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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Line Rechtsphilosophie

der nichtchristlichen Völker, auch wenn sie im Heidentum oder im Islam ver¬
harren, dem christlichen einigermaßen anzunähern bestrebt sein, wie denn zum
Beispiel die Engländer in Indien die Witwenverbrennung abgeschafft und das
Unwesen der Kinderchen eingeschränkt haben.

Kohler erkennt übrigens an, daß "in der Zurückhaltung der Scholastiker
mitunter die tiefsten Gedanken verborgen sind, die nur nicht recht zutage treten
können", und er lobt besonders die Dominikaner Albertus Magnus und Thomas
von Aquin, die den drohenden weltlichen und geistlichen Absolutismus abzu¬
wehren suchten. Sie "nahmen an, daß das Recht aus ewigen Grundsätzen
bestehe, von denen nur nach gewissen Richtungen hin Ausnahmen gestattet
seien; welche, das war allerdings Gegenstand vieler Ungewißheit. In Gegensatz
dazu stellte" sich die Franziskaner, und vor allen der große Vvlnntarist, der
erst neuerdings in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung erkannte Vorgänger
Schopenhauers, Duns Scotus. Er war der Willensapvstel, der in die Tiefe
des Willcnvorgangs Blicke getan hat, die allen frühern verborgen waren; er
hat bereits erkannt, daß der Wille nicht ein bloßer Diener der Intelligenz ist,
sondern eher ihr Herr, und so ist ihm, wie Schopenhauer, Gott mehr Wille
als Intelligenz, und das Recht gilt ihm nicht, weil es vernünftig ist, sondern
weil Gott es will. Jetzt waren die Schleusen geöffnet, und die Kurialisten
konnten die Allmacht die Papstes ins Ungemessene steigern." Denn wenn
Gott für sittlich gut oder für erlaubt erklären kann, was er will, warum nicht
auch sein Statthalter auf Erden? "So hat Duns Scotus die Bahn gebrochen,
und weithin verbreitete sich der Skeptizismus gegen das vernünftige Natur¬
recht sbesser wohl: gegen das Vernunft- oder NaturrecW. Mehr als je wurde
die Relativität des Rechts auerkaimt. Duns Scotus ging sogar so weit, daß
er selbst zeitweise die Polygamie anerkennen mochte, wenn große Männerverluste
den Bestand der menschlichen Gesellschaft in Gefahr brächten." Hier weist
also Kohler selbst auf die Gefahren hin, die von dem Glauben an die Allein¬
herrschaft der Entwicklung und von der Leugnung jeder absoluten Norm drohen.
Der Alleinherrschaft des heraklitischen Flusses aller Dinge verdankt die Menschheit
die Sophistik, die im Mittelalter Nominalismus hieß (die Gattungsbegriffe
willkürliche und zufällige, nicht notwendige Zusammenfassungen ähnlicher Dinge),
und die Darwin, ohne es zu wissen und zu wollen, ans dem Umwege über
die Biologie aufs neue in die Psychologie und Ethik eingeführt hat: daß es
keine sittlichen Normen gebe, gehört ja zum Credo "der Moderne". Die
Frage, die Kohler erwähnt, ohne sie zu beantworten, ob Gott das Gute ge¬
biete, weil es gut ist, oder ob es gut sei, weil es Gott gebietet, darf man
gar nicht aufwerfen. Wir kennen keine andre Welt und darum auch keine
andre Vernunft als die aus Gott hervorgegangn?, müssen Gott als den Ur¬
quell der Vernunft ansehen, in dem Intelligenz und Wille, eins sind, der Wille
vernünftig und gut ist, sodaß Sein und Gutsein, Wollen und Guteswollen
nicht voneinander geschieden werden, nicht voneinander getrennt gedacht werden


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der nichtchristlichen Völker, auch wenn sie im Heidentum oder im Islam ver¬
harren, dem christlichen einigermaßen anzunähern bestrebt sein, wie denn zum
Beispiel die Engländer in Indien die Witwenverbrennung abgeschafft und das
Unwesen der Kinderchen eingeschränkt haben.

Kohler erkennt übrigens an, daß „in der Zurückhaltung der Scholastiker
mitunter die tiefsten Gedanken verborgen sind, die nur nicht recht zutage treten
können", und er lobt besonders die Dominikaner Albertus Magnus und Thomas
von Aquin, die den drohenden weltlichen und geistlichen Absolutismus abzu¬
wehren suchten. Sie „nahmen an, daß das Recht aus ewigen Grundsätzen
bestehe, von denen nur nach gewissen Richtungen hin Ausnahmen gestattet
seien; welche, das war allerdings Gegenstand vieler Ungewißheit. In Gegensatz
dazu stellte» sich die Franziskaner, und vor allen der große Vvlnntarist, der
erst neuerdings in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung erkannte Vorgänger
Schopenhauers, Duns Scotus. Er war der Willensapvstel, der in die Tiefe
des Willcnvorgangs Blicke getan hat, die allen frühern verborgen waren; er
hat bereits erkannt, daß der Wille nicht ein bloßer Diener der Intelligenz ist,
sondern eher ihr Herr, und so ist ihm, wie Schopenhauer, Gott mehr Wille
als Intelligenz, und das Recht gilt ihm nicht, weil es vernünftig ist, sondern
weil Gott es will. Jetzt waren die Schleusen geöffnet, und die Kurialisten
konnten die Allmacht die Papstes ins Ungemessene steigern." Denn wenn
Gott für sittlich gut oder für erlaubt erklären kann, was er will, warum nicht
auch sein Statthalter auf Erden? „So hat Duns Scotus die Bahn gebrochen,
und weithin verbreitete sich der Skeptizismus gegen das vernünftige Natur¬
recht sbesser wohl: gegen das Vernunft- oder NaturrecW. Mehr als je wurde
die Relativität des Rechts auerkaimt. Duns Scotus ging sogar so weit, daß
er selbst zeitweise die Polygamie anerkennen mochte, wenn große Männerverluste
den Bestand der menschlichen Gesellschaft in Gefahr brächten." Hier weist
also Kohler selbst auf die Gefahren hin, die von dem Glauben an die Allein¬
herrschaft der Entwicklung und von der Leugnung jeder absoluten Norm drohen.
Der Alleinherrschaft des heraklitischen Flusses aller Dinge verdankt die Menschheit
die Sophistik, die im Mittelalter Nominalismus hieß (die Gattungsbegriffe
willkürliche und zufällige, nicht notwendige Zusammenfassungen ähnlicher Dinge),
und die Darwin, ohne es zu wissen und zu wollen, ans dem Umwege über
die Biologie aufs neue in die Psychologie und Ethik eingeführt hat: daß es
keine sittlichen Normen gebe, gehört ja zum Credo „der Moderne". Die
Frage, die Kohler erwähnt, ohne sie zu beantworten, ob Gott das Gute ge¬
biete, weil es gut ist, oder ob es gut sei, weil es Gott gebietet, darf man
gar nicht aufwerfen. Wir kennen keine andre Welt und darum auch keine
andre Vernunft als die aus Gott hervorgegangn?, müssen Gott als den Ur¬
quell der Vernunft ansehen, in dem Intelligenz und Wille, eins sind, der Wille
vernünftig und gut ist, sodaß Sein und Gutsein, Wollen und Guteswollen
nicht voneinander geschieden werden, nicht voneinander getrennt gedacht werden


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[0562] Line Rechtsphilosophie der nichtchristlichen Völker, auch wenn sie im Heidentum oder im Islam ver¬ harren, dem christlichen einigermaßen anzunähern bestrebt sein, wie denn zum Beispiel die Engländer in Indien die Witwenverbrennung abgeschafft und das Unwesen der Kinderchen eingeschränkt haben. Kohler erkennt übrigens an, daß „in der Zurückhaltung der Scholastiker mitunter die tiefsten Gedanken verborgen sind, die nur nicht recht zutage treten können", und er lobt besonders die Dominikaner Albertus Magnus und Thomas von Aquin, die den drohenden weltlichen und geistlichen Absolutismus abzu¬ wehren suchten. Sie „nahmen an, daß das Recht aus ewigen Grundsätzen bestehe, von denen nur nach gewissen Richtungen hin Ausnahmen gestattet seien; welche, das war allerdings Gegenstand vieler Ungewißheit. In Gegensatz dazu stellte» sich die Franziskaner, und vor allen der große Vvlnntarist, der erst neuerdings in seiner weltgeschichtlichen Bedeutung erkannte Vorgänger Schopenhauers, Duns Scotus. Er war der Willensapvstel, der in die Tiefe des Willcnvorgangs Blicke getan hat, die allen frühern verborgen waren; er hat bereits erkannt, daß der Wille nicht ein bloßer Diener der Intelligenz ist, sondern eher ihr Herr, und so ist ihm, wie Schopenhauer, Gott mehr Wille als Intelligenz, und das Recht gilt ihm nicht, weil es vernünftig ist, sondern weil Gott es will. Jetzt waren die Schleusen geöffnet, und die Kurialisten konnten die Allmacht die Papstes ins Ungemessene steigern." Denn wenn Gott für sittlich gut oder für erlaubt erklären kann, was er will, warum nicht auch sein Statthalter auf Erden? „So hat Duns Scotus die Bahn gebrochen, und weithin verbreitete sich der Skeptizismus gegen das vernünftige Natur¬ recht sbesser wohl: gegen das Vernunft- oder NaturrecW. Mehr als je wurde die Relativität des Rechts auerkaimt. Duns Scotus ging sogar so weit, daß er selbst zeitweise die Polygamie anerkennen mochte, wenn große Männerverluste den Bestand der menschlichen Gesellschaft in Gefahr brächten." Hier weist also Kohler selbst auf die Gefahren hin, die von dem Glauben an die Allein¬ herrschaft der Entwicklung und von der Leugnung jeder absoluten Norm drohen. Der Alleinherrschaft des heraklitischen Flusses aller Dinge verdankt die Menschheit die Sophistik, die im Mittelalter Nominalismus hieß (die Gattungsbegriffe willkürliche und zufällige, nicht notwendige Zusammenfassungen ähnlicher Dinge), und die Darwin, ohne es zu wissen und zu wollen, ans dem Umwege über die Biologie aufs neue in die Psychologie und Ethik eingeführt hat: daß es keine sittlichen Normen gebe, gehört ja zum Credo „der Moderne". Die Frage, die Kohler erwähnt, ohne sie zu beantworten, ob Gott das Gute ge¬ biete, weil es gut ist, oder ob es gut sei, weil es Gott gebietet, darf man gar nicht aufwerfen. Wir kennen keine andre Welt und darum auch keine andre Vernunft als die aus Gott hervorgegangn?, müssen Gott als den Ur¬ quell der Vernunft ansehen, in dem Intelligenz und Wille, eins sind, der Wille vernünftig und gut ist, sodaß Sein und Gutsein, Wollen und Guteswollen nicht voneinander geschieden werden, nicht voneinander getrennt gedacht werden

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/562>, abgerufen am 22.12.2024.