Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.Eine Rechtsphilosophie der Verknüpfung des kategorischen Imperativs mit der von Kant sonst abge¬ Eine Rechtsphilosophie der Verknüpfung des kategorischen Imperativs mit der von Kant sonst abge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0606" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314309"/> <fw type="header" place="top"> Eine Rechtsphilosophie</fw><lb/> <p xml:id="ID_3095" prev="#ID_3094" next="#ID_3096"> der Verknüpfung des kategorischen Imperativs mit der von Kant sonst abge¬<lb/> lehnten oder wenigstens als unbewiesen bezeichneten Metaphysik das Heil der<lb/> Menschheit erblickten. In der Tat ist es nicht ein starres Gebot, sondern es<lb/> ist das Beteiligtsein des Einzelnen an der Gesamtheit, was die Pflicht erzeugt.<lb/> Und daraus geht hervor: a) Es ist ein höherer Stand feine höhere Stufet<lb/> der Sittlichkeit, wenn der Einzelne das Gebot nicht als Gebot empfindet,<lb/> sondern mit der Gesamtheit so sehr in der Einigkeit des Denkens und Fühlens<lb/> steht, daß er auch ohne besondres Gebot die Pflichten des Rechts und der<lb/> Sittlichkeit erfüllt, b) Um so mehr ist die Ansicht zurückzuweisen, als ob die<lb/> Sittlichkeit darin bestünde, daß man ein Gebot erfüllt im Widerspruch mit sich<lb/> selbst und im Kampfe mit seinen eignen Wünschen und Bestrebungen. Richtig<lb/> ist uur so viel, daß, wenn der Einzelne noch nicht so weit im Alleinheitsgefühl<lb/> gelangt ist, daß ihm pflichtmäßiges Handeln zur andern Natur wurde, er doch<lb/> seine Pflichten erfüllen soll und darum nötigenfalls einen Akt der Selbstüber¬<lb/> windung zu vollziehen hat." Einverstanden — im allgemeinen! Nur ist er¬<lb/> gänzend zu bemerken, daß, wenn eine „schöne Seele" rein pflanzenhaft auf¬<lb/> wüchse und sich auflebte, niemals ein inneres Widerstreben zu überwinden,<lb/> niemals einen Kampf zwischen Pflicht und Leidenschaft auszufechten Hütte, bei<lb/> ihr vou Sittlichkeit kaum gesprochen werden könnte; man würde sich an ihrem<lb/> Anblick erfreuen wie an dem einer schönen Blume, den Zoll jedoch, der dem<lb/> bewährten Charakter gebührt, die Hochachtung, ihr kaum bewilligen. Der Grund¬<lb/> gedanke Kants, daß nnr die im Widerstände gegen die Naturtriebe bewährte<lb/> Sittlichkeit wirkliche Sittlichkeit sei, muß als richtig anerkannt, bloß die rigo-<lb/> ristische Übertreibung zurückgewiesen werden. Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit,<lb/> heißt es dann weiter, gehe nicht so weit, daß man bei einem Kauf- oder<lb/> sonstigen Vertrage alles sagen müßte, was man über den Gegenstand des Ver¬<lb/> trages weiß; „individuelle" Dinge dürfe man, soweit sie nicht selbst Vertrags¬<lb/> gegenstände werden, geheimhalten. Die Kulturentwicklung fordere, daß ein<lb/> gesunder Jchsinn walte. Was zum Gelingen einer Spekultion gehört, dürfe<lb/> man verschweigen. Habe man erfahren, daß der Preis der Ware, die man<lb/> eben kaufe, an einem andern Orte gestiegen sei, oder wisse man, daß er am<lb/> Orte des Vertrages bald steigen werde, so brauche man das dem Verkäufer<lb/> nicht zu sagen. Was die Sorgfalt betrifft, so sei man dazu weniger streng<lb/> verpflichtet, wenn es sich um ein Schenkungsversprechen oder um einen Ver¬<lb/> trag zwischen Mitgliedern derselben Familie handelt. Beim Pfandrecht wird<lb/> unterschieden zwischen den (heute kaum noch vorkommenden) Fällen, wo das<lb/> Pfand den Gläubiger befriedigt, und den Füllen, wo es in der Tat bloß<lb/> Unterpfand der Befriedigung ist und zum Beispiel nur dann, wenn es durch<lb/> Verkauf in Geld verwandelt wird, den Gläubiger wirklich befriedigt. In den<lb/> Fällen der ersten Kategorie trägt der Gläubiger die Gefahr: geht das Pfand<lb/> zugrunde, so hat er von dem Schuldner nichts mehr zu fordern, denn er war<lb/> ja befriedigt. In den Fällen der andern Art, den heute gewöhnlichen, besteht</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0606]
Eine Rechtsphilosophie
der Verknüpfung des kategorischen Imperativs mit der von Kant sonst abge¬
lehnten oder wenigstens als unbewiesen bezeichneten Metaphysik das Heil der
Menschheit erblickten. In der Tat ist es nicht ein starres Gebot, sondern es
ist das Beteiligtsein des Einzelnen an der Gesamtheit, was die Pflicht erzeugt.
Und daraus geht hervor: a) Es ist ein höherer Stand feine höhere Stufet
der Sittlichkeit, wenn der Einzelne das Gebot nicht als Gebot empfindet,
sondern mit der Gesamtheit so sehr in der Einigkeit des Denkens und Fühlens
steht, daß er auch ohne besondres Gebot die Pflichten des Rechts und der
Sittlichkeit erfüllt, b) Um so mehr ist die Ansicht zurückzuweisen, als ob die
Sittlichkeit darin bestünde, daß man ein Gebot erfüllt im Widerspruch mit sich
selbst und im Kampfe mit seinen eignen Wünschen und Bestrebungen. Richtig
ist uur so viel, daß, wenn der Einzelne noch nicht so weit im Alleinheitsgefühl
gelangt ist, daß ihm pflichtmäßiges Handeln zur andern Natur wurde, er doch
seine Pflichten erfüllen soll und darum nötigenfalls einen Akt der Selbstüber¬
windung zu vollziehen hat." Einverstanden — im allgemeinen! Nur ist er¬
gänzend zu bemerken, daß, wenn eine „schöne Seele" rein pflanzenhaft auf¬
wüchse und sich auflebte, niemals ein inneres Widerstreben zu überwinden,
niemals einen Kampf zwischen Pflicht und Leidenschaft auszufechten Hütte, bei
ihr vou Sittlichkeit kaum gesprochen werden könnte; man würde sich an ihrem
Anblick erfreuen wie an dem einer schönen Blume, den Zoll jedoch, der dem
bewährten Charakter gebührt, die Hochachtung, ihr kaum bewilligen. Der Grund¬
gedanke Kants, daß nnr die im Widerstände gegen die Naturtriebe bewährte
Sittlichkeit wirkliche Sittlichkeit sei, muß als richtig anerkannt, bloß die rigo-
ristische Übertreibung zurückgewiesen werden. Die Pflicht zur Wahrhaftigkeit,
heißt es dann weiter, gehe nicht so weit, daß man bei einem Kauf- oder
sonstigen Vertrage alles sagen müßte, was man über den Gegenstand des Ver¬
trages weiß; „individuelle" Dinge dürfe man, soweit sie nicht selbst Vertrags¬
gegenstände werden, geheimhalten. Die Kulturentwicklung fordere, daß ein
gesunder Jchsinn walte. Was zum Gelingen einer Spekultion gehört, dürfe
man verschweigen. Habe man erfahren, daß der Preis der Ware, die man
eben kaufe, an einem andern Orte gestiegen sei, oder wisse man, daß er am
Orte des Vertrages bald steigen werde, so brauche man das dem Verkäufer
nicht zu sagen. Was die Sorgfalt betrifft, so sei man dazu weniger streng
verpflichtet, wenn es sich um ein Schenkungsversprechen oder um einen Ver¬
trag zwischen Mitgliedern derselben Familie handelt. Beim Pfandrecht wird
unterschieden zwischen den (heute kaum noch vorkommenden) Fällen, wo das
Pfand den Gläubiger befriedigt, und den Füllen, wo es in der Tat bloß
Unterpfand der Befriedigung ist und zum Beispiel nur dann, wenn es durch
Verkauf in Geld verwandelt wird, den Gläubiger wirklich befriedigt. In den
Fällen der ersten Kategorie trägt der Gläubiger die Gefahr: geht das Pfand
zugrunde, so hat er von dem Schuldner nichts mehr zu fordern, denn er war
ja befriedigt. In den Fällen der andern Art, den heute gewöhnlichen, besteht
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