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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Eine Rechtsphilosophie

können. Die Spaltung des einen vernünftigen Urwillens in eine dumme,
blinde, unethische Triebkraft und eine ohnmächtige Intelligenz, wie sie
Schopenhauer und Hartmann vorgenommen haben, erscheint mir als eine Un¬
geheuerlichkeit.

Hugo Grotius, erfahren wir dann weiter, habe, an die Scholastiker an¬
knüpfend, den Intellektualismus und die unbeugsame Starrheit des Natur¬
rechts in einer Weise vertreten, wie sie weder von Albertus Magnus noch von
Thomas gelehrt worden sei. "Jetzt war das Naturrecht nicht mehr das beug¬
same sso!> Recht, das sich bilduugfördernd der jeweiligen Kultur anschließt,
es war nicht mehr die belebende Kraft, die alles durchdringt: bei ihm und
seinen Nachfolgern ward es eine starre Masse, die wie ein Alp über dem Leben
schwebte und den Atem des Fortschritts erstickte; und nun gar die Rechts¬
philosophie von Wolfs, die die friderizianische Zeit beherrschte, gehört zum
Gedankenarmsten, Trostlosesten und Philisterhaftesten, was im ganzen Bereich
der Menschheitsgeschichte zu entdecken ist. Anfangs mochte es allerdings Be¬
deutung haben, in dem Naturrecht eine Schutzwehr gegen Willkürherrschaft zu
finden, allein diese Bedeutung verlor es bald, mindestens in Deutschland und
Frankreich, und statt dessen wurde es zum Steckenpferd des wohlwollenden
Absolutismus, der sich die Durchführung des Naturrechts angelegen sein ließ,
indem er dem Volke den Fuß auf den Nacken setzte und es zwingen wollte,
brav, rechtlich und glücklich zu werden." Weniger unterrichteten Lesern würde
Kohler einen Dienst erwiesen haben, wenn er dargelegt hätte, wie das Natur¬
recht mit dem Absolutismus zusammenhängt. Indem sich die Staatsmänner
geradeso wie vor ihnen die Hierarchen nicht damit begnügten, "venige Grund¬
sätze für absolut zu erklären, sondern ein ausgeführtes politisches und Rechts¬
system für natürlich und vernünftig erklärten, weil es ihrer Vernunft und
Natur entsprach, hielten sie sich für berechtigt, die Untertanen in diese
Schablone hineinzuzwingcn, und ganz dasselbe taten ihre Nachfolger, die Jako¬
biner und die Liberalen des Kontinents, während die Engländer ohne alle
Philosophie ihren Staat wachsen ließen, wie er konnte und wollte, und dem
jeweilen gewordnen Rechts- und Kulturzustande das formelle Recht durch
systemloses Flicken am bestehenden Recht anpaßten, also die natürliche Ent¬
wicklung walten ließen, ohne sie weder zu hemmen noch es mit gewaltsamer
Beschleunigung und Lenkung zu versuchen. Im neunzehnten Jahrhundert,
urteilt Kohler, habe sich die Rechtsphilosophie ungünstig entwickelt. "Auf ein
Wunderwerk wie die Hegelsche Rechtsphilosophie folgten dilettantische Platt¬
heiten wie Iherings Zweck im Recht." Den berühmten Rechtslehrer gegen
eine so wegwerfende Behandlung zu verteidigen, ist nicht meine Sache. Auch
bin ich, als Nichtjnrist, nicht in der Lage, anzugeben, welche neueren Er¬
scheinungen der juristischen Literatur gemeint sind, wenn es weiter heißt: "Das
ist nunmehr anders geworden. An die Stelle des Kleinwesens trat die ver¬
gleichende Rechtswissenschaft, die alle Einzelheiten zu einem weltumspannenden


Eine Rechtsphilosophie

können. Die Spaltung des einen vernünftigen Urwillens in eine dumme,
blinde, unethische Triebkraft und eine ohnmächtige Intelligenz, wie sie
Schopenhauer und Hartmann vorgenommen haben, erscheint mir als eine Un¬
geheuerlichkeit.

Hugo Grotius, erfahren wir dann weiter, habe, an die Scholastiker an¬
knüpfend, den Intellektualismus und die unbeugsame Starrheit des Natur¬
rechts in einer Weise vertreten, wie sie weder von Albertus Magnus noch von
Thomas gelehrt worden sei. „Jetzt war das Naturrecht nicht mehr das beug¬
same sso!> Recht, das sich bilduugfördernd der jeweiligen Kultur anschließt,
es war nicht mehr die belebende Kraft, die alles durchdringt: bei ihm und
seinen Nachfolgern ward es eine starre Masse, die wie ein Alp über dem Leben
schwebte und den Atem des Fortschritts erstickte; und nun gar die Rechts¬
philosophie von Wolfs, die die friderizianische Zeit beherrschte, gehört zum
Gedankenarmsten, Trostlosesten und Philisterhaftesten, was im ganzen Bereich
der Menschheitsgeschichte zu entdecken ist. Anfangs mochte es allerdings Be¬
deutung haben, in dem Naturrecht eine Schutzwehr gegen Willkürherrschaft zu
finden, allein diese Bedeutung verlor es bald, mindestens in Deutschland und
Frankreich, und statt dessen wurde es zum Steckenpferd des wohlwollenden
Absolutismus, der sich die Durchführung des Naturrechts angelegen sein ließ,
indem er dem Volke den Fuß auf den Nacken setzte und es zwingen wollte,
brav, rechtlich und glücklich zu werden." Weniger unterrichteten Lesern würde
Kohler einen Dienst erwiesen haben, wenn er dargelegt hätte, wie das Natur¬
recht mit dem Absolutismus zusammenhängt. Indem sich die Staatsmänner
geradeso wie vor ihnen die Hierarchen nicht damit begnügten, »venige Grund¬
sätze für absolut zu erklären, sondern ein ausgeführtes politisches und Rechts¬
system für natürlich und vernünftig erklärten, weil es ihrer Vernunft und
Natur entsprach, hielten sie sich für berechtigt, die Untertanen in diese
Schablone hineinzuzwingcn, und ganz dasselbe taten ihre Nachfolger, die Jako¬
biner und die Liberalen des Kontinents, während die Engländer ohne alle
Philosophie ihren Staat wachsen ließen, wie er konnte und wollte, und dem
jeweilen gewordnen Rechts- und Kulturzustande das formelle Recht durch
systemloses Flicken am bestehenden Recht anpaßten, also die natürliche Ent¬
wicklung walten ließen, ohne sie weder zu hemmen noch es mit gewaltsamer
Beschleunigung und Lenkung zu versuchen. Im neunzehnten Jahrhundert,
urteilt Kohler, habe sich die Rechtsphilosophie ungünstig entwickelt. „Auf ein
Wunderwerk wie die Hegelsche Rechtsphilosophie folgten dilettantische Platt¬
heiten wie Iherings Zweck im Recht." Den berühmten Rechtslehrer gegen
eine so wegwerfende Behandlung zu verteidigen, ist nicht meine Sache. Auch
bin ich, als Nichtjnrist, nicht in der Lage, anzugeben, welche neueren Er¬
scheinungen der juristischen Literatur gemeint sind, wenn es weiter heißt: „Das
ist nunmehr anders geworden. An die Stelle des Kleinwesens trat die ver¬
gleichende Rechtswissenschaft, die alle Einzelheiten zu einem weltumspannenden


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[0563] Eine Rechtsphilosophie können. Die Spaltung des einen vernünftigen Urwillens in eine dumme, blinde, unethische Triebkraft und eine ohnmächtige Intelligenz, wie sie Schopenhauer und Hartmann vorgenommen haben, erscheint mir als eine Un¬ geheuerlichkeit. Hugo Grotius, erfahren wir dann weiter, habe, an die Scholastiker an¬ knüpfend, den Intellektualismus und die unbeugsame Starrheit des Natur¬ rechts in einer Weise vertreten, wie sie weder von Albertus Magnus noch von Thomas gelehrt worden sei. „Jetzt war das Naturrecht nicht mehr das beug¬ same sso!> Recht, das sich bilduugfördernd der jeweiligen Kultur anschließt, es war nicht mehr die belebende Kraft, die alles durchdringt: bei ihm und seinen Nachfolgern ward es eine starre Masse, die wie ein Alp über dem Leben schwebte und den Atem des Fortschritts erstickte; und nun gar die Rechts¬ philosophie von Wolfs, die die friderizianische Zeit beherrschte, gehört zum Gedankenarmsten, Trostlosesten und Philisterhaftesten, was im ganzen Bereich der Menschheitsgeschichte zu entdecken ist. Anfangs mochte es allerdings Be¬ deutung haben, in dem Naturrecht eine Schutzwehr gegen Willkürherrschaft zu finden, allein diese Bedeutung verlor es bald, mindestens in Deutschland und Frankreich, und statt dessen wurde es zum Steckenpferd des wohlwollenden Absolutismus, der sich die Durchführung des Naturrechts angelegen sein ließ, indem er dem Volke den Fuß auf den Nacken setzte und es zwingen wollte, brav, rechtlich und glücklich zu werden." Weniger unterrichteten Lesern würde Kohler einen Dienst erwiesen haben, wenn er dargelegt hätte, wie das Natur¬ recht mit dem Absolutismus zusammenhängt. Indem sich die Staatsmänner geradeso wie vor ihnen die Hierarchen nicht damit begnügten, »venige Grund¬ sätze für absolut zu erklären, sondern ein ausgeführtes politisches und Rechts¬ system für natürlich und vernünftig erklärten, weil es ihrer Vernunft und Natur entsprach, hielten sie sich für berechtigt, die Untertanen in diese Schablone hineinzuzwingcn, und ganz dasselbe taten ihre Nachfolger, die Jako¬ biner und die Liberalen des Kontinents, während die Engländer ohne alle Philosophie ihren Staat wachsen ließen, wie er konnte und wollte, und dem jeweilen gewordnen Rechts- und Kulturzustande das formelle Recht durch systemloses Flicken am bestehenden Recht anpaßten, also die natürliche Ent¬ wicklung walten ließen, ohne sie weder zu hemmen noch es mit gewaltsamer Beschleunigung und Lenkung zu versuchen. Im neunzehnten Jahrhundert, urteilt Kohler, habe sich die Rechtsphilosophie ungünstig entwickelt. „Auf ein Wunderwerk wie die Hegelsche Rechtsphilosophie folgten dilettantische Platt¬ heiten wie Iherings Zweck im Recht." Den berühmten Rechtslehrer gegen eine so wegwerfende Behandlung zu verteidigen, ist nicht meine Sache. Auch bin ich, als Nichtjnrist, nicht in der Lage, anzugeben, welche neueren Er¬ scheinungen der juristischen Literatur gemeint sind, wenn es weiter heißt: „Das ist nunmehr anders geworden. An die Stelle des Kleinwesens trat die ver¬ gleichende Rechtswissenschaft, die alle Einzelheiten zu einem weltumspannenden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/563>, abgerufen am 23.07.2024.