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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

nach dem höchsten nationalen Aufschwung Abspannung und Stumpfsinn überall um
sich gegriffen hatten. Man kann bedauern, daß England der wahren Religion den
Rücken kehrte, indem es die Bücher Israels zur Richtschnur nahm. Die plötz¬
liche Leidenschaft unsers Volkes für die starre Theokratie der Orientalen läßt
sich wohl erklären; aber man wünscht doch, die Frömmigkeit wäre in einer
andern Form zum Ausdruck gekommen. Später folgte der "Exodus von
Houndsditch" mit all seinein Elend. Dieser Preis mußte für die Gesundung
der Geister bezahlt werden. Wir müssen die Tatsachen hinnehmen, wie sie waren,
und uns mit der Erkenntnis zufriedengeben, daß sie für eine bessere Zukunft
von großer Bedeutung gewesen sind. Geistige Gesundheit bleibt -- wenn
man von der Menschheit im allgemeinen spricht -- immer ein relativer Begriff.
So war im speziellen Fall das puritanische England -- wenn man es vom
Standpunkt einer wirklichen Zivilisation beurteilt -- krank zum Erbarmen; allein
wir dürfen nicht fragen, wie viel besser ein Volk Hütte sein können, sondern,
wie viel schlechter. Die Puritaner bekannten sich, wenn auch unter einem andern
Namen, zum Manichäismus, dem logischsten aller theologischen Systeme. Ohne
ihre Auflehnung gegen die Staatsreligion wäre die sogenannte "Restauration
der Moral" -- das heißt die Moral eines Königs und seines Hofes -- über
die ganze Nation durch die Dynastie der Stuarts verbreitet worden.

Unschätzbar ist, was der Puritanismus für die politische Entwicklung ge¬
leistet hat; es wird das deutlicher erkannt werden, wenn etwa England aber¬
mals von der Gefahr einer tyrannischen Herrschaft bedroht werden sollte.
Ich will hier nur seine Wirkungen ans das soziale Leben betrachten. Dem
Puritanismus verdanken wir eine für uns charakteristische Eigenschaft, die die
Ausländer "englische Prüderie" nennen, und die sie zugleich mit dem allgemein
üblichen Vorwurf der Heuchelei in einen Topf werfen. Manche unter uns be¬
haupten, die prüden Sitten seien im Absterben; man vernimmt das mit hoher
Befriedigung und sieht es als ein Zeichen gesunder Emanzipation der Geister
an. Wenn man aber als "prüde" die Leute bezeichnet, die trotz ihrer heim¬
lichen Laster ein höchst tugendhaftes Betragen affektieren und zur Schau tragen,
dann mögen alle Prüden so schnell als möglich verschwinden, sollte auch die
Sittsnmkeit darunter leiden. Wenn dagegen als "prüd" schon der verschrien
wird, der aus Grundsatz und Liebhaberei und als Gentleman darauf achtet,
das "Allzumenschlichc" mit äußerster Behutsamkeit im Denken und Sprechen
zu behandeln, so halte ich das für sehr verkehrt und wünsche nicht, daß diese
Art von Prüderie in Mißkredit käme. Sie ist es, die gewisse Ausländer als
"englische Prüderie", hauptsächlich des weiblichen Geschlechts, verspotten; wobei
fie die Frauen nicht etwa wegen ihrer Keuschheit tadeln, sondern ihnen ihr
zimperlich keusches Benehmen zum Vorwurf machen. Eine Engländerin, die
das Muster einer Spröden ist, kann so rein sein wie Schnee und doch in dem
Verdacht stehn, noch eine andre Eigenschaft des Schnees zu haben und deshalb
ein ganz absurdes, unerträgliches Geschöpf zu sein. Das nun ist der Punkt,


Englische Eigenart

nach dem höchsten nationalen Aufschwung Abspannung und Stumpfsinn überall um
sich gegriffen hatten. Man kann bedauern, daß England der wahren Religion den
Rücken kehrte, indem es die Bücher Israels zur Richtschnur nahm. Die plötz¬
liche Leidenschaft unsers Volkes für die starre Theokratie der Orientalen läßt
sich wohl erklären; aber man wünscht doch, die Frömmigkeit wäre in einer
andern Form zum Ausdruck gekommen. Später folgte der „Exodus von
Houndsditch" mit all seinein Elend. Dieser Preis mußte für die Gesundung
der Geister bezahlt werden. Wir müssen die Tatsachen hinnehmen, wie sie waren,
und uns mit der Erkenntnis zufriedengeben, daß sie für eine bessere Zukunft
von großer Bedeutung gewesen sind. Geistige Gesundheit bleibt — wenn
man von der Menschheit im allgemeinen spricht — immer ein relativer Begriff.
So war im speziellen Fall das puritanische England — wenn man es vom
Standpunkt einer wirklichen Zivilisation beurteilt — krank zum Erbarmen; allein
wir dürfen nicht fragen, wie viel besser ein Volk Hütte sein können, sondern,
wie viel schlechter. Die Puritaner bekannten sich, wenn auch unter einem andern
Namen, zum Manichäismus, dem logischsten aller theologischen Systeme. Ohne
ihre Auflehnung gegen die Staatsreligion wäre die sogenannte „Restauration
der Moral" — das heißt die Moral eines Königs und seines Hofes — über
die ganze Nation durch die Dynastie der Stuarts verbreitet worden.

Unschätzbar ist, was der Puritanismus für die politische Entwicklung ge¬
leistet hat; es wird das deutlicher erkannt werden, wenn etwa England aber¬
mals von der Gefahr einer tyrannischen Herrschaft bedroht werden sollte.
Ich will hier nur seine Wirkungen ans das soziale Leben betrachten. Dem
Puritanismus verdanken wir eine für uns charakteristische Eigenschaft, die die
Ausländer „englische Prüderie" nennen, und die sie zugleich mit dem allgemein
üblichen Vorwurf der Heuchelei in einen Topf werfen. Manche unter uns be¬
haupten, die prüden Sitten seien im Absterben; man vernimmt das mit hoher
Befriedigung und sieht es als ein Zeichen gesunder Emanzipation der Geister
an. Wenn man aber als „prüde" die Leute bezeichnet, die trotz ihrer heim¬
lichen Laster ein höchst tugendhaftes Betragen affektieren und zur Schau tragen,
dann mögen alle Prüden so schnell als möglich verschwinden, sollte auch die
Sittsnmkeit darunter leiden. Wenn dagegen als „prüd" schon der verschrien
wird, der aus Grundsatz und Liebhaberei und als Gentleman darauf achtet,
das „Allzumenschlichc" mit äußerster Behutsamkeit im Denken und Sprechen
zu behandeln, so halte ich das für sehr verkehrt und wünsche nicht, daß diese
Art von Prüderie in Mißkredit käme. Sie ist es, die gewisse Ausländer als
»englische Prüderie", hauptsächlich des weiblichen Geschlechts, verspotten; wobei
fie die Frauen nicht etwa wegen ihrer Keuschheit tadeln, sondern ihnen ihr
zimperlich keusches Benehmen zum Vorwurf machen. Eine Engländerin, die
das Muster einer Spröden ist, kann so rein sein wie Schnee und doch in dem
Verdacht stehn, noch eine andre Eigenschaft des Schnees zu haben und deshalb
ein ganz absurdes, unerträgliches Geschöpf zu sein. Das nun ist der Punkt,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/473>, abgerufen am 22.12.2024.