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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.789

diese Weise fortwirtschaften zu können. Von diesen erwartete jetzt auch die
Regierung eine völlige Erneuerung aller staatlichen Verhältnisse. Hatte schon
bisher Necker allen Wünschen der öffentlichen Meinung feige nachgegeben, so
auch in dem wichtigsten Verlangen, dem der Wiederherstellung des Parlaments.
Hier zeigte sich die ganze Unfähigkeit Neckers. Am 23. September erschien die
königliche Erklärung, wonach die Parlamente in alle ihre Befugnisse wieder
eingesetzt und die gefangnen Gefährten des schon vorher begnadigten Herzogs
von Orleans befreit wurden; dagegen verlor der Großsiegelbewahrer Lamoignon
seinen Posten. Die Nation hatte also wiederum einen glänzenden Sieg im
Kampfe um die Macht gewonnen, die Regierung eine furchtbare, nicht mehr
gut zu machende Niederlage erlitten!

Da trat aber Ende September 1788 ein gewaltiger Umschwung in der
vorrevolutionären Bewegung ein. Schon unter Brienne und Lamoignon hatte
die Regierung hier und da den Versuch gemacht, den dritten Stand gegen die
beiden ersten Stände und die Parlamente aufzuwiegeln; bisher immer mit ge¬
ringem Erfolg. Jetzt aber gab das Pariser Parlament selbst den Anstoß zur
Erregung der höchsten Unzufriedenheit des dritten Standes. Als es nämlich
am 25. September jene königliche Erklärung einregistrierte, verlangte es zu¬
gleich, wenn auch beiläufig, daß die Generalstände genau in den Formen von
1614 einberufen werden sollten. Man forderte dies, weil die Parlamentsmit¬
glieder im Jahre 1614 eine ganz hervorragende Stellung innegehabt hatten,
und weil man befürchtete, daß der dritte Stand, der ja schon in den Provinzial-
versammlungen ebenso stark vertreten war, wie die beiden andern Stände zu¬
sammengenommen, ihnen in den Generalständen über den Kopf wachsen könnte.
Mit jenem Beschluß des Parlaments war also der dritte Stand ganz und gar
nicht einverstanden; er beanspruchte sofort Verdoppelung der Zahl seiner Ab¬
geordneten und Abstimmung nach Köpfen; mit der Popularität des Parlaments
war es aber vorbei, und zwar für immer. Es zeigte sich wieder einmal, wie
rasch die Meinungen der Masse zu wechseln imstande waren, und ferner, daß
sich das Parlament im Irrtum befand, wenn es geglaubt hatte, es habe die
Macht, die öffentliche Meinung zu beherrschen; gerade das Gegenteil war bisher
immer der Fall gewesen: das Parlament hatte sich eben immer der öffentlichen
Meinung unterworfen und dadurch eine Scheinherrschaft ausgeübt. Wie stellte
sich nun Necker zu dieser neuen Phase der Vorrevolution? Als Gönner und
Liebling des Volks wollte er es um keinen Preis mit dem dritten Stande
verderben, und deshalb vermochte er das Parlament Anfang Dezember zu einer
Abschwächung seiner Erklärung vom 25. September. Diese Liebesmühe erwies
sich jedoch als vergeblich: die neuste Erklärung des Parlaments machte keinen
Eindruck mehr. Andrerseits suchte Necker auch die Fühlung mit den beiden
ersten Ständen nicht zu verlieren, die seiner Stellung ja hätten schaden können;
und deshalb entschloß er sich zur Berufung der zweiten Notabelnversammlung,
um, wie er sich ausdrückte, durch diese in der Frage der Generalstände "eine


Vorgeschichte der französischen Revolution von 1.789

diese Weise fortwirtschaften zu können. Von diesen erwartete jetzt auch die
Regierung eine völlige Erneuerung aller staatlichen Verhältnisse. Hatte schon
bisher Necker allen Wünschen der öffentlichen Meinung feige nachgegeben, so
auch in dem wichtigsten Verlangen, dem der Wiederherstellung des Parlaments.
Hier zeigte sich die ganze Unfähigkeit Neckers. Am 23. September erschien die
königliche Erklärung, wonach die Parlamente in alle ihre Befugnisse wieder
eingesetzt und die gefangnen Gefährten des schon vorher begnadigten Herzogs
von Orleans befreit wurden; dagegen verlor der Großsiegelbewahrer Lamoignon
seinen Posten. Die Nation hatte also wiederum einen glänzenden Sieg im
Kampfe um die Macht gewonnen, die Regierung eine furchtbare, nicht mehr
gut zu machende Niederlage erlitten!

Da trat aber Ende September 1788 ein gewaltiger Umschwung in der
vorrevolutionären Bewegung ein. Schon unter Brienne und Lamoignon hatte
die Regierung hier und da den Versuch gemacht, den dritten Stand gegen die
beiden ersten Stände und die Parlamente aufzuwiegeln; bisher immer mit ge¬
ringem Erfolg. Jetzt aber gab das Pariser Parlament selbst den Anstoß zur
Erregung der höchsten Unzufriedenheit des dritten Standes. Als es nämlich
am 25. September jene königliche Erklärung einregistrierte, verlangte es zu¬
gleich, wenn auch beiläufig, daß die Generalstände genau in den Formen von
1614 einberufen werden sollten. Man forderte dies, weil die Parlamentsmit¬
glieder im Jahre 1614 eine ganz hervorragende Stellung innegehabt hatten,
und weil man befürchtete, daß der dritte Stand, der ja schon in den Provinzial-
versammlungen ebenso stark vertreten war, wie die beiden andern Stände zu¬
sammengenommen, ihnen in den Generalständen über den Kopf wachsen könnte.
Mit jenem Beschluß des Parlaments war also der dritte Stand ganz und gar
nicht einverstanden; er beanspruchte sofort Verdoppelung der Zahl seiner Ab¬
geordneten und Abstimmung nach Köpfen; mit der Popularität des Parlaments
war es aber vorbei, und zwar für immer. Es zeigte sich wieder einmal, wie
rasch die Meinungen der Masse zu wechseln imstande waren, und ferner, daß
sich das Parlament im Irrtum befand, wenn es geglaubt hatte, es habe die
Macht, die öffentliche Meinung zu beherrschen; gerade das Gegenteil war bisher
immer der Fall gewesen: das Parlament hatte sich eben immer der öffentlichen
Meinung unterworfen und dadurch eine Scheinherrschaft ausgeübt. Wie stellte
sich nun Necker zu dieser neuen Phase der Vorrevolution? Als Gönner und
Liebling des Volks wollte er es um keinen Preis mit dem dritten Stande
verderben, und deshalb vermochte er das Parlament Anfang Dezember zu einer
Abschwächung seiner Erklärung vom 25. September. Diese Liebesmühe erwies
sich jedoch als vergeblich: die neuste Erklärung des Parlaments machte keinen
Eindruck mehr. Andrerseits suchte Necker auch die Fühlung mit den beiden
ersten Ständen nicht zu verlieren, die seiner Stellung ja hätten schaden können;
und deshalb entschloß er sich zur Berufung der zweiten Notabelnversammlung,
um, wie er sich ausdrückte, durch diese in der Frage der Generalstände „eine


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/312>, abgerufen am 23.07.2024.