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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Die Entstehung des chinesischen Staates

der Mitte" bedeutet wirklich "mittelstes Reich" und bezeichnet zunächst nur die
königliche Domäne oder die Hauptstadt, die tatsächlich ursprünglich in der Mitte
lag. Der Ausdruck ist erst später auf ganz China übertragen worden.

Aber nicht von der Zentralprovinz, sondern von den Grenzländern ist die
Geschichte Chinas bestimmt. Sie standen ursprünglich im Lehnsverhältnis zu
einem "König", das heißt dem Herrn des innern Kulturlandes, und hatten
vor allem die Aufgabe, rings um das "Mittelreich" eine Schutzwehr gegen
die Barbaren zu bilden. Deshalb hatten die Verwalter der Grenzmarken, die
Markgrafen, zugleich die militärische Macht in Händen. Die Markgrafenschaften
sind durch ihre Stellung die Sicherung des Staates, aber oft auch sein Ver¬
derben gewesen. Zunächst war das Entscheidende für die weitere Entwicklung,
daß dem innern Königslande jede Möglichkeit genommen war, das eigne Gebiet
und die eigne Macht zu erweitern; denn von allen Seiten war es von Va¬
sallenstaaten umschlossen. Diese aber hatten durch Vordringen in die Varbaren-
länder eine nahezu unbegrenzte Möglichkeit, ihre Macht auszudehnen. Die
Marken waren nicht nur ein starkes Bollwerk des Staates gegen das Barbaren¬
tum, sondern wurden mit Erweiterung ihrer Grenzen immer mehr selbständige
Kulturgebiete, deren Wirkung weithin über ihre Grenzen reichte.

So entwickelten sich die Lehen an der Reichsgrenze zu halbbarbarischen
Staaten von oft gewaltigem Umfang, deren politisches Schwergewicht von selbst
auf das Mutterland drückte. Dazu kam als Wirkung der chinesischen Expansion
die Bildung von Barbarenstaaten an den Grenzen des Reiches. Die koloniale
und kriegerische Ausdehnung Chinas hat den Widerstand und damit die Kraft
zu politischem Zusammenschluß in den Nomadenvölkern Nord- und Jnnerasiens
erst geweckt. Auch diese Staatsgebilde wurden von dem Kulturzentrum Chinas
unwiderstehlich angezogen; je mehr sie in Berührung mit der höhern Kultur
erstarkten, desto stärker drängten sie gegen China, bis die gewaltige Flut der
Völker das Reich überschwemmte. Kein Volk freilich hat ans chinesischem
Kulturboden sein Sonderwesen behauptet; alle Eroberer sind durch die Kraft
der chinesischen Kultur dem chinesischen Wesen einverleibt worden.

Die natürlichen Bedingungen, nach denen das Reich wuchs, haben seine
politische Geschichte bestimmt. Sobald einer der großen Basalten einen Staat
geschaffen hat, der dem königlichen Zentrallande an Größe und Machtmitteln
überlegen ist, erhebt er ihn zum neuen Mittelpunkt, das heißt er beseitigt die
alte Dynastie, gründet eine neue und sucht die andern Lehnsfürsten zur An¬
erkennung seiner Oberhoheit zu zwingen. Von derartigen, periodisch wieder¬
kehrenden, mitunter Jahrhunderte erfüllenden Kämpfen ist die ganze Geschichte
Chinas bewegt. Kein Land hat eine so stürmisch erregte Geschichte wie der an¬
scheinend in unerschütterlicher Ruhe beharrende Koloß des Himmlischen Reichs.

Seine politische Geschichte ist ein Kreislauf sich mehrfach wiederholender,
innerlich gleichartiger Perioden, deren jede in drei Abschnitte gegliedert ist: zunächst
dehnt das Reich seine Grenzen ans und zieht barbarische Völker in seinen Kultur¬
bereich, dann drängt das Neuland lange gegen das alte Kulturland, und endlich


Die Entstehung des chinesischen Staates

der Mitte" bedeutet wirklich „mittelstes Reich" und bezeichnet zunächst nur die
königliche Domäne oder die Hauptstadt, die tatsächlich ursprünglich in der Mitte
lag. Der Ausdruck ist erst später auf ganz China übertragen worden.

Aber nicht von der Zentralprovinz, sondern von den Grenzländern ist die
Geschichte Chinas bestimmt. Sie standen ursprünglich im Lehnsverhältnis zu
einem „König", das heißt dem Herrn des innern Kulturlandes, und hatten
vor allem die Aufgabe, rings um das „Mittelreich" eine Schutzwehr gegen
die Barbaren zu bilden. Deshalb hatten die Verwalter der Grenzmarken, die
Markgrafen, zugleich die militärische Macht in Händen. Die Markgrafenschaften
sind durch ihre Stellung die Sicherung des Staates, aber oft auch sein Ver¬
derben gewesen. Zunächst war das Entscheidende für die weitere Entwicklung,
daß dem innern Königslande jede Möglichkeit genommen war, das eigne Gebiet
und die eigne Macht zu erweitern; denn von allen Seiten war es von Va¬
sallenstaaten umschlossen. Diese aber hatten durch Vordringen in die Varbaren-
länder eine nahezu unbegrenzte Möglichkeit, ihre Macht auszudehnen. Die
Marken waren nicht nur ein starkes Bollwerk des Staates gegen das Barbaren¬
tum, sondern wurden mit Erweiterung ihrer Grenzen immer mehr selbständige
Kulturgebiete, deren Wirkung weithin über ihre Grenzen reichte.

So entwickelten sich die Lehen an der Reichsgrenze zu halbbarbarischen
Staaten von oft gewaltigem Umfang, deren politisches Schwergewicht von selbst
auf das Mutterland drückte. Dazu kam als Wirkung der chinesischen Expansion
die Bildung von Barbarenstaaten an den Grenzen des Reiches. Die koloniale
und kriegerische Ausdehnung Chinas hat den Widerstand und damit die Kraft
zu politischem Zusammenschluß in den Nomadenvölkern Nord- und Jnnerasiens
erst geweckt. Auch diese Staatsgebilde wurden von dem Kulturzentrum Chinas
unwiderstehlich angezogen; je mehr sie in Berührung mit der höhern Kultur
erstarkten, desto stärker drängten sie gegen China, bis die gewaltige Flut der
Völker das Reich überschwemmte. Kein Volk freilich hat ans chinesischem
Kulturboden sein Sonderwesen behauptet; alle Eroberer sind durch die Kraft
der chinesischen Kultur dem chinesischen Wesen einverleibt worden.

Die natürlichen Bedingungen, nach denen das Reich wuchs, haben seine
politische Geschichte bestimmt. Sobald einer der großen Basalten einen Staat
geschaffen hat, der dem königlichen Zentrallande an Größe und Machtmitteln
überlegen ist, erhebt er ihn zum neuen Mittelpunkt, das heißt er beseitigt die
alte Dynastie, gründet eine neue und sucht die andern Lehnsfürsten zur An¬
erkennung seiner Oberhoheit zu zwingen. Von derartigen, periodisch wieder¬
kehrenden, mitunter Jahrhunderte erfüllenden Kämpfen ist die ganze Geschichte
Chinas bewegt. Kein Land hat eine so stürmisch erregte Geschichte wie der an¬
scheinend in unerschütterlicher Ruhe beharrende Koloß des Himmlischen Reichs.

Seine politische Geschichte ist ein Kreislauf sich mehrfach wiederholender,
innerlich gleichartiger Perioden, deren jede in drei Abschnitte gegliedert ist: zunächst
dehnt das Reich seine Grenzen ans und zieht barbarische Völker in seinen Kultur¬
bereich, dann drängt das Neuland lange gegen das alte Kulturland, und endlich


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[0458] Die Entstehung des chinesischen Staates der Mitte" bedeutet wirklich „mittelstes Reich" und bezeichnet zunächst nur die königliche Domäne oder die Hauptstadt, die tatsächlich ursprünglich in der Mitte lag. Der Ausdruck ist erst später auf ganz China übertragen worden. Aber nicht von der Zentralprovinz, sondern von den Grenzländern ist die Geschichte Chinas bestimmt. Sie standen ursprünglich im Lehnsverhältnis zu einem „König", das heißt dem Herrn des innern Kulturlandes, und hatten vor allem die Aufgabe, rings um das „Mittelreich" eine Schutzwehr gegen die Barbaren zu bilden. Deshalb hatten die Verwalter der Grenzmarken, die Markgrafen, zugleich die militärische Macht in Händen. Die Markgrafenschaften sind durch ihre Stellung die Sicherung des Staates, aber oft auch sein Ver¬ derben gewesen. Zunächst war das Entscheidende für die weitere Entwicklung, daß dem innern Königslande jede Möglichkeit genommen war, das eigne Gebiet und die eigne Macht zu erweitern; denn von allen Seiten war es von Va¬ sallenstaaten umschlossen. Diese aber hatten durch Vordringen in die Varbaren- länder eine nahezu unbegrenzte Möglichkeit, ihre Macht auszudehnen. Die Marken waren nicht nur ein starkes Bollwerk des Staates gegen das Barbaren¬ tum, sondern wurden mit Erweiterung ihrer Grenzen immer mehr selbständige Kulturgebiete, deren Wirkung weithin über ihre Grenzen reichte. So entwickelten sich die Lehen an der Reichsgrenze zu halbbarbarischen Staaten von oft gewaltigem Umfang, deren politisches Schwergewicht von selbst auf das Mutterland drückte. Dazu kam als Wirkung der chinesischen Expansion die Bildung von Barbarenstaaten an den Grenzen des Reiches. Die koloniale und kriegerische Ausdehnung Chinas hat den Widerstand und damit die Kraft zu politischem Zusammenschluß in den Nomadenvölkern Nord- und Jnnerasiens erst geweckt. Auch diese Staatsgebilde wurden von dem Kulturzentrum Chinas unwiderstehlich angezogen; je mehr sie in Berührung mit der höhern Kultur erstarkten, desto stärker drängten sie gegen China, bis die gewaltige Flut der Völker das Reich überschwemmte. Kein Volk freilich hat ans chinesischem Kulturboden sein Sonderwesen behauptet; alle Eroberer sind durch die Kraft der chinesischen Kultur dem chinesischen Wesen einverleibt worden. Die natürlichen Bedingungen, nach denen das Reich wuchs, haben seine politische Geschichte bestimmt. Sobald einer der großen Basalten einen Staat geschaffen hat, der dem königlichen Zentrallande an Größe und Machtmitteln überlegen ist, erhebt er ihn zum neuen Mittelpunkt, das heißt er beseitigt die alte Dynastie, gründet eine neue und sucht die andern Lehnsfürsten zur An¬ erkennung seiner Oberhoheit zu zwingen. Von derartigen, periodisch wieder¬ kehrenden, mitunter Jahrhunderte erfüllenden Kämpfen ist die ganze Geschichte Chinas bewegt. Kein Land hat eine so stürmisch erregte Geschichte wie der an¬ scheinend in unerschütterlicher Ruhe beharrende Koloß des Himmlischen Reichs. Seine politische Geschichte ist ein Kreislauf sich mehrfach wiederholender, innerlich gleichartiger Perioden, deren jede in drei Abschnitte gegliedert ist: zunächst dehnt das Reich seine Grenzen ans und zieht barbarische Völker in seinen Kultur¬ bereich, dann drängt das Neuland lange gegen das alte Kulturland, und endlich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/458>, abgerufen am 22.12.2024.