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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Fränkisch - schwäbische Grenzwanderungen

Mein Besuch fällt freilich auch in einen Zeitraum, der für den Dinkels-
bühler Bürger der Gegenwart ein Erwachen bedeutet. Die fremden Maler
haben ihm die Augen für den Wert seines Heims geöffnet. Die Zahl der
sommerlichen Fremden wächst. Sie noch mehr zu steigern, hat sich ein Ver¬
kehrs- und Preßausschuß gebildet. Und so hofft der Bürger, vom Wesen
seiner Ahnen, worin er wurzelt, klingenden Gewinn zu ziehen. Das Ge¬
spräch der Frühschöppler neben mir, am alten Stammtisch der Rose, dreht
sich um nichts andres. Ich habe noch kaum an meinem Weinsberger Roten
-- ein flüssiges Beispiel für die Verknüpfung der mittelfränkischen Stadt mit
Schwaben -- genippt, so sitzt ein graubärtiger Baumeister neben mir und
bändigt dem Fremdling Stadtpläne und Beschreibungen ein, für ihn und für
die Freunde daheim. Junge Maler, die Skizzenmappen beiseite legend, lassen
sich eben vom Wirt den Weg zur Frau Bürgermeisterin weisen, die gebietende
Weiblichkeit des Städtchens für die Veranstaltung einer Abendgesellschaft zu
gewinnen.

Wie friedvoll ist die Entfaltung dieser behaglichen Bürgerhäuser im Schutz
der Mauerwehr, der Gräben, Basteien und Wälle! Ein Gegensatz, der uns
heute ergreift. Welch liebevoller, unhastiger Kunstsinn einer doch wildern und
kriegerischem Zeit spricht aus den Plätzen und Straßen und aus den edelsten
dieser Häuser, aus dem Rathaus, aus dem Deutschen Hause, einem Fachwerk¬
bau, der mich ganz an Hildesheim gemahnt. Und wie gewaltig an Ausdruck
ragt über all die Dächer und Giebel das schwere, mächtige Dach der drei-
schiffigen Georgskirche, der edeln gotischen Hallenkirche und Schwester der
Nördlinger! Ich habe ein Bild von seltner Eigenart vor mir, indem ich
draußen jenseits der Stadtmauer stehe und die schwere Masse wie eine er¬
habne Wolke über den Kampf- und Friedensgestalten schweben sehe. Nicht
durch den Turm, der niedrig, fast geduckt ist, durch das Kirchendach wird hier
Gedanke und Gefühl des Göttlichen ausgedrückt. Nirgends als in kleinen,
unverfälschten Orten empfindet man die Lage des Gotteshauses, das aus der
Mitte herauswächst, so deutlich als Symbol für die zentrale Stellung des
Religiösen im deutschen Gemüt. Freilich haftet hier auch dem Äußern, nicht
dem Innern ein nachwirkender Zug mittelalterlichen Düsters an. Ich trete
in die edeln hellen Hallen ein, die den kostbarsten Besitz der Reichsstadt be¬
deuten. Die Kirche ist katholisch geblieben, während mehr als zwei Drittel
der Bewohner protestantisch sind. Bilder schwäbischer Meister, Herlins und
Schäufelins, blicken dunkelfarbig von den Altären. Ein Sakramentshäuschen
klettert schlank und zierlich an einem der schönen Bündelpfeiler hinauf.

Durch ein Stadtmauerpförtchen schlüpfe ich in den Kreuzgang des ehe¬
maligen Kapuzinerklosters, wohl den kleinsten und verstecktesten, den ich je
sah. Das umschlossene Viereck ist ein einziges Farnkrautgärtchen. Blumen
wollen hier, des gedämpften Lichtes halber, nicht gedeihen, sagt die Hand¬
werkersfrau, die mir geöffnet hat. In der Sakristei der Spitalkirche zeigt


Fränkisch - schwäbische Grenzwanderungen

Mein Besuch fällt freilich auch in einen Zeitraum, der für den Dinkels-
bühler Bürger der Gegenwart ein Erwachen bedeutet. Die fremden Maler
haben ihm die Augen für den Wert seines Heims geöffnet. Die Zahl der
sommerlichen Fremden wächst. Sie noch mehr zu steigern, hat sich ein Ver¬
kehrs- und Preßausschuß gebildet. Und so hofft der Bürger, vom Wesen
seiner Ahnen, worin er wurzelt, klingenden Gewinn zu ziehen. Das Ge¬
spräch der Frühschöppler neben mir, am alten Stammtisch der Rose, dreht
sich um nichts andres. Ich habe noch kaum an meinem Weinsberger Roten
— ein flüssiges Beispiel für die Verknüpfung der mittelfränkischen Stadt mit
Schwaben — genippt, so sitzt ein graubärtiger Baumeister neben mir und
bändigt dem Fremdling Stadtpläne und Beschreibungen ein, für ihn und für
die Freunde daheim. Junge Maler, die Skizzenmappen beiseite legend, lassen
sich eben vom Wirt den Weg zur Frau Bürgermeisterin weisen, die gebietende
Weiblichkeit des Städtchens für die Veranstaltung einer Abendgesellschaft zu
gewinnen.

Wie friedvoll ist die Entfaltung dieser behaglichen Bürgerhäuser im Schutz
der Mauerwehr, der Gräben, Basteien und Wälle! Ein Gegensatz, der uns
heute ergreift. Welch liebevoller, unhastiger Kunstsinn einer doch wildern und
kriegerischem Zeit spricht aus den Plätzen und Straßen und aus den edelsten
dieser Häuser, aus dem Rathaus, aus dem Deutschen Hause, einem Fachwerk¬
bau, der mich ganz an Hildesheim gemahnt. Und wie gewaltig an Ausdruck
ragt über all die Dächer und Giebel das schwere, mächtige Dach der drei-
schiffigen Georgskirche, der edeln gotischen Hallenkirche und Schwester der
Nördlinger! Ich habe ein Bild von seltner Eigenart vor mir, indem ich
draußen jenseits der Stadtmauer stehe und die schwere Masse wie eine er¬
habne Wolke über den Kampf- und Friedensgestalten schweben sehe. Nicht
durch den Turm, der niedrig, fast geduckt ist, durch das Kirchendach wird hier
Gedanke und Gefühl des Göttlichen ausgedrückt. Nirgends als in kleinen,
unverfälschten Orten empfindet man die Lage des Gotteshauses, das aus der
Mitte herauswächst, so deutlich als Symbol für die zentrale Stellung des
Religiösen im deutschen Gemüt. Freilich haftet hier auch dem Äußern, nicht
dem Innern ein nachwirkender Zug mittelalterlichen Düsters an. Ich trete
in die edeln hellen Hallen ein, die den kostbarsten Besitz der Reichsstadt be¬
deuten. Die Kirche ist katholisch geblieben, während mehr als zwei Drittel
der Bewohner protestantisch sind. Bilder schwäbischer Meister, Herlins und
Schäufelins, blicken dunkelfarbig von den Altären. Ein Sakramentshäuschen
klettert schlank und zierlich an einem der schönen Bündelpfeiler hinauf.

Durch ein Stadtmauerpförtchen schlüpfe ich in den Kreuzgang des ehe¬
maligen Kapuzinerklosters, wohl den kleinsten und verstecktesten, den ich je
sah. Das umschlossene Viereck ist ein einziges Farnkrautgärtchen. Blumen
wollen hier, des gedämpften Lichtes halber, nicht gedeihen, sagt die Hand¬
werkersfrau, die mir geöffnet hat. In der Sakristei der Spitalkirche zeigt


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[0278] Fränkisch - schwäbische Grenzwanderungen Mein Besuch fällt freilich auch in einen Zeitraum, der für den Dinkels- bühler Bürger der Gegenwart ein Erwachen bedeutet. Die fremden Maler haben ihm die Augen für den Wert seines Heims geöffnet. Die Zahl der sommerlichen Fremden wächst. Sie noch mehr zu steigern, hat sich ein Ver¬ kehrs- und Preßausschuß gebildet. Und so hofft der Bürger, vom Wesen seiner Ahnen, worin er wurzelt, klingenden Gewinn zu ziehen. Das Ge¬ spräch der Frühschöppler neben mir, am alten Stammtisch der Rose, dreht sich um nichts andres. Ich habe noch kaum an meinem Weinsberger Roten — ein flüssiges Beispiel für die Verknüpfung der mittelfränkischen Stadt mit Schwaben — genippt, so sitzt ein graubärtiger Baumeister neben mir und bändigt dem Fremdling Stadtpläne und Beschreibungen ein, für ihn und für die Freunde daheim. Junge Maler, die Skizzenmappen beiseite legend, lassen sich eben vom Wirt den Weg zur Frau Bürgermeisterin weisen, die gebietende Weiblichkeit des Städtchens für die Veranstaltung einer Abendgesellschaft zu gewinnen. Wie friedvoll ist die Entfaltung dieser behaglichen Bürgerhäuser im Schutz der Mauerwehr, der Gräben, Basteien und Wälle! Ein Gegensatz, der uns heute ergreift. Welch liebevoller, unhastiger Kunstsinn einer doch wildern und kriegerischem Zeit spricht aus den Plätzen und Straßen und aus den edelsten dieser Häuser, aus dem Rathaus, aus dem Deutschen Hause, einem Fachwerk¬ bau, der mich ganz an Hildesheim gemahnt. Und wie gewaltig an Ausdruck ragt über all die Dächer und Giebel das schwere, mächtige Dach der drei- schiffigen Georgskirche, der edeln gotischen Hallenkirche und Schwester der Nördlinger! Ich habe ein Bild von seltner Eigenart vor mir, indem ich draußen jenseits der Stadtmauer stehe und die schwere Masse wie eine er¬ habne Wolke über den Kampf- und Friedensgestalten schweben sehe. Nicht durch den Turm, der niedrig, fast geduckt ist, durch das Kirchendach wird hier Gedanke und Gefühl des Göttlichen ausgedrückt. Nirgends als in kleinen, unverfälschten Orten empfindet man die Lage des Gotteshauses, das aus der Mitte herauswächst, so deutlich als Symbol für die zentrale Stellung des Religiösen im deutschen Gemüt. Freilich haftet hier auch dem Äußern, nicht dem Innern ein nachwirkender Zug mittelalterlichen Düsters an. Ich trete in die edeln hellen Hallen ein, die den kostbarsten Besitz der Reichsstadt be¬ deuten. Die Kirche ist katholisch geblieben, während mehr als zwei Drittel der Bewohner protestantisch sind. Bilder schwäbischer Meister, Herlins und Schäufelins, blicken dunkelfarbig von den Altären. Ein Sakramentshäuschen klettert schlank und zierlich an einem der schönen Bündelpfeiler hinauf. Durch ein Stadtmauerpförtchen schlüpfe ich in den Kreuzgang des ehe¬ maligen Kapuzinerklosters, wohl den kleinsten und verstecktesten, den ich je sah. Das umschlossene Viereck ist ein einziges Farnkrautgärtchen. Blumen wollen hier, des gedämpften Lichtes halber, nicht gedeihen, sagt die Hand¬ werkersfrau, die mir geöffnet hat. In der Sakristei der Spitalkirche zeigt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/278>, abgerufen am 22.12.2024.