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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Die Weltbewegung in England

diesem Falle das deutsche Volk nicht stand, im Auslande nicht die Lust geweckt
hat, ob man nicht einmal einen Einschüchterungsversuch bei den Leitern der
deutschen Politik riskieren könne, mag hier dahingestellt bleiben. Die persönliche
politische Regsamkeit König Eduards bezweckte bloß, die durch die unverständige
Abschließungspolitik verlorengegcmgnen und durch den Vurenkrieg und das
merkwürdige Bündnis mit Japan wahrhaftig nicht gesteigerten Sympathien
Europas für das britische Volk wieder zu beleben und dieses dadurch in seinem
Nationalgefühl zu kräftige", denn dessen Stärke ist in der Gegenwart nötiger
als je.

Im Willen zum Leben liegt der Völker Wurzel und Zukunft. In aller
Völker Leben zeigt sich auch ein fortwährender Wechsel der Daseinsziele. England
steht an einem Wendepunkt seiner Geschicke. Seine Stellung in Asien ist durch
die japanischen Siege viel mehr erschüttert worden, als es durch die Aus¬
breitungsbestrebungen Rußlands je der Fall war, denn der Aufruhrgeist in
Indien und anderswo ist hauptsächlich durch die gewaltigen Erfolge jenes
asiatischen Volks erzeugt worden, dem England durch seine Bundesgenossenschaft
freie Bahn geschaffen und den Rücken gedeckt hat. Was im besondern Indien
betrifft, so stellt sich je länger je deutlicher heraus, daß es die Furcht vor
Rußland war, die die britische Herrschaft als das kleinere Übel erscheinen ließ.
Seit diese Furcht geschwunden ist, zeigt sich die indische Unbotmäßigkeit aller¬
orten. Gewisse Mißgriffe der britischen Verwaltung, auf die man mehrfach
hinweist, sind mehr der Anlaß als die Ursache der Unruhe. Die den Jndiern
längst bekannt gewordne Bestimmung des englisch-japanischen Bündnisses, die
Japan zur militärischen Mithilfe für den Fall eines indischen Aufstands verpflichtet,
hat bei ihnen die schon während des Burenkriegs leise aufgedümmertc Ansicht,
daß Englands Wehrmacht viel schwächer ist, als bisher geglaubt wurde, zur
völligen Überzeugung gemacht. Den Jndiern wäre ein Einmarsch der Japaner
gar nicht so unangenehm, denn deren asiatisches Wesen liegt ihnen viel näher
als das europäisch-britische. Mit ihnen würde sich leicht ein Einvernehmen
herstellen lassen; dann wäre es freilich um die Herrschaft der Engländer in
Indien geschehn, denn sie würden den gelben Verbündeten dort nicht leicht
wieder los werden. Das wissen die politischen Führer des britischen Volks ganz
genau, aber darüber sprechen sie nicht, auch die stets patriotisch empfindende
Presse tut es nicht, denn sie weiß, das wäre nicht klug. Bei uns würde sich
dagegen in einem ähnlichen Falle ein furchtbares Hallo erheben. Man weiß
ferner in England, daß die Entschlußfähigkeit und Tatkraft der Jndier nicht
groß ist, es ist also für heute und morgen noch nichts zu befürchten, auch ist
Japan auf Jahre hinaus noch mit sich und seinen neuen Erwerbungen vollauf
beschäftigt, es kann zurzeit gar nicht an neue Abenteuer denken und würde es
sogar mit Mißbehagen empfinden, wenn es jetzt von andrer Seite in solche
verwickelt würde. England hat also noch eine Reihe von Jahren Zeit, seine
Streitkräfte auf eine Höhe zu bringen, die die Anwendung des erwähnten


Die Weltbewegung in England

diesem Falle das deutsche Volk nicht stand, im Auslande nicht die Lust geweckt
hat, ob man nicht einmal einen Einschüchterungsversuch bei den Leitern der
deutschen Politik riskieren könne, mag hier dahingestellt bleiben. Die persönliche
politische Regsamkeit König Eduards bezweckte bloß, die durch die unverständige
Abschließungspolitik verlorengegcmgnen und durch den Vurenkrieg und das
merkwürdige Bündnis mit Japan wahrhaftig nicht gesteigerten Sympathien
Europas für das britische Volk wieder zu beleben und dieses dadurch in seinem
Nationalgefühl zu kräftige», denn dessen Stärke ist in der Gegenwart nötiger
als je.

Im Willen zum Leben liegt der Völker Wurzel und Zukunft. In aller
Völker Leben zeigt sich auch ein fortwährender Wechsel der Daseinsziele. England
steht an einem Wendepunkt seiner Geschicke. Seine Stellung in Asien ist durch
die japanischen Siege viel mehr erschüttert worden, als es durch die Aus¬
breitungsbestrebungen Rußlands je der Fall war, denn der Aufruhrgeist in
Indien und anderswo ist hauptsächlich durch die gewaltigen Erfolge jenes
asiatischen Volks erzeugt worden, dem England durch seine Bundesgenossenschaft
freie Bahn geschaffen und den Rücken gedeckt hat. Was im besondern Indien
betrifft, so stellt sich je länger je deutlicher heraus, daß es die Furcht vor
Rußland war, die die britische Herrschaft als das kleinere Übel erscheinen ließ.
Seit diese Furcht geschwunden ist, zeigt sich die indische Unbotmäßigkeit aller¬
orten. Gewisse Mißgriffe der britischen Verwaltung, auf die man mehrfach
hinweist, sind mehr der Anlaß als die Ursache der Unruhe. Die den Jndiern
längst bekannt gewordne Bestimmung des englisch-japanischen Bündnisses, die
Japan zur militärischen Mithilfe für den Fall eines indischen Aufstands verpflichtet,
hat bei ihnen die schon während des Burenkriegs leise aufgedümmertc Ansicht,
daß Englands Wehrmacht viel schwächer ist, als bisher geglaubt wurde, zur
völligen Überzeugung gemacht. Den Jndiern wäre ein Einmarsch der Japaner
gar nicht so unangenehm, denn deren asiatisches Wesen liegt ihnen viel näher
als das europäisch-britische. Mit ihnen würde sich leicht ein Einvernehmen
herstellen lassen; dann wäre es freilich um die Herrschaft der Engländer in
Indien geschehn, denn sie würden den gelben Verbündeten dort nicht leicht
wieder los werden. Das wissen die politischen Führer des britischen Volks ganz
genau, aber darüber sprechen sie nicht, auch die stets patriotisch empfindende
Presse tut es nicht, denn sie weiß, das wäre nicht klug. Bei uns würde sich
dagegen in einem ähnlichen Falle ein furchtbares Hallo erheben. Man weiß
ferner in England, daß die Entschlußfähigkeit und Tatkraft der Jndier nicht
groß ist, es ist also für heute und morgen noch nichts zu befürchten, auch ist
Japan auf Jahre hinaus noch mit sich und seinen neuen Erwerbungen vollauf
beschäftigt, es kann zurzeit gar nicht an neue Abenteuer denken und würde es
sogar mit Mißbehagen empfinden, wenn es jetzt von andrer Seite in solche
verwickelt würde. England hat also noch eine Reihe von Jahren Zeit, seine
Streitkräfte auf eine Höhe zu bringen, die die Anwendung des erwähnten


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[0498] Die Weltbewegung in England diesem Falle das deutsche Volk nicht stand, im Auslande nicht die Lust geweckt hat, ob man nicht einmal einen Einschüchterungsversuch bei den Leitern der deutschen Politik riskieren könne, mag hier dahingestellt bleiben. Die persönliche politische Regsamkeit König Eduards bezweckte bloß, die durch die unverständige Abschließungspolitik verlorengegcmgnen und durch den Vurenkrieg und das merkwürdige Bündnis mit Japan wahrhaftig nicht gesteigerten Sympathien Europas für das britische Volk wieder zu beleben und dieses dadurch in seinem Nationalgefühl zu kräftige», denn dessen Stärke ist in der Gegenwart nötiger als je. Im Willen zum Leben liegt der Völker Wurzel und Zukunft. In aller Völker Leben zeigt sich auch ein fortwährender Wechsel der Daseinsziele. England steht an einem Wendepunkt seiner Geschicke. Seine Stellung in Asien ist durch die japanischen Siege viel mehr erschüttert worden, als es durch die Aus¬ breitungsbestrebungen Rußlands je der Fall war, denn der Aufruhrgeist in Indien und anderswo ist hauptsächlich durch die gewaltigen Erfolge jenes asiatischen Volks erzeugt worden, dem England durch seine Bundesgenossenschaft freie Bahn geschaffen und den Rücken gedeckt hat. Was im besondern Indien betrifft, so stellt sich je länger je deutlicher heraus, daß es die Furcht vor Rußland war, die die britische Herrschaft als das kleinere Übel erscheinen ließ. Seit diese Furcht geschwunden ist, zeigt sich die indische Unbotmäßigkeit aller¬ orten. Gewisse Mißgriffe der britischen Verwaltung, auf die man mehrfach hinweist, sind mehr der Anlaß als die Ursache der Unruhe. Die den Jndiern längst bekannt gewordne Bestimmung des englisch-japanischen Bündnisses, die Japan zur militärischen Mithilfe für den Fall eines indischen Aufstands verpflichtet, hat bei ihnen die schon während des Burenkriegs leise aufgedümmertc Ansicht, daß Englands Wehrmacht viel schwächer ist, als bisher geglaubt wurde, zur völligen Überzeugung gemacht. Den Jndiern wäre ein Einmarsch der Japaner gar nicht so unangenehm, denn deren asiatisches Wesen liegt ihnen viel näher als das europäisch-britische. Mit ihnen würde sich leicht ein Einvernehmen herstellen lassen; dann wäre es freilich um die Herrschaft der Engländer in Indien geschehn, denn sie würden den gelben Verbündeten dort nicht leicht wieder los werden. Das wissen die politischen Führer des britischen Volks ganz genau, aber darüber sprechen sie nicht, auch die stets patriotisch empfindende Presse tut es nicht, denn sie weiß, das wäre nicht klug. Bei uns würde sich dagegen in einem ähnlichen Falle ein furchtbares Hallo erheben. Man weiß ferner in England, daß die Entschlußfähigkeit und Tatkraft der Jndier nicht groß ist, es ist also für heute und morgen noch nichts zu befürchten, auch ist Japan auf Jahre hinaus noch mit sich und seinen neuen Erwerbungen vollauf beschäftigt, es kann zurzeit gar nicht an neue Abenteuer denken und würde es sogar mit Mißbehagen empfinden, wenn es jetzt von andrer Seite in solche verwickelt würde. England hat also noch eine Reihe von Jahren Zeit, seine Streitkräfte auf eine Höhe zu bringen, die die Anwendung des erwähnten

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/498>, abgerufen am 02.10.2024.