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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Liizenart

wo sich meine Ansicht von der der Ausländer scheidet. Ich behaupte: wählerisch
und gesittet in der Rede sein, rührt nicht direkt vom Puritcinismus her, wie
unsre Literatur zur Genüge beweist; es ist die Folge einer verfeinerten
Zivilisation, die das Beste der puritanischen Maximen in sich aufgenommen und
in Fleisch und Blut der Nation übergeführt hat. Wir Engländer, die wir
unsre Frauen durch jahrelange Erfahrung kennen, wissen, daß ihre Achtsamkeit
in der Wahl der Worte der veredelten Bildung ihres innersten Wesens ent¬
spricht. Landor fand es einen lächerlichen Zug in dem Charakter der Eng¬
länder, daß sie über alles, was ihren eignen Körper betrifft, nur schüchterne
Anspielungen macheu. De Quincey, um seine Meinung befragt, erklärte, ihm
sei dies ein Beweis ungezwungner Zartgefühls infolge des langen Aufenthalts
in Italien. Ob seine Erklärung stichhaltig ist oder nicht, ich für meine Person
glaube, De Quincey hat vollkommen recht. Es ist ganz gut, nur andeutungs¬
weise vou allem sprechen, was an das Tierische im Menschen erinnert. Wenn
auch die Vermeidung jedes derben Wortes nicht an und für sich das Kennzeichen
einer höhern Zivilisation ist, so strebt doch sicherlich jede vorwärts schreitende
Zivilisation nach einer Verfeinerung im Ausdruck.

Großartig sind die Veränderungen, die England während der letzten dreißig
Jahre umgestaltet haben. Es ist schwer, beinahe unmöglich zu bestimme", in¬
wiefern sie auf den Charakter der Nation eingewirkt haben. In die Augen springend
sind: Abnahme des konventionellen Kircheuglanbens, freimütige Kritik veralteter
Moralpriuzipicn, infolgedessen Zunahme des Materialismus und anarchische Ge¬
lüste. Ist dabei nicht auch zu befürchten, daß sich unsre dünkelhafte Selbstgerechtigkeit
in das noch viel häßlichere Laster der Heuchelei umwandeln werde? Sollte es
jemals so weit kommen, daß die Engländer den Glauben an sich selbst, das
heißt nicht nur an die Stärke ihrer Vortrefflichkeit, sondern auch an den Wert
ihres Beispiels für andre Nationen verlieren, so würde eine so entsetzliche
Korruption über das englische Volk hereinbrechen, wie sie noch nie in der Ge¬
schichte vorgekommen ist. Niemand, der in England geboren und erzogen worden
ist, hegt den geringsten Zweifel, daß die hohen, wenn auch uicht die höchsten
ethischen Ideale der Vorzeit noch jetzt aufrichtige Verehrung genießen; ebenso¬
wenig wird jemand in Abrede stellen, daß die Leute "die Besten" unter uns
genannt werden, die, unbeeinflußt durch den modernen Zeitgeist, im wahren
Sinne ein ehrenhaftes, verständiges und gottgefälliges Leben führen, seien sie
nun Männer oder Frauen, vornehmer oder geringer Abkunft. Solche vortreff¬
liche Menschen bilden bekanntlich nie und nirgends die Mehrzahl; aber sie übten
in frühern Zeiten einen mächtigen Einfluß aus und waren die unbestrittnen
Repräsentanten der englischen Moralität. Dachten sie hoch von sich, die Um¬
stände rechtfertigten sie. Klang ihre Rede zuweilen pharisäisch, so war das ein
Fehler ihres Naturells, der nicht zu streng verurteilt werden darf. Heuchelei
verabscheuten sie als die schlimmste Art niedriger Gesinnung. Auch ihre Nach¬
kommen blieben dieselben. Ob deren Worte ebensoviel Geltung haben werden


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wo sich meine Ansicht von der der Ausländer scheidet. Ich behaupte: wählerisch
und gesittet in der Rede sein, rührt nicht direkt vom Puritcinismus her, wie
unsre Literatur zur Genüge beweist; es ist die Folge einer verfeinerten
Zivilisation, die das Beste der puritanischen Maximen in sich aufgenommen und
in Fleisch und Blut der Nation übergeführt hat. Wir Engländer, die wir
unsre Frauen durch jahrelange Erfahrung kennen, wissen, daß ihre Achtsamkeit
in der Wahl der Worte der veredelten Bildung ihres innersten Wesens ent¬
spricht. Landor fand es einen lächerlichen Zug in dem Charakter der Eng¬
länder, daß sie über alles, was ihren eignen Körper betrifft, nur schüchterne
Anspielungen macheu. De Quincey, um seine Meinung befragt, erklärte, ihm
sei dies ein Beweis ungezwungner Zartgefühls infolge des langen Aufenthalts
in Italien. Ob seine Erklärung stichhaltig ist oder nicht, ich für meine Person
glaube, De Quincey hat vollkommen recht. Es ist ganz gut, nur andeutungs¬
weise vou allem sprechen, was an das Tierische im Menschen erinnert. Wenn
auch die Vermeidung jedes derben Wortes nicht an und für sich das Kennzeichen
einer höhern Zivilisation ist, so strebt doch sicherlich jede vorwärts schreitende
Zivilisation nach einer Verfeinerung im Ausdruck.

Großartig sind die Veränderungen, die England während der letzten dreißig
Jahre umgestaltet haben. Es ist schwer, beinahe unmöglich zu bestimme», in¬
wiefern sie auf den Charakter der Nation eingewirkt haben. In die Augen springend
sind: Abnahme des konventionellen Kircheuglanbens, freimütige Kritik veralteter
Moralpriuzipicn, infolgedessen Zunahme des Materialismus und anarchische Ge¬
lüste. Ist dabei nicht auch zu befürchten, daß sich unsre dünkelhafte Selbstgerechtigkeit
in das noch viel häßlichere Laster der Heuchelei umwandeln werde? Sollte es
jemals so weit kommen, daß die Engländer den Glauben an sich selbst, das
heißt nicht nur an die Stärke ihrer Vortrefflichkeit, sondern auch an den Wert
ihres Beispiels für andre Nationen verlieren, so würde eine so entsetzliche
Korruption über das englische Volk hereinbrechen, wie sie noch nie in der Ge¬
schichte vorgekommen ist. Niemand, der in England geboren und erzogen worden
ist, hegt den geringsten Zweifel, daß die hohen, wenn auch uicht die höchsten
ethischen Ideale der Vorzeit noch jetzt aufrichtige Verehrung genießen; ebenso¬
wenig wird jemand in Abrede stellen, daß die Leute „die Besten" unter uns
genannt werden, die, unbeeinflußt durch den modernen Zeitgeist, im wahren
Sinne ein ehrenhaftes, verständiges und gottgefälliges Leben führen, seien sie
nun Männer oder Frauen, vornehmer oder geringer Abkunft. Solche vortreff¬
liche Menschen bilden bekanntlich nie und nirgends die Mehrzahl; aber sie übten
in frühern Zeiten einen mächtigen Einfluß aus und waren die unbestrittnen
Repräsentanten der englischen Moralität. Dachten sie hoch von sich, die Um¬
stände rechtfertigten sie. Klang ihre Rede zuweilen pharisäisch, so war das ein
Fehler ihres Naturells, der nicht zu streng verurteilt werden darf. Heuchelei
verabscheuten sie als die schlimmste Art niedriger Gesinnung. Auch ihre Nach¬
kommen blieben dieselben. Ob deren Worte ebensoviel Geltung haben werden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/474>, abgerufen am 23.07.2024.