Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.<Lin philosophischer Roman Auf seiner Pilgerfahrt durch die Entwicklungsstadien des menschlichen Es ist die schöne Menschlichkeit, was Aristipp lehrt, das, was der Grenzboten III 1909 59
<Lin philosophischer Roman Auf seiner Pilgerfahrt durch die Entwicklungsstadien des menschlichen Es ist die schöne Menschlichkeit, was Aristipp lehrt, das, was der Grenzboten III 1909 59
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<Lin philosophischer Roman
Auf seiner Pilgerfahrt durch die Entwicklungsstadien des menschlichen
Denkens bei Aristipp angelangt, machte Marius halt. In dessen Lehre „lag
etwas, was mit dem Orte stimmte, an dem sie geboren war, und eine Zeit
lang lebte Marius im Geiste viel in jener glänzenden griechischen Kolonie,
die der Philosophie des Genusses ihren leicht mißzudeutender Namen gab.
Sie hing für seine Phantasie zwischen den Bergen und dem Meere, mitten
in Gärten, die reicher waren als die italienischen, auf einem luftigen Tafel¬
land an der afrikanischen Küste. Dort hatte sich in einem herrlichen Klima
von fast transalpiner Milde, und bei aller Üppigkeit in einer Atmosphäre der
Mäßigung, die Schule von Kyrene erhalten, beinahe identisch mit der Familie
des Gründers, sicherlich nicht als etwas Rohes und Unsauberes, und oft unter
dem Einfluß gebildeter Frauen." Die Skepsis, in die alle theoretische Grübelei
auszulaufen pflegt, hatte Aristipp in eine feine praktische Weisheit umgebogen.
„Der Unterschied zwischen ihm und den dunkeln Denkern der frühern Zeit ist
beinahe der gleiche wie zwischen einem alten Denker überhaupt und einem
modernen Manne der Welt: es war der Unterschied zwischen dem Mystiker
in seiner Zelle oder dem Propheten in der Wüste und dem erfahrnen kosmo¬
politischen Verweser seiner dunkeln Aussprüche, der diese in die Sprache des
Gefühls übersetzt" und praktisch verwertet. Die Überzeugung des Aristipp,
daß alle Dinge, den Menschen selbst einbegriffen, nur vorübereilende Schatten
seien, hätte ihn zu entnervender Resignation verleiten können. Davor be¬
wahrte ihn sein glückliches Temperament. Er zog daraus die Folgerungen,
und Marius zog sie mit ihm, die Horaz in seinem eaips alsen zusammen¬
gefaßt hat. Setzen wir voraus, das Leben sei wirklich nur ein Schattenspiel,
so können wir auch dann noch „mit sorgsamer Selbstachtung unsre Seelen
schmücken und verschönern und alles, woran unsre Seelen rühren: diese
wundervollen Körper, diese irdischen Wohnorte, durch die die Schatten eine
Weile gemeinsam ziehen, die Kleidung, die wir tragen, unsern Zeitvertreib und
den Verkehr in der Gesellschaft".
Es ist die schöne Menschlichkeit, was Aristipp lehrt, das, was der
Moderne gern Kultur nennt. Unter seiner Leitung gelangte Marius zu dem
Entschlüsse, alles, was wir nicht wissen können, dahingestellt sein lassen, Be¬
dauern des Vergangnen und Verlangen nach einem Zukünftigen möglichst
auszuschließen „und sich mit absolut freiem Geiste der Verschönerung des
Gegenwärtigen hinzugeben. Angenommen, daß wir niemals über die Wände
der engen verschlossenen Zelle unsrer Persönlichkeit hinauskommen, daß die
Vorstellungen, die wir uns von einer äußern Welt und von andern uns ver¬
wandten Geistern zu bilden getrieben fühlen, nichts sind als ein wacher
Traum, und der Gedanke an eine jenseitige Welt ein noch müßigerer Tages¬
traum: dann konnte wenigstens er, dem diese flüchtigen Eindrücke wie Ge¬
sichter, Stimmen und Sonnenschein sehr wirklich waren, überlegen, wie er
solche Wirklichkeiten durch Übung der Aufnahmefähigkeit zwingen könne, ihr
Grenzboten III 1909 59
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