Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.Meine Jugend und die Religion Christbaum von dem Kreuze trennte, nicht aus. Auch sonst machte mich niemand Dem Kinde war ich nah verwandt, dieses Kind verstand ich so gut, als ich Hinnenaus aber -- das Ortsadverb war für mich zum Ortsnamen geworden Meine Jugend und die Religion Christbaum von dem Kreuze trennte, nicht aus. Auch sonst machte mich niemand Dem Kinde war ich nah verwandt, dieses Kind verstand ich so gut, als ich Hinnenaus aber — das Ortsadverb war für mich zum Ortsnamen geworden <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0039" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313742"/> <fw type="header" place="top"> Meine Jugend und die Religion</fw><lb/> <p xml:id="ID_124" prev="#ID_123"> Christbaum von dem Kreuze trennte, nicht aus. Auch sonst machte mich niemand<lb/> mit der Leidensgeschichte des Erlösers bekannt. Allerlei Grün wuchs in diese<lb/> Lücke hinein und schied Weihnachten von Golgatha. Das Grün bewahrte mich vor<lb/> dem Grauen. Damals lernte ich den Kreuzdorn kennen, aber nicht zu einer Krone<lb/> geformt, mit Blutstropfen behängen auf einem Haupte voll Blut und Wunden,<lb/> sondern als Kletterpreis an einem grünen Bäumchen. Hinter unserm Garten auf<lb/> dem Rheindamm standen junge Kreuzdorne. Mein älterer Bruder und ich kletterten<lb/> manchmal hinauf und brachen uns von den Dornen. Mir war, als schmerzte ihr<lb/> Stich besonders heftig. Damals erfuhr ich, daß aus solchen Dornen die Krone<lb/> des Gekreuzigten geflochten gewesen sei. Aber da huschte nur eine flüchtige Vor¬<lb/> stellung von dem Kruzifixus dnrch meine Phantasie. Drüben floß der Rhein,<lb/> um mich blühte der Damm, die Dornen kamen aus dem Grün, das Tröpfchen<lb/> eignen Blutes, das mir die spitze Beute gekostet hatte, erregte mir kein Grauen.<lb/> So blieb der Kreuzdorn für mich ein sommergrünes Bäumchen, ein Sommereindruck,<lb/> in einer heimlichen, hellen Welt empfangen. —</p><lb/> <lg xml:id="POEMID_2" type="poem"> <l/> </lg><lb/> <p xml:id="ID_125"> Dem Kinde war ich nah verwandt, dieses Kind verstand ich so gut, als ich<lb/> in meinen Gymnasialjahren das Gedicht Goethes kennen lernte. Ich brauchte mich<lb/> in meiner Kindheit nicht zur Kirche zu bequemen, man quälte mich nicht damit, aber<lb/> es zog mich auch nicht in das Gotteshaus, und wenn ich in die Kirche mitgenommen<lb/> wurde, war es mir unbehaglich und unheimlich. Ich war in der katholischen und<lb/> in der protestantischen Kirche; wie ich in die protestantische kam, weiß ich nicht<lb/> mehr, meine Eltern waren beide katholisch. In der katholischen Kirche machten<lb/> ostereierbunte Kreuzwegstationen Eindruck auf mich, ihre heitere Buntheit mutete<lb/> mich freundlich an, in der protestantischen gefielen mir abgeschlossene Nischensitze,<lb/> die luden mich zum Träumen ein. Aber im übrigen war es mir in den Gottes¬<lb/> häusern nicht wohl. Ich suchte nie ein Wie, den Weg ins Feld zu nehmen, aber<lb/> ich schlug diesen Weg oft ein. Er führte mich von dem Graben, worin das<lb/> Militärspital steht, durch einen langen, dunkeln, gewölbten Gang, der unter der<lb/> Erde oder uuter einem Flügel des Spitals — das kann ich nach dem Bilde, das<lb/> mir mein Gedächtnis aufbewahrt hat, nicht unterscheiden — an Vohlenlagen vorbei<lb/> in den Festungsgraben führte — „hinne naus". Ich fühle noch, wie sich die<lb/> warme Frühlingsluft wie ein weicher Mantel um mich legte, wenn ich aus dem<lb/> kühlen Dunkel des Ganges geblendet ins Freie trat. Den Ausgang hütete zur<lb/> Rechten ein Holunderbaum, sein Duft grüßte mich zuerst, zur Linken kam des<lb/> gleichen Wegs wie ich, auch aus einem Tunnel hervor ein Bach und glitt langsam<lb/> sich sonnend durch die Wiese.</p><lb/> <p xml:id="ID_126" next="#ID_127"> Hinnenaus aber — das Ortsadverb war für mich zum Ortsnamen geworden<lb/> und klang mir fröhlich wie später Minnehaha — blühte und zirpte und gaukelte und<lb/> sang und summte seinen Sommergottesdienst. Hier war ich andächtig, andächtig<lb/> ohne Worte und ohne Vorstellungen. Keine Glocke kam gewackelt, aber feierliche<lb/> Glockenklange kamen über das Spital, das, nach dem Kindheitseindruck zu schließen,<lb/> sehr hoch sein muß, und vermischten sich mit dem leisen Sommerliede, das meine<lb/> Wiese im Festungsgraben sang. Meine Andacht war fröhlich, nicht wehmütig, wie<lb/> oben am Sims des Gartenfensters, wenn die Signale mir das Herz bewegten.<lb/> Daß sie echt war, weiß ich daraus, daß ich nach manchem Jahr, als ich im Gym¬<lb/> nasium Schäfers Sonntagslied von Uhland kennen lernte, ein Morgen vor die</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0039]
Meine Jugend und die Religion
Christbaum von dem Kreuze trennte, nicht aus. Auch sonst machte mich niemand
mit der Leidensgeschichte des Erlösers bekannt. Allerlei Grün wuchs in diese
Lücke hinein und schied Weihnachten von Golgatha. Das Grün bewahrte mich vor
dem Grauen. Damals lernte ich den Kreuzdorn kennen, aber nicht zu einer Krone
geformt, mit Blutstropfen behängen auf einem Haupte voll Blut und Wunden,
sondern als Kletterpreis an einem grünen Bäumchen. Hinter unserm Garten auf
dem Rheindamm standen junge Kreuzdorne. Mein älterer Bruder und ich kletterten
manchmal hinauf und brachen uns von den Dornen. Mir war, als schmerzte ihr
Stich besonders heftig. Damals erfuhr ich, daß aus solchen Dornen die Krone
des Gekreuzigten geflochten gewesen sei. Aber da huschte nur eine flüchtige Vor¬
stellung von dem Kruzifixus dnrch meine Phantasie. Drüben floß der Rhein,
um mich blühte der Damm, die Dornen kamen aus dem Grün, das Tröpfchen
eignen Blutes, das mir die spitze Beute gekostet hatte, erregte mir kein Grauen.
So blieb der Kreuzdorn für mich ein sommergrünes Bäumchen, ein Sommereindruck,
in einer heimlichen, hellen Welt empfangen. —
Dem Kinde war ich nah verwandt, dieses Kind verstand ich so gut, als ich
in meinen Gymnasialjahren das Gedicht Goethes kennen lernte. Ich brauchte mich
in meiner Kindheit nicht zur Kirche zu bequemen, man quälte mich nicht damit, aber
es zog mich auch nicht in das Gotteshaus, und wenn ich in die Kirche mitgenommen
wurde, war es mir unbehaglich und unheimlich. Ich war in der katholischen und
in der protestantischen Kirche; wie ich in die protestantische kam, weiß ich nicht
mehr, meine Eltern waren beide katholisch. In der katholischen Kirche machten
ostereierbunte Kreuzwegstationen Eindruck auf mich, ihre heitere Buntheit mutete
mich freundlich an, in der protestantischen gefielen mir abgeschlossene Nischensitze,
die luden mich zum Träumen ein. Aber im übrigen war es mir in den Gottes¬
häusern nicht wohl. Ich suchte nie ein Wie, den Weg ins Feld zu nehmen, aber
ich schlug diesen Weg oft ein. Er führte mich von dem Graben, worin das
Militärspital steht, durch einen langen, dunkeln, gewölbten Gang, der unter der
Erde oder uuter einem Flügel des Spitals — das kann ich nach dem Bilde, das
mir mein Gedächtnis aufbewahrt hat, nicht unterscheiden — an Vohlenlagen vorbei
in den Festungsgraben führte — „hinne naus". Ich fühle noch, wie sich die
warme Frühlingsluft wie ein weicher Mantel um mich legte, wenn ich aus dem
kühlen Dunkel des Ganges geblendet ins Freie trat. Den Ausgang hütete zur
Rechten ein Holunderbaum, sein Duft grüßte mich zuerst, zur Linken kam des
gleichen Wegs wie ich, auch aus einem Tunnel hervor ein Bach und glitt langsam
sich sonnend durch die Wiese.
Hinnenaus aber — das Ortsadverb war für mich zum Ortsnamen geworden
und klang mir fröhlich wie später Minnehaha — blühte und zirpte und gaukelte und
sang und summte seinen Sommergottesdienst. Hier war ich andächtig, andächtig
ohne Worte und ohne Vorstellungen. Keine Glocke kam gewackelt, aber feierliche
Glockenklange kamen über das Spital, das, nach dem Kindheitseindruck zu schließen,
sehr hoch sein muß, und vermischten sich mit dem leisen Sommerliede, das meine
Wiese im Festungsgraben sang. Meine Andacht war fröhlich, nicht wehmütig, wie
oben am Sims des Gartenfensters, wenn die Signale mir das Herz bewegten.
Daß sie echt war, weiß ich daraus, daß ich nach manchem Jahr, als ich im Gym¬
nasium Schäfers Sonntagslied von Uhland kennen lernte, ein Morgen vor die
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |