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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Eine Rechtsphilosophie

oft Unschuldige verurteilt worden sein mögen, so habe es doch zur Sicherung
des Gesellschaftsfriedens beigetragen, daß überhaupt ein Urteil erfolgte, die
Untat nicht ungesühnt blieb, und der Glaube an die Zuverlässigkeit des Ordals
sei so stark gewesen, daß sich sogar der unschuldig Verurteilte für schuldig hielt
und wähnte, er sei durch einen bösen Zauber, ohne es zu wissen, zum
Mörder geworden. "Ein solches Opfer des Einzelnen verlangt die Welt¬
geschichte oft: der eherne Schritt der Entwicklung stampft Tausende zu Boden.
Das ist eine furchtbare Erscheinung, die wir im Laufe der Kulturentwicklung
möglichst zu mäßigen und zu mildern haben. Aber wir müssen auch hier den
Gang des göttlichen Waltens einfach hinnehmen im Bewußtsein, daß auf solche
Weise der Fortschritt der Welt sich vollzieht." Als ein Ausläufer des
Ordals ist der Eid nichts andres "als eine Selbstverfluchung in der Erwartung,
daß man dadurch den Fluch der Gottheit auf sich zieht, falls man im Un¬
recht ist", woraus folgt (was Kohler nicht sagt), daß dort, wo der Glaube
an den persönlichen Gott geschwunden ist, der Eid keinen Sinn mehr hat.
Als schlimmste Folge des Gottesurteils bezeichnet der Verfasser die Folter.
Ihr liege der Gedanke zugrunde: wie im Gottesurteil Feuer, Wasser und
Waffen den schuldlosen nicht verletzen, so wird er auch die Marter der Folter
unbeschädigt überstehn. "Als aber diese Idee allmählich zerbrach, blieb die
Folter doch noch übrig als Mittel, um irgendeine Aussage zu erzwingen, die
man nötig zu haben glaubte." Sollte nicht dieser zweite Zweck des greulichen
Instituts der erste und einzige gewesen sein? In Deutschland wenigstens ist
es, soviel ich weiß, ohne Zusammenhang mit dem Ordal und zu einer Zeit,
wo dieses schon außer Brauch gekommen war, im Gefolge des kirchlichen
Jnquisitionsprozesscs und des römischen Rechts eingeschleppt worden. England
hat weder die Inquisition noch das römische Recht angenommen und ist darum
auch von der Folter verschont geblieben; gesetzlich war diese niemals erlaubt,
wenn sie auch tatsächlich manchmal angewandt worden ist wie in den "blutigen
Assisen" unter Jakob dem Zweiten. In der Darstellung des Strafrechts
werden die neuen Theorien entschieden abgelehnt. Wenn die Idee der Ge¬
rechtigkeit ausgeschaltet, der Mensch entweder als ein Naturwesen geschildert
werde, das seinen Trieben zu folgen gezwungen sei, oder als ein Produkt seiner
Umgebung, das für seine Handlungen nicht verantworlich gemacht werden könne,
so gebe es eben kein Strafrecht mehr. Der neuen Schule solle jedoch nicht
jedes Verdienst abgesprochen werden. Sie habe die Aufmerksamkeit auf Dinge
gelenkt, die früher zu wenig beachtet worden seien. Es sei richtig, daß man
durch Veränderung des Milieus, durch Fürsorgeerziehung, durch Sozialreform
viele Ursachen des Verbrechens beseitigen könne, daß es mit der Bestrafung
nicht abgetan sei, daß man sowohl auf die Besserung des Verbrechers wie auf
den Schutz der Gesellschaft bedacht sein müsse, aber Fürsorge für den sittlich Ge¬
fährdeten oder schon Verdorbnen und Schutz der Gesellschaft seien etwas andres
als die Strafjustiz, diese dürfe nicht mit jenen beiden vermischt werden.


Eine Rechtsphilosophie

oft Unschuldige verurteilt worden sein mögen, so habe es doch zur Sicherung
des Gesellschaftsfriedens beigetragen, daß überhaupt ein Urteil erfolgte, die
Untat nicht ungesühnt blieb, und der Glaube an die Zuverlässigkeit des Ordals
sei so stark gewesen, daß sich sogar der unschuldig Verurteilte für schuldig hielt
und wähnte, er sei durch einen bösen Zauber, ohne es zu wissen, zum
Mörder geworden. „Ein solches Opfer des Einzelnen verlangt die Welt¬
geschichte oft: der eherne Schritt der Entwicklung stampft Tausende zu Boden.
Das ist eine furchtbare Erscheinung, die wir im Laufe der Kulturentwicklung
möglichst zu mäßigen und zu mildern haben. Aber wir müssen auch hier den
Gang des göttlichen Waltens einfach hinnehmen im Bewußtsein, daß auf solche
Weise der Fortschritt der Welt sich vollzieht." Als ein Ausläufer des
Ordals ist der Eid nichts andres „als eine Selbstverfluchung in der Erwartung,
daß man dadurch den Fluch der Gottheit auf sich zieht, falls man im Un¬
recht ist", woraus folgt (was Kohler nicht sagt), daß dort, wo der Glaube
an den persönlichen Gott geschwunden ist, der Eid keinen Sinn mehr hat.
Als schlimmste Folge des Gottesurteils bezeichnet der Verfasser die Folter.
Ihr liege der Gedanke zugrunde: wie im Gottesurteil Feuer, Wasser und
Waffen den schuldlosen nicht verletzen, so wird er auch die Marter der Folter
unbeschädigt überstehn. „Als aber diese Idee allmählich zerbrach, blieb die
Folter doch noch übrig als Mittel, um irgendeine Aussage zu erzwingen, die
man nötig zu haben glaubte." Sollte nicht dieser zweite Zweck des greulichen
Instituts der erste und einzige gewesen sein? In Deutschland wenigstens ist
es, soviel ich weiß, ohne Zusammenhang mit dem Ordal und zu einer Zeit,
wo dieses schon außer Brauch gekommen war, im Gefolge des kirchlichen
Jnquisitionsprozesscs und des römischen Rechts eingeschleppt worden. England
hat weder die Inquisition noch das römische Recht angenommen und ist darum
auch von der Folter verschont geblieben; gesetzlich war diese niemals erlaubt,
wenn sie auch tatsächlich manchmal angewandt worden ist wie in den „blutigen
Assisen" unter Jakob dem Zweiten. In der Darstellung des Strafrechts
werden die neuen Theorien entschieden abgelehnt. Wenn die Idee der Ge¬
rechtigkeit ausgeschaltet, der Mensch entweder als ein Naturwesen geschildert
werde, das seinen Trieben zu folgen gezwungen sei, oder als ein Produkt seiner
Umgebung, das für seine Handlungen nicht verantworlich gemacht werden könne,
so gebe es eben kein Strafrecht mehr. Der neuen Schule solle jedoch nicht
jedes Verdienst abgesprochen werden. Sie habe die Aufmerksamkeit auf Dinge
gelenkt, die früher zu wenig beachtet worden seien. Es sei richtig, daß man
durch Veränderung des Milieus, durch Fürsorgeerziehung, durch Sozialreform
viele Ursachen des Verbrechens beseitigen könne, daß es mit der Bestrafung
nicht abgetan sei, daß man sowohl auf die Besserung des Verbrechers wie auf
den Schutz der Gesellschaft bedacht sein müsse, aber Fürsorge für den sittlich Ge¬
fährdeten oder schon Verdorbnen und Schutz der Gesellschaft seien etwas andres
als die Strafjustiz, diese dürfe nicht mit jenen beiden vermischt werden.


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[0611] Eine Rechtsphilosophie oft Unschuldige verurteilt worden sein mögen, so habe es doch zur Sicherung des Gesellschaftsfriedens beigetragen, daß überhaupt ein Urteil erfolgte, die Untat nicht ungesühnt blieb, und der Glaube an die Zuverlässigkeit des Ordals sei so stark gewesen, daß sich sogar der unschuldig Verurteilte für schuldig hielt und wähnte, er sei durch einen bösen Zauber, ohne es zu wissen, zum Mörder geworden. „Ein solches Opfer des Einzelnen verlangt die Welt¬ geschichte oft: der eherne Schritt der Entwicklung stampft Tausende zu Boden. Das ist eine furchtbare Erscheinung, die wir im Laufe der Kulturentwicklung möglichst zu mäßigen und zu mildern haben. Aber wir müssen auch hier den Gang des göttlichen Waltens einfach hinnehmen im Bewußtsein, daß auf solche Weise der Fortschritt der Welt sich vollzieht." Als ein Ausläufer des Ordals ist der Eid nichts andres „als eine Selbstverfluchung in der Erwartung, daß man dadurch den Fluch der Gottheit auf sich zieht, falls man im Un¬ recht ist", woraus folgt (was Kohler nicht sagt), daß dort, wo der Glaube an den persönlichen Gott geschwunden ist, der Eid keinen Sinn mehr hat. Als schlimmste Folge des Gottesurteils bezeichnet der Verfasser die Folter. Ihr liege der Gedanke zugrunde: wie im Gottesurteil Feuer, Wasser und Waffen den schuldlosen nicht verletzen, so wird er auch die Marter der Folter unbeschädigt überstehn. „Als aber diese Idee allmählich zerbrach, blieb die Folter doch noch übrig als Mittel, um irgendeine Aussage zu erzwingen, die man nötig zu haben glaubte." Sollte nicht dieser zweite Zweck des greulichen Instituts der erste und einzige gewesen sein? In Deutschland wenigstens ist es, soviel ich weiß, ohne Zusammenhang mit dem Ordal und zu einer Zeit, wo dieses schon außer Brauch gekommen war, im Gefolge des kirchlichen Jnquisitionsprozesscs und des römischen Rechts eingeschleppt worden. England hat weder die Inquisition noch das römische Recht angenommen und ist darum auch von der Folter verschont geblieben; gesetzlich war diese niemals erlaubt, wenn sie auch tatsächlich manchmal angewandt worden ist wie in den „blutigen Assisen" unter Jakob dem Zweiten. In der Darstellung des Strafrechts werden die neuen Theorien entschieden abgelehnt. Wenn die Idee der Ge¬ rechtigkeit ausgeschaltet, der Mensch entweder als ein Naturwesen geschildert werde, das seinen Trieben zu folgen gezwungen sei, oder als ein Produkt seiner Umgebung, das für seine Handlungen nicht verantworlich gemacht werden könne, so gebe es eben kein Strafrecht mehr. Der neuen Schule solle jedoch nicht jedes Verdienst abgesprochen werden. Sie habe die Aufmerksamkeit auf Dinge gelenkt, die früher zu wenig beachtet worden seien. Es sei richtig, daß man durch Veränderung des Milieus, durch Fürsorgeerziehung, durch Sozialreform viele Ursachen des Verbrechens beseitigen könne, daß es mit der Bestrafung nicht abgetan sei, daß man sowohl auf die Besserung des Verbrechers wie auf den Schutz der Gesellschaft bedacht sein müsse, aber Fürsorge für den sittlich Ge¬ fährdeten oder schon Verdorbnen und Schutz der Gesellschaft seien etwas andres als die Strafjustiz, diese dürfe nicht mit jenen beiden vermischt werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/611>, abgerufen am 24.07.2024.