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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Tiecks Wird etwas sehr kurz abgetan. Über die Romantiker ist während der letzten
Jahrzehnte soviel geschrieben worden; aber ihr hervorragendstes Genie -- Clemens
Brentano, der vielleicht hervorragendste deutsche Lyriker neben Goethe überhaupt --
scheint selbst dem Herausgeber dieser anerkennenswerten Geschichte der neuzeitlichen
Lyrik nicht recht bekannt zu sein. Über Brentanos höchstpersönliche, großzügige
Phantasien wie die Alhambradichtung, wie die religiösen Gedichte darf man nicht
schweigend htnweggehn. Ebensowenig über Achin von Arnims Balladen und legendäre
Dichtungen. Dagegen ist des Verfassers Darlegung der Lyrik der Befreiungs¬
kriege und der Schwaben nur anzuerkennen. Bei Arndt hätte er dessen groß- und
tiefgestimmte spätere Weltanschauungslyrik hervorheben können. Von den Öster¬
reichern hätte Karl Egon Ebert, einer der besten Balladendichter Ästerreichs, eine
besondre Wertschätzung verdient. Platens Lyrik wirkt doch nicht kalt auf jeden,
mir scheint sie vielmehr der künstlerisch einfache, sehr unmittelbar wirkende Aus¬
druck eines starkbewegten Innenlebens zu sein. Die Darstellung der Lyrik Heines
gehört zu den gelungensten Kapiteln, und von hier ab kann man Spieros Aus¬
führungen fast durchweg anerkennen. Ausgezeichnet in diesem Rahmen ist seine
Analyse der politischen Lyrik der Herwegh, Prutz, Dingelstedt; jeden dieser Dichter
charakterisiert er zutreffend. Schwächer sind die Kapitel über Lenau, über die
Droste, eine tiefere Ausfassung von der Lyrik Gottfried Kellers wäre erwünscht.
Sehr gut, ja intim wird "Der Tunnel über der Spree" behandelt -- Kopisch ist mehr
wert, als Spiero meint --, etwas über Gebühr wird Christ. Friedr. Scherenberg
eingeschätzt. Ebenso werden die sogenannten "Münchner Dichter" sehr eingehend
behandelt, die einzelnen Dichter plastisch charakterisiert -- Lingg wird von Spiero
unterschätzt, Hopfen überschätzt. Sehr richtig sind seine Ansichten über die Über¬
gangsdichter Greif, Avenarius, Schoenaich-Carolath und andre. Dagegen kann ich
seinen Ansichten über die modernen Dichter nur in wenigen Punkten beistimme".
Hier ist alles im Flusse, und ich möchte mich einer Antikritik enthalten. Die be¬
treffenden Dichter werden sich zumeist recht sehr über Spieros Charakteristiken und
Einordnungen wundern. Er hat augenscheinlich eine Vorliebe für die ostpreußischen
Dichter. Hofmannsthal und Dehmel sind zum Beispiel recht oberflächlich behandelt;
starke Talente wie Wilhelm v. Scholz, Morgenstern hätten ganz anders gekenn¬
zeichnet werden müssen, und schwächere wie Zweig, Will Vesper und andre be¬
durften kaum der Erwähnung. Doch, wie gesagt, hier könnte ich hundert Einzel¬
heiten hervorheben, über die ich ganz anders denke; ich will aber lieber auch hier
das Bestreben Spieros, objektiv nach Vermögen darzustellen, anerkennen.


Hans Benzmann




Für die Herausgabe verantwortlich Karl Weisser in Leipzig und George Cleinow in Berlin-
Friedencm, Alle Zuschriften an die Redaktion sind nur nach Leipzig, Jnselstraße 20, zu richten.
Verlag von Fr. Will,. Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Tiecks Wird etwas sehr kurz abgetan. Über die Romantiker ist während der letzten
Jahrzehnte soviel geschrieben worden; aber ihr hervorragendstes Genie — Clemens
Brentano, der vielleicht hervorragendste deutsche Lyriker neben Goethe überhaupt —
scheint selbst dem Herausgeber dieser anerkennenswerten Geschichte der neuzeitlichen
Lyrik nicht recht bekannt zu sein. Über Brentanos höchstpersönliche, großzügige
Phantasien wie die Alhambradichtung, wie die religiösen Gedichte darf man nicht
schweigend htnweggehn. Ebensowenig über Achin von Arnims Balladen und legendäre
Dichtungen. Dagegen ist des Verfassers Darlegung der Lyrik der Befreiungs¬
kriege und der Schwaben nur anzuerkennen. Bei Arndt hätte er dessen groß- und
tiefgestimmte spätere Weltanschauungslyrik hervorheben können. Von den Öster¬
reichern hätte Karl Egon Ebert, einer der besten Balladendichter Ästerreichs, eine
besondre Wertschätzung verdient. Platens Lyrik wirkt doch nicht kalt auf jeden,
mir scheint sie vielmehr der künstlerisch einfache, sehr unmittelbar wirkende Aus¬
druck eines starkbewegten Innenlebens zu sein. Die Darstellung der Lyrik Heines
gehört zu den gelungensten Kapiteln, und von hier ab kann man Spieros Aus¬
führungen fast durchweg anerkennen. Ausgezeichnet in diesem Rahmen ist seine
Analyse der politischen Lyrik der Herwegh, Prutz, Dingelstedt; jeden dieser Dichter
charakterisiert er zutreffend. Schwächer sind die Kapitel über Lenau, über die
Droste, eine tiefere Ausfassung von der Lyrik Gottfried Kellers wäre erwünscht.
Sehr gut, ja intim wird „Der Tunnel über der Spree" behandelt — Kopisch ist mehr
wert, als Spiero meint —, etwas über Gebühr wird Christ. Friedr. Scherenberg
eingeschätzt. Ebenso werden die sogenannten „Münchner Dichter" sehr eingehend
behandelt, die einzelnen Dichter plastisch charakterisiert — Lingg wird von Spiero
unterschätzt, Hopfen überschätzt. Sehr richtig sind seine Ansichten über die Über¬
gangsdichter Greif, Avenarius, Schoenaich-Carolath und andre. Dagegen kann ich
seinen Ansichten über die modernen Dichter nur in wenigen Punkten beistimme».
Hier ist alles im Flusse, und ich möchte mich einer Antikritik enthalten. Die be¬
treffenden Dichter werden sich zumeist recht sehr über Spieros Charakteristiken und
Einordnungen wundern. Er hat augenscheinlich eine Vorliebe für die ostpreußischen
Dichter. Hofmannsthal und Dehmel sind zum Beispiel recht oberflächlich behandelt;
starke Talente wie Wilhelm v. Scholz, Morgenstern hätten ganz anders gekenn¬
zeichnet werden müssen, und schwächere wie Zweig, Will Vesper und andre be¬
durften kaum der Erwähnung. Doch, wie gesagt, hier könnte ich hundert Einzel¬
heiten hervorheben, über die ich ganz anders denke; ich will aber lieber auch hier
das Bestreben Spieros, objektiv nach Vermögen darzustellen, anerkennen.


Hans Benzmann




Für die Herausgabe verantwortlich Karl Weisser in Leipzig und George Cleinow in Berlin-
Friedencm, Alle Zuschriften an die Redaktion sind nur nach Leipzig, Jnselstraße 20, zu richten.
Verlag von Fr. Will,. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig
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[0638] Maßgebliches und Unmaßgebliches Tiecks Wird etwas sehr kurz abgetan. Über die Romantiker ist während der letzten Jahrzehnte soviel geschrieben worden; aber ihr hervorragendstes Genie — Clemens Brentano, der vielleicht hervorragendste deutsche Lyriker neben Goethe überhaupt — scheint selbst dem Herausgeber dieser anerkennenswerten Geschichte der neuzeitlichen Lyrik nicht recht bekannt zu sein. Über Brentanos höchstpersönliche, großzügige Phantasien wie die Alhambradichtung, wie die religiösen Gedichte darf man nicht schweigend htnweggehn. Ebensowenig über Achin von Arnims Balladen und legendäre Dichtungen. Dagegen ist des Verfassers Darlegung der Lyrik der Befreiungs¬ kriege und der Schwaben nur anzuerkennen. Bei Arndt hätte er dessen groß- und tiefgestimmte spätere Weltanschauungslyrik hervorheben können. Von den Öster¬ reichern hätte Karl Egon Ebert, einer der besten Balladendichter Ästerreichs, eine besondre Wertschätzung verdient. Platens Lyrik wirkt doch nicht kalt auf jeden, mir scheint sie vielmehr der künstlerisch einfache, sehr unmittelbar wirkende Aus¬ druck eines starkbewegten Innenlebens zu sein. Die Darstellung der Lyrik Heines gehört zu den gelungensten Kapiteln, und von hier ab kann man Spieros Aus¬ führungen fast durchweg anerkennen. Ausgezeichnet in diesem Rahmen ist seine Analyse der politischen Lyrik der Herwegh, Prutz, Dingelstedt; jeden dieser Dichter charakterisiert er zutreffend. Schwächer sind die Kapitel über Lenau, über die Droste, eine tiefere Ausfassung von der Lyrik Gottfried Kellers wäre erwünscht. Sehr gut, ja intim wird „Der Tunnel über der Spree" behandelt — Kopisch ist mehr wert, als Spiero meint —, etwas über Gebühr wird Christ. Friedr. Scherenberg eingeschätzt. Ebenso werden die sogenannten „Münchner Dichter" sehr eingehend behandelt, die einzelnen Dichter plastisch charakterisiert — Lingg wird von Spiero unterschätzt, Hopfen überschätzt. Sehr richtig sind seine Ansichten über die Über¬ gangsdichter Greif, Avenarius, Schoenaich-Carolath und andre. Dagegen kann ich seinen Ansichten über die modernen Dichter nur in wenigen Punkten beistimme». Hier ist alles im Flusse, und ich möchte mich einer Antikritik enthalten. Die be¬ treffenden Dichter werden sich zumeist recht sehr über Spieros Charakteristiken und Einordnungen wundern. Er hat augenscheinlich eine Vorliebe für die ostpreußischen Dichter. Hofmannsthal und Dehmel sind zum Beispiel recht oberflächlich behandelt; starke Talente wie Wilhelm v. Scholz, Morgenstern hätten ganz anders gekenn¬ zeichnet werden müssen, und schwächere wie Zweig, Will Vesper und andre be¬ durften kaum der Erwähnung. Doch, wie gesagt, hier könnte ich hundert Einzel¬ heiten hervorheben, über die ich ganz anders denke; ich will aber lieber auch hier das Bestreben Spieros, objektiv nach Vermögen darzustellen, anerkennen. Hans Benzmann Für die Herausgabe verantwortlich Karl Weisser in Leipzig und George Cleinow in Berlin- Friedencm, Alle Zuschriften an die Redaktion sind nur nach Leipzig, Jnselstraße 20, zu richten. Verlag von Fr. Will,. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/638>, abgerufen am 22.12.2024.