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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Die Weltbewegung in England

der Burenkrieg, der gegen einen viel schwächern Gegner geführt wurde, schon
ergeben hat, obgleich das Heimatland ohne jeden militärischen Schutz gelassen
werden mußte. Auf die Unterstützung der japanischen Verbündeten, deren zwei¬
schneidige Natur man durchschaut hat, wird man nur im äußersten Notfalle
zurückgreifen wollen. Auch die erweiterte Flotte erfordert einen bedeutend
zahlreichern Maunschaftsstcmd. Dreadnoughts kann mau wohl für Geld bauen,
aber sie müssen auch ausreichend bemannt werden. Die Besatzungen der englischen
Kriegsdampfer sind ohnehin seit langen Jahren schon viel schwächer als die der
gleichwertigen Schiffe der meisten andern Seemächte. Man hat sich nun seit
einiger Zeit damit beholfen, durch Ausscheidung veralteter, aber noch keineswegs
sehr alter Fahrzeuge Mannschaften für die Verstärkung der Besatzungen der
immer größer gewordnen Kriegsschiffe zu gewinnen, aber für die neuste Steigerung
der Größen- und Besatzungsverhältnisse kommt man auch damit nicht mehr aus.
Dabei hatte man noch in Kauf nehmen müssen, daß durch die Zurückziehung
zahlreicher kleinerer Schiffe von überseeischen Stationen dort der Eindruck
hervorgerufen worden ist, daß die britische Seemacht zurückgehe, was nach dem
plötzlichen Emporkommen der japanischen Flotte und der nordamerikanischen
Demonstrationsfahrt keineswegs unbedenklich, für den britischen Scemachtsstolz
aber geradezu unerträglich ist.

Um alle diese Unannehmlichkeiten loszuwerden und künftigen Schwierig¬
keiten aus eigner Kraft gewachsen zu sein, bedarf die britische Wehrmacht zu
Wasser wie zu Lande eines sehr starken Zuwachses an Mannschaften, den das
ohnehin sehr teure Werbesystem trotz aller neuern Anreizmittel in keinem Falle
mehr zu schaffen vermag. Die politischen Führer, soweit sie imperialistisch sind,
das heißt die englische Weltmacht erhalten wollen, sind sich vollkommen klar
darüber, daß nur die allgemeine Wehrpflicht diesen Zuwachs bringen kann,
aber sie sagen es beileibe nicht alle und am wenigsten laut, sondern sie gehn
mit verteilten Rollen vor, denn es gilt, mit kluger Taktik ein weit verbreitetes
Vorurteil zu überwinden. Wie tief die Abneigung gegen die allgemeine Wehr¬
pflicht in England geht, konnte man wieder aus den kürzlich (Grenzboten 1909,
III, S. 163) veröffentlichten Äußerungen George Gissings ersehn. In den
Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht wird man sie neben den übrigen durchaus
gesunden und vernünftigen Ansichten des Verfassers ziemlich unbegreiflich finden.
Doch hat man vor fünfzig Jahren in Deutschland außerhalb Preußens genau
denselben Standpunkt eingenommen. Auch England wird die Vorurteile über¬
winden lernen. Falsch ist dagegen die in vielen deutschen Kreisen geteilte Ansicht,
daß der besser situierte Brite zu schlaff und bequem sei, um selbst den Tornister
auf den Rücken zu nehmen. Die britische Abneigung gegen die allgemeine
Wehrpflicht gründet sich vielmehr auf die geringe Achtung, die infolge des
Söldnersystems der Militärstand selbst mit Einschluß der Offiziere genießt; das
war aber früher in Deutschland auch nicht anders. Ferner darauf, daß der


Die Weltbewegung in England

der Burenkrieg, der gegen einen viel schwächern Gegner geführt wurde, schon
ergeben hat, obgleich das Heimatland ohne jeden militärischen Schutz gelassen
werden mußte. Auf die Unterstützung der japanischen Verbündeten, deren zwei¬
schneidige Natur man durchschaut hat, wird man nur im äußersten Notfalle
zurückgreifen wollen. Auch die erweiterte Flotte erfordert einen bedeutend
zahlreichern Maunschaftsstcmd. Dreadnoughts kann mau wohl für Geld bauen,
aber sie müssen auch ausreichend bemannt werden. Die Besatzungen der englischen
Kriegsdampfer sind ohnehin seit langen Jahren schon viel schwächer als die der
gleichwertigen Schiffe der meisten andern Seemächte. Man hat sich nun seit
einiger Zeit damit beholfen, durch Ausscheidung veralteter, aber noch keineswegs
sehr alter Fahrzeuge Mannschaften für die Verstärkung der Besatzungen der
immer größer gewordnen Kriegsschiffe zu gewinnen, aber für die neuste Steigerung
der Größen- und Besatzungsverhältnisse kommt man auch damit nicht mehr aus.
Dabei hatte man noch in Kauf nehmen müssen, daß durch die Zurückziehung
zahlreicher kleinerer Schiffe von überseeischen Stationen dort der Eindruck
hervorgerufen worden ist, daß die britische Seemacht zurückgehe, was nach dem
plötzlichen Emporkommen der japanischen Flotte und der nordamerikanischen
Demonstrationsfahrt keineswegs unbedenklich, für den britischen Scemachtsstolz
aber geradezu unerträglich ist.

Um alle diese Unannehmlichkeiten loszuwerden und künftigen Schwierig¬
keiten aus eigner Kraft gewachsen zu sein, bedarf die britische Wehrmacht zu
Wasser wie zu Lande eines sehr starken Zuwachses an Mannschaften, den das
ohnehin sehr teure Werbesystem trotz aller neuern Anreizmittel in keinem Falle
mehr zu schaffen vermag. Die politischen Führer, soweit sie imperialistisch sind,
das heißt die englische Weltmacht erhalten wollen, sind sich vollkommen klar
darüber, daß nur die allgemeine Wehrpflicht diesen Zuwachs bringen kann,
aber sie sagen es beileibe nicht alle und am wenigsten laut, sondern sie gehn
mit verteilten Rollen vor, denn es gilt, mit kluger Taktik ein weit verbreitetes
Vorurteil zu überwinden. Wie tief die Abneigung gegen die allgemeine Wehr¬
pflicht in England geht, konnte man wieder aus den kürzlich (Grenzboten 1909,
III, S. 163) veröffentlichten Äußerungen George Gissings ersehn. In den
Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht wird man sie neben den übrigen durchaus
gesunden und vernünftigen Ansichten des Verfassers ziemlich unbegreiflich finden.
Doch hat man vor fünfzig Jahren in Deutschland außerhalb Preußens genau
denselben Standpunkt eingenommen. Auch England wird die Vorurteile über¬
winden lernen. Falsch ist dagegen die in vielen deutschen Kreisen geteilte Ansicht,
daß der besser situierte Brite zu schlaff und bequem sei, um selbst den Tornister
auf den Rücken zu nehmen. Die britische Abneigung gegen die allgemeine
Wehrpflicht gründet sich vielmehr auf die geringe Achtung, die infolge des
Söldnersystems der Militärstand selbst mit Einschluß der Offiziere genießt; das
war aber früher in Deutschland auch nicht anders. Ferner darauf, daß der


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[0502] Die Weltbewegung in England der Burenkrieg, der gegen einen viel schwächern Gegner geführt wurde, schon ergeben hat, obgleich das Heimatland ohne jeden militärischen Schutz gelassen werden mußte. Auf die Unterstützung der japanischen Verbündeten, deren zwei¬ schneidige Natur man durchschaut hat, wird man nur im äußersten Notfalle zurückgreifen wollen. Auch die erweiterte Flotte erfordert einen bedeutend zahlreichern Maunschaftsstcmd. Dreadnoughts kann mau wohl für Geld bauen, aber sie müssen auch ausreichend bemannt werden. Die Besatzungen der englischen Kriegsdampfer sind ohnehin seit langen Jahren schon viel schwächer als die der gleichwertigen Schiffe der meisten andern Seemächte. Man hat sich nun seit einiger Zeit damit beholfen, durch Ausscheidung veralteter, aber noch keineswegs sehr alter Fahrzeuge Mannschaften für die Verstärkung der Besatzungen der immer größer gewordnen Kriegsschiffe zu gewinnen, aber für die neuste Steigerung der Größen- und Besatzungsverhältnisse kommt man auch damit nicht mehr aus. Dabei hatte man noch in Kauf nehmen müssen, daß durch die Zurückziehung zahlreicher kleinerer Schiffe von überseeischen Stationen dort der Eindruck hervorgerufen worden ist, daß die britische Seemacht zurückgehe, was nach dem plötzlichen Emporkommen der japanischen Flotte und der nordamerikanischen Demonstrationsfahrt keineswegs unbedenklich, für den britischen Scemachtsstolz aber geradezu unerträglich ist. Um alle diese Unannehmlichkeiten loszuwerden und künftigen Schwierig¬ keiten aus eigner Kraft gewachsen zu sein, bedarf die britische Wehrmacht zu Wasser wie zu Lande eines sehr starken Zuwachses an Mannschaften, den das ohnehin sehr teure Werbesystem trotz aller neuern Anreizmittel in keinem Falle mehr zu schaffen vermag. Die politischen Führer, soweit sie imperialistisch sind, das heißt die englische Weltmacht erhalten wollen, sind sich vollkommen klar darüber, daß nur die allgemeine Wehrpflicht diesen Zuwachs bringen kann, aber sie sagen es beileibe nicht alle und am wenigsten laut, sondern sie gehn mit verteilten Rollen vor, denn es gilt, mit kluger Taktik ein weit verbreitetes Vorurteil zu überwinden. Wie tief die Abneigung gegen die allgemeine Wehr¬ pflicht in England geht, konnte man wieder aus den kürzlich (Grenzboten 1909, III, S. 163) veröffentlichten Äußerungen George Gissings ersehn. In den Ländern mit allgemeiner Wehrpflicht wird man sie neben den übrigen durchaus gesunden und vernünftigen Ansichten des Verfassers ziemlich unbegreiflich finden. Doch hat man vor fünfzig Jahren in Deutschland außerhalb Preußens genau denselben Standpunkt eingenommen. Auch England wird die Vorurteile über¬ winden lernen. Falsch ist dagegen die in vielen deutschen Kreisen geteilte Ansicht, daß der besser situierte Brite zu schlaff und bequem sei, um selbst den Tornister auf den Rücken zu nehmen. Die britische Abneigung gegen die allgemeine Wehrpflicht gründet sich vielmehr auf die geringe Achtung, die infolge des Söldnersystems der Militärstand selbst mit Einschluß der Offiziere genießt; das war aber früher in Deutschland auch nicht anders. Ferner darauf, daß der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/502>, abgerufen am 23.07.2024.