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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

und auf die er nichts gibt, weil er gar nicht die Fähigkeit hat, sie sich anzu¬
eignen. Seine eigne Weltanschauung -- und gewöhnlich hat er eine, da er
ein Mann von Verstand ist -- behält er für sich; sie ist immer verschieden
von der Weltanschauung derer, denen er etwas vorheuchelt. Tartüff ist de^
beste Beispiel. Er ist aus Grundsatz Atheist und Sensualist; er blickt ver¬
ächtlich auf alle, die eine andre Auffassung vom Leben haben. Seine Denk¬
weise trifft man bei Engländern höchst selten an; sie bei unsern typischen Geld¬
menschen anzunehmen, weil sie von frommen Sentimentalitäten überfließen,
wäre ganz verkehrt. Der gewöhnliche ausländische Journalist begeht diesen
Irrtum, da er von englischen Zustünden so viel wie nichts versteht. Die besser
Unterrichteten von ihnen gebrauchen das Wort "Heuchelei" -- wenn sie es
überhaupt in den Mund nehmen -- nur obenhin, ohne an den eigentlichen
Sinn zu denken. Behandeln sie den Gegenstand eingehender und drücken sie
sich präziser aus, so charakterisieren sie das englische Wesen als "pharisäisch" --
und damit kommen sie der Wahrheit näher.

Unser Nationalfchler ist Selbstgerechtigkeit. Wir sind wesentlich ein alt¬
testamentarisches Volk; das wahre Christentum hat niemals Eingang in unsre
Herzen gefunden; wir sehen uns als das auserwählte Volk Gottes an, und
wir vermögen trotz unsrer kirchlichen Frömmigkeit niemals demütigen Geistes
zu werden. Das macht uns aber nicht zu Heuchlern. Ein Prahlhans von
Parvenü, der eine Kirche baut, opfert nicht allein deswegen große Summen,
damit er hohes Ansehen gewinne, sondern auch weil er in seiner beschränkten
kleinen Seele den Glauben hegt, wenn er überhaupt einen hat, er tue damit
ein gottgefälliges und für die Menschen segensreiches Werk. Mag er für jedes
Goldstück, das er erworben, hundertmal gelogen und betrogen, mag er sein
Leben mit unsaubern Geschäften beschmutzt und aus Hartherzigkeit und in
Niedertracht mancherlei verbrochen haben: er tat es im Widerspruch mit seinen,
Gewissen. Sobald sich eine Gelegenheit darbietet, sucht er seine Sündenschuld
nach den Vorschriften seines Glaubens und zugleich in der Weise zu tilgen,
daß er des Beifalls der öffentlichen Meinung gewiß ist. Seine Religion besteht
wenn man genau zusieht -- in dem unerschütterlichen Glauben an seine
eigne Religiosität. Und zugleich pocht er darauf, als Engländer die einzig
echte Frömmigkeit und Moralität zu haben. Daß er hie und da auf Abwege
geraten, gibt er zu, nie aber (dabei macht er vielleicht eine schlaue, etwas ver¬
dächtige Miene), daß er jemals seinem Glauben untreu geworden sei. Wenn
er bei öffentlichen Diners und ähnlichen Festlichkeiten seine Stimme zu salbungs¬
vollen Tönen erhebt, steckt hinter seiner Rede nicht die geringste Heuchelei.
Er glaubt jedes Wort, das er spricht. Wird er überschwenglich gefühlvoll, so drückt
er nicht individuelle Empfindungen, sondern die eines Engländers überhaupt ans,
wobei er fest überzeugt ist, daß seine Zuhörer warmherzige Anhänger seiner
Gesinnung sind. Er ist, wenn man will, ein Pharisäer, aber nicht in sub¬
jektivem Sinne. Ein Mann, der durch und durch Pharisäer ist, ist eine andre


Grenzboten III !M9 M
Englische Eigenart

und auf die er nichts gibt, weil er gar nicht die Fähigkeit hat, sie sich anzu¬
eignen. Seine eigne Weltanschauung — und gewöhnlich hat er eine, da er
ein Mann von Verstand ist — behält er für sich; sie ist immer verschieden
von der Weltanschauung derer, denen er etwas vorheuchelt. Tartüff ist de^
beste Beispiel. Er ist aus Grundsatz Atheist und Sensualist; er blickt ver¬
ächtlich auf alle, die eine andre Auffassung vom Leben haben. Seine Denk¬
weise trifft man bei Engländern höchst selten an; sie bei unsern typischen Geld¬
menschen anzunehmen, weil sie von frommen Sentimentalitäten überfließen,
wäre ganz verkehrt. Der gewöhnliche ausländische Journalist begeht diesen
Irrtum, da er von englischen Zustünden so viel wie nichts versteht. Die besser
Unterrichteten von ihnen gebrauchen das Wort „Heuchelei" — wenn sie es
überhaupt in den Mund nehmen — nur obenhin, ohne an den eigentlichen
Sinn zu denken. Behandeln sie den Gegenstand eingehender und drücken sie
sich präziser aus, so charakterisieren sie das englische Wesen als „pharisäisch" —
und damit kommen sie der Wahrheit näher.

Unser Nationalfchler ist Selbstgerechtigkeit. Wir sind wesentlich ein alt¬
testamentarisches Volk; das wahre Christentum hat niemals Eingang in unsre
Herzen gefunden; wir sehen uns als das auserwählte Volk Gottes an, und
wir vermögen trotz unsrer kirchlichen Frömmigkeit niemals demütigen Geistes
zu werden. Das macht uns aber nicht zu Heuchlern. Ein Prahlhans von
Parvenü, der eine Kirche baut, opfert nicht allein deswegen große Summen,
damit er hohes Ansehen gewinne, sondern auch weil er in seiner beschränkten
kleinen Seele den Glauben hegt, wenn er überhaupt einen hat, er tue damit
ein gottgefälliges und für die Menschen segensreiches Werk. Mag er für jedes
Goldstück, das er erworben, hundertmal gelogen und betrogen, mag er sein
Leben mit unsaubern Geschäften beschmutzt und aus Hartherzigkeit und in
Niedertracht mancherlei verbrochen haben: er tat es im Widerspruch mit seinen,
Gewissen. Sobald sich eine Gelegenheit darbietet, sucht er seine Sündenschuld
nach den Vorschriften seines Glaubens und zugleich in der Weise zu tilgen,
daß er des Beifalls der öffentlichen Meinung gewiß ist. Seine Religion besteht
wenn man genau zusieht — in dem unerschütterlichen Glauben an seine
eigne Religiosität. Und zugleich pocht er darauf, als Engländer die einzig
echte Frömmigkeit und Moralität zu haben. Daß er hie und da auf Abwege
geraten, gibt er zu, nie aber (dabei macht er vielleicht eine schlaue, etwas ver¬
dächtige Miene), daß er jemals seinem Glauben untreu geworden sei. Wenn
er bei öffentlichen Diners und ähnlichen Festlichkeiten seine Stimme zu salbungs¬
vollen Tönen erhebt, steckt hinter seiner Rede nicht die geringste Heuchelei.
Er glaubt jedes Wort, das er spricht. Wird er überschwenglich gefühlvoll, so drückt
er nicht individuelle Empfindungen, sondern die eines Engländers überhaupt ans,
wobei er fest überzeugt ist, daß seine Zuhörer warmherzige Anhänger seiner
Gesinnung sind. Er ist, wenn man will, ein Pharisäer, aber nicht in sub¬
jektivem Sinne. Ein Mann, der durch und durch Pharisäer ist, ist eine andre


Grenzboten III !M9 M
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/471>, abgerufen am 23.07.2024.