen Wählern fehlte, und ihre Abgeordneten in der großen Mehrzahl nur durch die Stichwahlen, weil man sie für das kleinere Übel hielt, von rechts oder links in den Reichstag gesandt wurden. Diesmal war es anders gewesen. Auf den Ruf Bülows waren Wähler aller Parteien, dazu auch sehr viele bisherige NichtWähler, herbeigeeilt und hatten in nationaler Begeisterung jeden gewählt, der sich für Kaiser und Kanzler bekannte. Trotzdem hätte die Wahlentscheidung einen Aufschwung des Liberalismus bringen können, und das lag auch im Plane Bülows. Die mehr oder weniger vorteilhafte Stellung in einem Parteienbündnis, das der Block doch darstellen sollte, hängt lediglich von dem Maße des Vertrauens ab, das sich eine Partei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/66>, abgerufen am 23.07.2024.