Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.literarische Rundschau Produktion. Und auch der zweite historische Roman der Sammlung, "Der Freilich zittert uus die Hand nicht mehr so bei der Lektüre dieses Romans Mit der gleichen Vermeidung jeder Sensation und mit der gleichen Menschen¬ literarische Rundschau Produktion. Und auch der zweite historische Roman der Sammlung, „Der Freilich zittert uus die Hand nicht mehr so bei der Lektüre dieses Romans Mit der gleichen Vermeidung jeder Sensation und mit der gleichen Menschen¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0268" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313971"/> <fw type="header" place="top"> literarische Rundschau</fw><lb/> <p xml:id="ID_1119" prev="#ID_1118"> Produktion. Und auch der zweite historische Roman der Sammlung, „Der<lb/> Spion", mit seinen Schicksalen aus der Zeit des russischen Dekabristenaufstandes<lb/> ist dichterisch kräftig und dabei erstaunlich echt in der Bezwingung dieser Welt,<lb/> die Grosse erst aus zweiter Hand kannte. Geheimnisvoll, wie so oft in dem<lb/> namenlosen Rußland, verlaufen Menschenschicksal und Menschenschuld, und<lb/> nirgends erscheint die vorgetäuschte Selbsterzählung durch einen, der alles mit<lb/> erlebt hat, unecht oder gemacht.</p><lb/> <p xml:id="ID_1120"> Freilich zittert uus die Hand nicht mehr so bei der Lektüre dieses Romans<lb/> aus Rußlands Vergangenheit wie etwa vor Leonid Andresews, eines jungen<lb/> Russen, „Geschichte von den sieben Gehenkten" München, R. Piper u. Co.,<lb/> deutsch von Lully Wiebeck). Fünf Revolutionäre, die ein Bombenattentat auf<lb/> einen Minister versucht hatten, werden mit zwei gemeinen Verbrechern zusammen<lb/> durch den Strang getötet. Aber Andrejew verweilt nicht etwa in der Ausmalung<lb/> ihres scheußlichen Todes, sondern er gibt kurz die Vorgeschichte ihrer Verbrechen<lb/> und dann Kapitel für Kapitel die letzten Stunden und Tage jedes einzelnen<lb/> dieser sieben; psychologisch ungemein fein wird jeder Charakter enthüllt, wird<lb/> jedem nachgespürt bis in die letzten Augenblicke hinein. Mit echter Dichterkraft<lb/> überwindet Andrejew jedesmal den quälenden Eindruck, vertieft er ihn immer<lb/> wieder, daß wir nichts Sensationelles, nur bis ins Tiefste ergriffne menschliche<lb/> Teilnahme empfinden. Er treibt nirgends Schönfärberei und webt keinen<lb/> Glorienschein um die Häupter seiner Menschen; aber die Wahrhaftigkeit seiner<lb/> Darstellung erhebt sich doch über die photographische Treue platter Natürlich¬<lb/> keit zur dichterischen Durchdringung und Bezwingung seelischer Vorgänge von<lb/> seltner Kraft. Und wieder mit echter Dichtergebärde läßt er den schrecklichen<lb/> Schlußvorgang selbst nur in undeutlichen Morgennebeln ahnen, läßt ihn sich<lb/> spiegeln in dem Entsetzen des einen Soldaten, der, zur Hinrichtung kommandiert,<lb/> die Waffe wegwirft und in den verschneiten Wald stapft, bis er liegen bleibt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1121" next="#ID_1122"> Mit der gleichen Vermeidung jeder Sensation und mit der gleichen Menschen¬<lb/> liebe, die dem Verlornen nachgeht, schreitet Elfe Jerusalem, eine junge Wiener<lb/> Schriftstellerin, durch die Welt ihres Romans, „Der heilige Skarabäus" (Berlin,<lb/> S. Fischer). Zu all den Milieuromanen, die wir in den letzten Jahrzehnten<lb/> empfangen haben, fügt dieses furchtbar ernste Und nur für reife Menschen be¬<lb/> stimmte Werk das unterste und furchtbarste Milieu von allen, das der gewerbs¬<lb/> mäßigen Dirne. Wie ein Kind in solcher Umgebung aufwächst und sich durch<lb/> sein väterliches Bauernblut und die Begegnung mit einem in sich zerfallnen,<lb/> aber durch seine Skepsis für sie hilfreichen Manne erst innerlich, dann äußerlich<lb/> dem Schmutz entzieht, das ist hier dargestellt. Und doch kann man nicht sagen,<lb/> daß gerade dieser Faden der Entwicklung besonders deutlich bloßgelegt, daß die<lb/> Gestalt der Milcida eine ganz vollkommen runde Leistung sei. Sie hat Züge,<lb/> die nicht ganz zueinander passen, sie erscheint hier und da nicht so völlig echt,<lb/> wie alles das, was um sie webt, und was aus einer von tiefstem Mitleid<lb/> durchdrungnen Frauenseele heraus hier wieder lebendig geworden ist. Daß</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0268]
literarische Rundschau
Produktion. Und auch der zweite historische Roman der Sammlung, „Der
Spion", mit seinen Schicksalen aus der Zeit des russischen Dekabristenaufstandes
ist dichterisch kräftig und dabei erstaunlich echt in der Bezwingung dieser Welt,
die Grosse erst aus zweiter Hand kannte. Geheimnisvoll, wie so oft in dem
namenlosen Rußland, verlaufen Menschenschicksal und Menschenschuld, und
nirgends erscheint die vorgetäuschte Selbsterzählung durch einen, der alles mit
erlebt hat, unecht oder gemacht.
Freilich zittert uus die Hand nicht mehr so bei der Lektüre dieses Romans
aus Rußlands Vergangenheit wie etwa vor Leonid Andresews, eines jungen
Russen, „Geschichte von den sieben Gehenkten" München, R. Piper u. Co.,
deutsch von Lully Wiebeck). Fünf Revolutionäre, die ein Bombenattentat auf
einen Minister versucht hatten, werden mit zwei gemeinen Verbrechern zusammen
durch den Strang getötet. Aber Andrejew verweilt nicht etwa in der Ausmalung
ihres scheußlichen Todes, sondern er gibt kurz die Vorgeschichte ihrer Verbrechen
und dann Kapitel für Kapitel die letzten Stunden und Tage jedes einzelnen
dieser sieben; psychologisch ungemein fein wird jeder Charakter enthüllt, wird
jedem nachgespürt bis in die letzten Augenblicke hinein. Mit echter Dichterkraft
überwindet Andrejew jedesmal den quälenden Eindruck, vertieft er ihn immer
wieder, daß wir nichts Sensationelles, nur bis ins Tiefste ergriffne menschliche
Teilnahme empfinden. Er treibt nirgends Schönfärberei und webt keinen
Glorienschein um die Häupter seiner Menschen; aber die Wahrhaftigkeit seiner
Darstellung erhebt sich doch über die photographische Treue platter Natürlich¬
keit zur dichterischen Durchdringung und Bezwingung seelischer Vorgänge von
seltner Kraft. Und wieder mit echter Dichtergebärde läßt er den schrecklichen
Schlußvorgang selbst nur in undeutlichen Morgennebeln ahnen, läßt ihn sich
spiegeln in dem Entsetzen des einen Soldaten, der, zur Hinrichtung kommandiert,
die Waffe wegwirft und in den verschneiten Wald stapft, bis er liegen bleibt.
Mit der gleichen Vermeidung jeder Sensation und mit der gleichen Menschen¬
liebe, die dem Verlornen nachgeht, schreitet Elfe Jerusalem, eine junge Wiener
Schriftstellerin, durch die Welt ihres Romans, „Der heilige Skarabäus" (Berlin,
S. Fischer). Zu all den Milieuromanen, die wir in den letzten Jahrzehnten
empfangen haben, fügt dieses furchtbar ernste Und nur für reife Menschen be¬
stimmte Werk das unterste und furchtbarste Milieu von allen, das der gewerbs¬
mäßigen Dirne. Wie ein Kind in solcher Umgebung aufwächst und sich durch
sein väterliches Bauernblut und die Begegnung mit einem in sich zerfallnen,
aber durch seine Skepsis für sie hilfreichen Manne erst innerlich, dann äußerlich
dem Schmutz entzieht, das ist hier dargestellt. Und doch kann man nicht sagen,
daß gerade dieser Faden der Entwicklung besonders deutlich bloßgelegt, daß die
Gestalt der Milcida eine ganz vollkommen runde Leistung sei. Sie hat Züge,
die nicht ganz zueinander passen, sie erscheint hier und da nicht so völlig echt,
wie alles das, was um sie webt, und was aus einer von tiefstem Mitleid
durchdrungnen Frauenseele heraus hier wieder lebendig geworden ist. Daß
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