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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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werde. Plato hat nun drei verschiedne Bilder gezeichnet (in der Politie, im
Politikos und in den Gesetzen), und darüber schreibt Paul Wendland in den
Preußischen Jahrbüchern, das sei ihm nur ein Spiel gewesen: eine Vorübung
für künftige praktische Tätigkeit. Nur auf die Grundrichtung der Vorschläge
komme es ihm an, nicht auf die Paragraphen der Gesetze. Die Mehrheit der Ent¬
würfe drücke den Gedanken aus, daß die Politik nie ans Ende komme, "weil
das Leben unerschöpflich und die Geschichte unendlich ist. Jede Theorie ist
Plato nur ein Durchschnittstypus, der die mannigfachen Varietäten der Wirk¬
lichkeit gar nicht erschöpfen kann und will." Endlich muß man bedenken, daß
Plato nicht bloß Philosoph, sondern auch Dichter, vielleicht mehr noch Dichter
als Philosoph gewesen ist. In dem Abschnitt "Staatspolitiker" bietet Kohler
drei mögliche Auffassungen von Machiavellis ?rinoixe dar. Die darin sich
kundgebende Sympathie mit Cesare Borgia lasse sich aus der im Zeitalter
Alexanders des Vierten allgemeinen Abstumpfung der sittlichen Empfindung
erklären. Sie könne aber auch auf der Überzeugung beruhen, daß die
Forderungen der Sittlichkeit unter Umständen hinter andern Forderungen der
Kulturentwicklung zurückzutreten hätten. Möglicherweise endlich habe er, wie
Spinoza vermutet, nur darum das Bild eines rücksichtslosen und gewissen¬
losen Gewaltmenschen sorgfältig gezeichnet, um seine Florentiner damit zu
schrecken; er habe ihnen sagen wollen: Seht ihr, das wartet eurer, wenn ihr
einen Fürsten haben wollt! Das letzte ist bestimmt unrichtig. Machiavelli
haßte die demokratische Republik und ihre Parteikämpfe; die Einigung Italiens
unter einem kräftigen Alleinherrscher, der die Fremden vertreiben würde, zu
empfehlen, war der deutlich ausgesprochne Zweck seines Buches vom Fürsten.
Eben deshalb sympathisierte er mit dem Papstsohne, weil dieser den Weg zu
dem großen Ziele eingeschlagen zu haben schien. Daß ihn die Schandtaten
des ebenso gewissenlosen wie klugen Eroberers nicht störten, erklärt sich aus
den ersten beiden Umstünden, die Kohler anführt; sie wirkten beide zusammen.

In den Betrachtungen über die Volksvertretung wird behauptet, die Stände¬
vertretung habe keine Zukunft mehr. Das wollen wir abwarten; sind doch
unsre politischen Fraktionen ihrem Wesen nach fast nur noch verschleierte
Stündevertretungen, wie sich in den Debatten um den Zolltarif und jetzt
wiederum in dem Streit um die Finanzreform besonders deutlich gezeigt hat.
Das zweite Hauptstück "Wirksamkeit des Staates" befaßt sich natürlich nur
mit der Rechtspflege. Im ersten Abschnitte, "Rechtsgang", verdient Beachtung,
wie über den "Gottesprozeß", der später dem "rationellen Prozeß" gewichen
ist, geurteilt wird. Man werde ihm nicht gerecht, wenn man darin lauter
Lug und Trug sehe oder die dadurch tatsächlich manchmal bewirkte Ermittlung
des Schuldigen für rein zufällig halte. Zu Lug und Trug nahm die Priester¬
schaft erst in den Zeiten des Verfalls ihre Zuflucht, und die Feierlichkeiten
eines Ordals wirkten auf die Seele des Gläubigen so stark, daß er sich durch
Erröten, Erbleichen oder Zittern als den Schuldigen verrate. Wenn aber auch


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werde. Plato hat nun drei verschiedne Bilder gezeichnet (in der Politie, im
Politikos und in den Gesetzen), und darüber schreibt Paul Wendland in den
Preußischen Jahrbüchern, das sei ihm nur ein Spiel gewesen: eine Vorübung
für künftige praktische Tätigkeit. Nur auf die Grundrichtung der Vorschläge
komme es ihm an, nicht auf die Paragraphen der Gesetze. Die Mehrheit der Ent¬
würfe drücke den Gedanken aus, daß die Politik nie ans Ende komme, „weil
das Leben unerschöpflich und die Geschichte unendlich ist. Jede Theorie ist
Plato nur ein Durchschnittstypus, der die mannigfachen Varietäten der Wirk¬
lichkeit gar nicht erschöpfen kann und will." Endlich muß man bedenken, daß
Plato nicht bloß Philosoph, sondern auch Dichter, vielleicht mehr noch Dichter
als Philosoph gewesen ist. In dem Abschnitt „Staatspolitiker" bietet Kohler
drei mögliche Auffassungen von Machiavellis ?rinoixe dar. Die darin sich
kundgebende Sympathie mit Cesare Borgia lasse sich aus der im Zeitalter
Alexanders des Vierten allgemeinen Abstumpfung der sittlichen Empfindung
erklären. Sie könne aber auch auf der Überzeugung beruhen, daß die
Forderungen der Sittlichkeit unter Umständen hinter andern Forderungen der
Kulturentwicklung zurückzutreten hätten. Möglicherweise endlich habe er, wie
Spinoza vermutet, nur darum das Bild eines rücksichtslosen und gewissen¬
losen Gewaltmenschen sorgfältig gezeichnet, um seine Florentiner damit zu
schrecken; er habe ihnen sagen wollen: Seht ihr, das wartet eurer, wenn ihr
einen Fürsten haben wollt! Das letzte ist bestimmt unrichtig. Machiavelli
haßte die demokratische Republik und ihre Parteikämpfe; die Einigung Italiens
unter einem kräftigen Alleinherrscher, der die Fremden vertreiben würde, zu
empfehlen, war der deutlich ausgesprochne Zweck seines Buches vom Fürsten.
Eben deshalb sympathisierte er mit dem Papstsohne, weil dieser den Weg zu
dem großen Ziele eingeschlagen zu haben schien. Daß ihn die Schandtaten
des ebenso gewissenlosen wie klugen Eroberers nicht störten, erklärt sich aus
den ersten beiden Umstünden, die Kohler anführt; sie wirkten beide zusammen.

In den Betrachtungen über die Volksvertretung wird behauptet, die Stände¬
vertretung habe keine Zukunft mehr. Das wollen wir abwarten; sind doch
unsre politischen Fraktionen ihrem Wesen nach fast nur noch verschleierte
Stündevertretungen, wie sich in den Debatten um den Zolltarif und jetzt
wiederum in dem Streit um die Finanzreform besonders deutlich gezeigt hat.
Das zweite Hauptstück „Wirksamkeit des Staates" befaßt sich natürlich nur
mit der Rechtspflege. Im ersten Abschnitte, „Rechtsgang", verdient Beachtung,
wie über den „Gottesprozeß", der später dem „rationellen Prozeß" gewichen
ist, geurteilt wird. Man werde ihm nicht gerecht, wenn man darin lauter
Lug und Trug sehe oder die dadurch tatsächlich manchmal bewirkte Ermittlung
des Schuldigen für rein zufällig halte. Zu Lug und Trug nahm die Priester¬
schaft erst in den Zeiten des Verfalls ihre Zuflucht, und die Feierlichkeiten
eines Ordals wirkten auf die Seele des Gläubigen so stark, daß er sich durch
Erröten, Erbleichen oder Zittern als den Schuldigen verrate. Wenn aber auch


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[0610] Line Rechtsphilosophie werde. Plato hat nun drei verschiedne Bilder gezeichnet (in der Politie, im Politikos und in den Gesetzen), und darüber schreibt Paul Wendland in den Preußischen Jahrbüchern, das sei ihm nur ein Spiel gewesen: eine Vorübung für künftige praktische Tätigkeit. Nur auf die Grundrichtung der Vorschläge komme es ihm an, nicht auf die Paragraphen der Gesetze. Die Mehrheit der Ent¬ würfe drücke den Gedanken aus, daß die Politik nie ans Ende komme, „weil das Leben unerschöpflich und die Geschichte unendlich ist. Jede Theorie ist Plato nur ein Durchschnittstypus, der die mannigfachen Varietäten der Wirk¬ lichkeit gar nicht erschöpfen kann und will." Endlich muß man bedenken, daß Plato nicht bloß Philosoph, sondern auch Dichter, vielleicht mehr noch Dichter als Philosoph gewesen ist. In dem Abschnitt „Staatspolitiker" bietet Kohler drei mögliche Auffassungen von Machiavellis ?rinoixe dar. Die darin sich kundgebende Sympathie mit Cesare Borgia lasse sich aus der im Zeitalter Alexanders des Vierten allgemeinen Abstumpfung der sittlichen Empfindung erklären. Sie könne aber auch auf der Überzeugung beruhen, daß die Forderungen der Sittlichkeit unter Umständen hinter andern Forderungen der Kulturentwicklung zurückzutreten hätten. Möglicherweise endlich habe er, wie Spinoza vermutet, nur darum das Bild eines rücksichtslosen und gewissen¬ losen Gewaltmenschen sorgfältig gezeichnet, um seine Florentiner damit zu schrecken; er habe ihnen sagen wollen: Seht ihr, das wartet eurer, wenn ihr einen Fürsten haben wollt! Das letzte ist bestimmt unrichtig. Machiavelli haßte die demokratische Republik und ihre Parteikämpfe; die Einigung Italiens unter einem kräftigen Alleinherrscher, der die Fremden vertreiben würde, zu empfehlen, war der deutlich ausgesprochne Zweck seines Buches vom Fürsten. Eben deshalb sympathisierte er mit dem Papstsohne, weil dieser den Weg zu dem großen Ziele eingeschlagen zu haben schien. Daß ihn die Schandtaten des ebenso gewissenlosen wie klugen Eroberers nicht störten, erklärt sich aus den ersten beiden Umstünden, die Kohler anführt; sie wirkten beide zusammen. In den Betrachtungen über die Volksvertretung wird behauptet, die Stände¬ vertretung habe keine Zukunft mehr. Das wollen wir abwarten; sind doch unsre politischen Fraktionen ihrem Wesen nach fast nur noch verschleierte Stündevertretungen, wie sich in den Debatten um den Zolltarif und jetzt wiederum in dem Streit um die Finanzreform besonders deutlich gezeigt hat. Das zweite Hauptstück „Wirksamkeit des Staates" befaßt sich natürlich nur mit der Rechtspflege. Im ersten Abschnitte, „Rechtsgang", verdient Beachtung, wie über den „Gottesprozeß", der später dem „rationellen Prozeß" gewichen ist, geurteilt wird. Man werde ihm nicht gerecht, wenn man darin lauter Lug und Trug sehe oder die dadurch tatsächlich manchmal bewirkte Ermittlung des Schuldigen für rein zufällig halte. Zu Lug und Trug nahm die Priester¬ schaft erst in den Zeiten des Verfalls ihre Zuflucht, und die Feierlichkeiten eines Ordals wirkten auf die Seele des Gläubigen so stark, daß er sich durch Erröten, Erbleichen oder Zittern als den Schuldigen verrate. Wenn aber auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/610>, abgerufen am 25.08.2024.