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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

diese Welt tief unten nicht mit ein paar Schlagworten abzutun ist, daß in ihr
Leben ringt und nach Hilfe ruft, aber immer wieder durch Schlendrian, Brutalität,
ja durch Gesetz und Polizei in die Tiefe hinabgestoßen wird -- das klingt
wie mit einem entsetzlichen Aufschrei aus den Seiten dieses Buches, das man
nicht ohne die tiefste und reinste Bewegung aus der Hand legen kann. Hier
zeigt sich wieder einmal, wie in einem Kunstwerk die Tendenz gar nichts ist,
wenn sie nicht bezwungen wird von einer echten, künstlerischen Kraft ("Brenn¬
stoff und Feuer"). Nicht in Leitartikeln und nicht in Broschüren konnte Elfe
Jerusalem all das Blut und all die Tränen malen, die hier dahingehn, aber
weil sie es als Künstlerin schrieb, tat sie zugleich ein Werk von großer ethischer
und sozialer Bedeutung, dessen Wirkung gerade nach dieser Richtung hin nicht
verkleinert "werden wird. In scheinbar ganz objektiver Gestaltung läßt sie doch
eine Welt emporwachsen, die nach einem Retter ruft, und für die nach einem
Retter zu rufen, an deren Rettung zu arbeiten, die obere Welt selbst neben
der ethischen Pflicht auch ein brennendes Interesse hat, weil durch die dünne
Zwischenwand ein ewiges Hin und Her geht, weil ein ewiger Gifthauch durch
die dünnen Fugen dringt. Der Roman ist die Verheißung eines starken Talents
und eines großen Temperaments, die hoffentlich kräftig genug sind, nicht etwa
eine Spezialität zu werden, sondern auch andres mit derselben Liebe und Stärke
zu umfassen und zu bezwingen.

Mädchenschicksale, die bis an den Rand des Abgrunds gehn, tauchen auch
in dem Buch einer andern jungen Schriftstellerin, "Wanderwege" von Hildegard
Freiesleben-Poeschel (Leipzig, Georg Merseburger), immer wieder auf. Eine
Reihe junger Gefährten, die zusammen erwachsen sind, wird durch Jahre der
Entwicklung bis zur Lebensreise begleitet: "Menschen, die ich liebe, denen
wünsche ich Schweres. Daß sie stolz und stark daran werden. Und hellsichtig
für die Schönheit des Lebens, nicht wie es sein sollte, sondern wie es ist."
Durch Kämpfe und Seelenqualen hindurch erreichen diese Menschen ihr Glück,
das heißt die schwer erkämpfte Ruhe, die spricht: "Wenn ich nicht mehr sagen
kann: ich bin so gut, als ich Kraft habe, was bleibt denn dann noch übrig in
all der Dunkelheit?" Noch ist vieles unausgegoren, unklar, manches auch an¬
gelesen und unverarbeitet in diesem Buch, aber es steckt Talent und Sehnsucht
nach oben darin, eine unbekümmerte Aussprache wirklich erlebter Stimmungen,
von der man hoffen darf, daß sie sich in spätern Werken noch mit größerer
Geschlossenheit und persönlicher Stärke dartun wird.

Georg von Ompteda ist mit seinem neuen Roman "Droesigl" (Berlin,
Egon Fleischel Co.) nach der anders gearteten "Minne" wieder auf die uns
vertrauten Pfade seiner ältern Werke, insbesondre seiner schönen Adelsromane,
zurückgekehrt. Das Problem, das in "Epheu" schon angedeutet wurde, wird
hier ausgeführt: der gesellschaftliche Emporstieg eines bürgerlichen Industriellen
in den Kreis des alten Adels. Droesigl ist der Sohn eines Kohlenkönigs, der
sich vom Arbeiter emporgeschwungen hat bis zum Beherrscher eines weiten Wirt-


Literarische Rundschau

diese Welt tief unten nicht mit ein paar Schlagworten abzutun ist, daß in ihr
Leben ringt und nach Hilfe ruft, aber immer wieder durch Schlendrian, Brutalität,
ja durch Gesetz und Polizei in die Tiefe hinabgestoßen wird — das klingt
wie mit einem entsetzlichen Aufschrei aus den Seiten dieses Buches, das man
nicht ohne die tiefste und reinste Bewegung aus der Hand legen kann. Hier
zeigt sich wieder einmal, wie in einem Kunstwerk die Tendenz gar nichts ist,
wenn sie nicht bezwungen wird von einer echten, künstlerischen Kraft („Brenn¬
stoff und Feuer"). Nicht in Leitartikeln und nicht in Broschüren konnte Elfe
Jerusalem all das Blut und all die Tränen malen, die hier dahingehn, aber
weil sie es als Künstlerin schrieb, tat sie zugleich ein Werk von großer ethischer
und sozialer Bedeutung, dessen Wirkung gerade nach dieser Richtung hin nicht
verkleinert »werden wird. In scheinbar ganz objektiver Gestaltung läßt sie doch
eine Welt emporwachsen, die nach einem Retter ruft, und für die nach einem
Retter zu rufen, an deren Rettung zu arbeiten, die obere Welt selbst neben
der ethischen Pflicht auch ein brennendes Interesse hat, weil durch die dünne
Zwischenwand ein ewiges Hin und Her geht, weil ein ewiger Gifthauch durch
die dünnen Fugen dringt. Der Roman ist die Verheißung eines starken Talents
und eines großen Temperaments, die hoffentlich kräftig genug sind, nicht etwa
eine Spezialität zu werden, sondern auch andres mit derselben Liebe und Stärke
zu umfassen und zu bezwingen.

Mädchenschicksale, die bis an den Rand des Abgrunds gehn, tauchen auch
in dem Buch einer andern jungen Schriftstellerin, „Wanderwege" von Hildegard
Freiesleben-Poeschel (Leipzig, Georg Merseburger), immer wieder auf. Eine
Reihe junger Gefährten, die zusammen erwachsen sind, wird durch Jahre der
Entwicklung bis zur Lebensreise begleitet: „Menschen, die ich liebe, denen
wünsche ich Schweres. Daß sie stolz und stark daran werden. Und hellsichtig
für die Schönheit des Lebens, nicht wie es sein sollte, sondern wie es ist."
Durch Kämpfe und Seelenqualen hindurch erreichen diese Menschen ihr Glück,
das heißt die schwer erkämpfte Ruhe, die spricht: „Wenn ich nicht mehr sagen
kann: ich bin so gut, als ich Kraft habe, was bleibt denn dann noch übrig in
all der Dunkelheit?" Noch ist vieles unausgegoren, unklar, manches auch an¬
gelesen und unverarbeitet in diesem Buch, aber es steckt Talent und Sehnsucht
nach oben darin, eine unbekümmerte Aussprache wirklich erlebter Stimmungen,
von der man hoffen darf, daß sie sich in spätern Werken noch mit größerer
Geschlossenheit und persönlicher Stärke dartun wird.

Georg von Ompteda ist mit seinem neuen Roman „Droesigl" (Berlin,
Egon Fleischel Co.) nach der anders gearteten „Minne" wieder auf die uns
vertrauten Pfade seiner ältern Werke, insbesondre seiner schönen Adelsromane,
zurückgekehrt. Das Problem, das in „Epheu" schon angedeutet wurde, wird
hier ausgeführt: der gesellschaftliche Emporstieg eines bürgerlichen Industriellen
in den Kreis des alten Adels. Droesigl ist der Sohn eines Kohlenkönigs, der
sich vom Arbeiter emporgeschwungen hat bis zum Beherrscher eines weiten Wirt-


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[0269] Literarische Rundschau diese Welt tief unten nicht mit ein paar Schlagworten abzutun ist, daß in ihr Leben ringt und nach Hilfe ruft, aber immer wieder durch Schlendrian, Brutalität, ja durch Gesetz und Polizei in die Tiefe hinabgestoßen wird — das klingt wie mit einem entsetzlichen Aufschrei aus den Seiten dieses Buches, das man nicht ohne die tiefste und reinste Bewegung aus der Hand legen kann. Hier zeigt sich wieder einmal, wie in einem Kunstwerk die Tendenz gar nichts ist, wenn sie nicht bezwungen wird von einer echten, künstlerischen Kraft („Brenn¬ stoff und Feuer"). Nicht in Leitartikeln und nicht in Broschüren konnte Elfe Jerusalem all das Blut und all die Tränen malen, die hier dahingehn, aber weil sie es als Künstlerin schrieb, tat sie zugleich ein Werk von großer ethischer und sozialer Bedeutung, dessen Wirkung gerade nach dieser Richtung hin nicht verkleinert »werden wird. In scheinbar ganz objektiver Gestaltung läßt sie doch eine Welt emporwachsen, die nach einem Retter ruft, und für die nach einem Retter zu rufen, an deren Rettung zu arbeiten, die obere Welt selbst neben der ethischen Pflicht auch ein brennendes Interesse hat, weil durch die dünne Zwischenwand ein ewiges Hin und Her geht, weil ein ewiger Gifthauch durch die dünnen Fugen dringt. Der Roman ist die Verheißung eines starken Talents und eines großen Temperaments, die hoffentlich kräftig genug sind, nicht etwa eine Spezialität zu werden, sondern auch andres mit derselben Liebe und Stärke zu umfassen und zu bezwingen. Mädchenschicksale, die bis an den Rand des Abgrunds gehn, tauchen auch in dem Buch einer andern jungen Schriftstellerin, „Wanderwege" von Hildegard Freiesleben-Poeschel (Leipzig, Georg Merseburger), immer wieder auf. Eine Reihe junger Gefährten, die zusammen erwachsen sind, wird durch Jahre der Entwicklung bis zur Lebensreise begleitet: „Menschen, die ich liebe, denen wünsche ich Schweres. Daß sie stolz und stark daran werden. Und hellsichtig für die Schönheit des Lebens, nicht wie es sein sollte, sondern wie es ist." Durch Kämpfe und Seelenqualen hindurch erreichen diese Menschen ihr Glück, das heißt die schwer erkämpfte Ruhe, die spricht: „Wenn ich nicht mehr sagen kann: ich bin so gut, als ich Kraft habe, was bleibt denn dann noch übrig in all der Dunkelheit?" Noch ist vieles unausgegoren, unklar, manches auch an¬ gelesen und unverarbeitet in diesem Buch, aber es steckt Talent und Sehnsucht nach oben darin, eine unbekümmerte Aussprache wirklich erlebter Stimmungen, von der man hoffen darf, daß sie sich in spätern Werken noch mit größerer Geschlossenheit und persönlicher Stärke dartun wird. Georg von Ompteda ist mit seinem neuen Roman „Droesigl" (Berlin, Egon Fleischel Co.) nach der anders gearteten „Minne" wieder auf die uns vertrauten Pfade seiner ältern Werke, insbesondre seiner schönen Adelsromane, zurückgekehrt. Das Problem, das in „Epheu" schon angedeutet wurde, wird hier ausgeführt: der gesellschaftliche Emporstieg eines bürgerlichen Industriellen in den Kreis des alten Adels. Droesigl ist der Sohn eines Kohlenkönigs, der sich vom Arbeiter emporgeschwungen hat bis zum Beherrscher eines weiten Wirt-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/269>, abgerufen am 22.12.2024.