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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Das Moderne in tuther

getrieben zu sein, Gott zu dienen, und daß er diese Zuversicht dem größten Teile
der nordischen Völker einflößte, das war das eine seiner großen Verdienste. Und
jetzt, nachdem die Menschheit im energischen technischen Fortschritt die Erde in
erstaunlicher Weise umgestaltet, einen hohen Grad von Beherrschung der Natur¬
kräfte erlangt und dadurch eine Vermehrung des Menschengeschlechts ermöglicht
hat, die in jeder frühern Zeit undenkbar gewesen wäre, sehen wir es deutlich,
daß die Kulturarbeit von Gott gewollt ist, und daß er damit die Menschheit
Zielen zutreibt, von denen wir keine Ahnung haben, wobei jedoch das eschato-
logische Ziel des christlichen Glaubens für jeden einzelnen, der ja an dem un¬
bekannten irdischen Endziele keinen Teil hat, gewahrt bleibt. Nur daß er sich
dieses Ziel nicht durch Grübelei über seine unerkennbare Beschaffenheit und nicht
durch Selbstpeinigung, sondern durch pflichtmäßige Teilnahme an der Kultur¬
arbeit und durch hoffnungsfreudige Hingebung an diese zu sichern sucht.

Das andre, was der mittelalterlichen Kirche zum Verderben gereichte, war
die -- von ihr nicht verschuldete -- Fügung, daß sie in den Jahrhunderten
der Völkerwandrung, Völkerzersetzung und Völkerneubildung den Staat ersetzte
und infolgedessen noch in den sich unter ihrer Mitwirkung neu bildenden Staaten
ein beherrschendes Element blieb. Das hatte zur Folge, daß der Klerus herrsch¬
süchtig, reich und genußsüchtig wurde, demnach seine geistlichen Pflichten schlecht
erfüllte, und daß, nachdem neue Staatsordnungen entstanden waren, diese schlecht
funktionierten, weil ein Teil der Staatsgeschäfte von Geistlichen besorgt wurde,
die nur wenig oder mäßig dafür befähigt waren, der andre Teil durch die
immerwährende geistliche Einmischung, besonders aber durch die wirtschaftliche
Ausbeutung der Völker von feiten der Hierarchen, gehemmt und beeinträchtigt
wurde. Luther trat auf in einer Zeit, wo dieser Zustand unerträglich geworden
war. Mit einem Ruck die nordischen Völker aus ihm herausgerissen, dadurch
zugleich auch in den katholischen Staaten die Säkularisierung vorbereitet und
in alleweg dem Kaiser gegeben zu haben, was des Kaisers ist, das ist das zweite
Große, das Luther für die Welt getan hat, indem er zugleich die Religion des
Geistes durch die Ermöglichung eines evangelischen Christentums aus ihrer hier¬
archisch-theurgischen Vermummung erlöste.

Vogt freilich sieht die Sache anders an; ihm ist der christliche Jdeenkomplex
zwar eine großartige Schöpfung ehrwürdiger Männer, aber als einer abgelaufnen
Periode der menschlichen Entwicklung angehörend heute tot und nicht mehr zu
wirklichem Leben zu erwecken. Den Kern dieses Jdeenkomplexes sieht er in der
Bergpredigt, an der die Unmöglichkeit der Wiedererweckung deutlich werde in
unsrer Zeit des Rechtsstaats und des Kapitalismus. Nur Tolstoi sei ein wahrer
und echter Christ; die Weise, wie Luther die Aufhebung des Widerspruchs ver¬
suche, befriedige ebensowenig wie die der katholischen Kirche. Ich finde, daß
beide, in verschieden Punkten allerdings, Recht haben. Die katholische Kirche
lehrt bekanntlich, daß die überhohen sittlichen Forderungen "Räte" seien, die
nur für die nach Vollkommenheit strebenden gelten. In unsrer Zeit des


Das Moderne in tuther

getrieben zu sein, Gott zu dienen, und daß er diese Zuversicht dem größten Teile
der nordischen Völker einflößte, das war das eine seiner großen Verdienste. Und
jetzt, nachdem die Menschheit im energischen technischen Fortschritt die Erde in
erstaunlicher Weise umgestaltet, einen hohen Grad von Beherrschung der Natur¬
kräfte erlangt und dadurch eine Vermehrung des Menschengeschlechts ermöglicht
hat, die in jeder frühern Zeit undenkbar gewesen wäre, sehen wir es deutlich,
daß die Kulturarbeit von Gott gewollt ist, und daß er damit die Menschheit
Zielen zutreibt, von denen wir keine Ahnung haben, wobei jedoch das eschato-
logische Ziel des christlichen Glaubens für jeden einzelnen, der ja an dem un¬
bekannten irdischen Endziele keinen Teil hat, gewahrt bleibt. Nur daß er sich
dieses Ziel nicht durch Grübelei über seine unerkennbare Beschaffenheit und nicht
durch Selbstpeinigung, sondern durch pflichtmäßige Teilnahme an der Kultur¬
arbeit und durch hoffnungsfreudige Hingebung an diese zu sichern sucht.

Das andre, was der mittelalterlichen Kirche zum Verderben gereichte, war
die — von ihr nicht verschuldete — Fügung, daß sie in den Jahrhunderten
der Völkerwandrung, Völkerzersetzung und Völkerneubildung den Staat ersetzte
und infolgedessen noch in den sich unter ihrer Mitwirkung neu bildenden Staaten
ein beherrschendes Element blieb. Das hatte zur Folge, daß der Klerus herrsch¬
süchtig, reich und genußsüchtig wurde, demnach seine geistlichen Pflichten schlecht
erfüllte, und daß, nachdem neue Staatsordnungen entstanden waren, diese schlecht
funktionierten, weil ein Teil der Staatsgeschäfte von Geistlichen besorgt wurde,
die nur wenig oder mäßig dafür befähigt waren, der andre Teil durch die
immerwährende geistliche Einmischung, besonders aber durch die wirtschaftliche
Ausbeutung der Völker von feiten der Hierarchen, gehemmt und beeinträchtigt
wurde. Luther trat auf in einer Zeit, wo dieser Zustand unerträglich geworden
war. Mit einem Ruck die nordischen Völker aus ihm herausgerissen, dadurch
zugleich auch in den katholischen Staaten die Säkularisierung vorbereitet und
in alleweg dem Kaiser gegeben zu haben, was des Kaisers ist, das ist das zweite
Große, das Luther für die Welt getan hat, indem er zugleich die Religion des
Geistes durch die Ermöglichung eines evangelischen Christentums aus ihrer hier¬
archisch-theurgischen Vermummung erlöste.

Vogt freilich sieht die Sache anders an; ihm ist der christliche Jdeenkomplex
zwar eine großartige Schöpfung ehrwürdiger Männer, aber als einer abgelaufnen
Periode der menschlichen Entwicklung angehörend heute tot und nicht mehr zu
wirklichem Leben zu erwecken. Den Kern dieses Jdeenkomplexes sieht er in der
Bergpredigt, an der die Unmöglichkeit der Wiedererweckung deutlich werde in
unsrer Zeit des Rechtsstaats und des Kapitalismus. Nur Tolstoi sei ein wahrer
und echter Christ; die Weise, wie Luther die Aufhebung des Widerspruchs ver¬
suche, befriedige ebensowenig wie die der katholischen Kirche. Ich finde, daß
beide, in verschieden Punkten allerdings, Recht haben. Die katholische Kirche
lehrt bekanntlich, daß die überhohen sittlichen Forderungen „Räte" seien, die
nur für die nach Vollkommenheit strebenden gelten. In unsrer Zeit des


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[0228] Das Moderne in tuther getrieben zu sein, Gott zu dienen, und daß er diese Zuversicht dem größten Teile der nordischen Völker einflößte, das war das eine seiner großen Verdienste. Und jetzt, nachdem die Menschheit im energischen technischen Fortschritt die Erde in erstaunlicher Weise umgestaltet, einen hohen Grad von Beherrschung der Natur¬ kräfte erlangt und dadurch eine Vermehrung des Menschengeschlechts ermöglicht hat, die in jeder frühern Zeit undenkbar gewesen wäre, sehen wir es deutlich, daß die Kulturarbeit von Gott gewollt ist, und daß er damit die Menschheit Zielen zutreibt, von denen wir keine Ahnung haben, wobei jedoch das eschato- logische Ziel des christlichen Glaubens für jeden einzelnen, der ja an dem un¬ bekannten irdischen Endziele keinen Teil hat, gewahrt bleibt. Nur daß er sich dieses Ziel nicht durch Grübelei über seine unerkennbare Beschaffenheit und nicht durch Selbstpeinigung, sondern durch pflichtmäßige Teilnahme an der Kultur¬ arbeit und durch hoffnungsfreudige Hingebung an diese zu sichern sucht. Das andre, was der mittelalterlichen Kirche zum Verderben gereichte, war die — von ihr nicht verschuldete — Fügung, daß sie in den Jahrhunderten der Völkerwandrung, Völkerzersetzung und Völkerneubildung den Staat ersetzte und infolgedessen noch in den sich unter ihrer Mitwirkung neu bildenden Staaten ein beherrschendes Element blieb. Das hatte zur Folge, daß der Klerus herrsch¬ süchtig, reich und genußsüchtig wurde, demnach seine geistlichen Pflichten schlecht erfüllte, und daß, nachdem neue Staatsordnungen entstanden waren, diese schlecht funktionierten, weil ein Teil der Staatsgeschäfte von Geistlichen besorgt wurde, die nur wenig oder mäßig dafür befähigt waren, der andre Teil durch die immerwährende geistliche Einmischung, besonders aber durch die wirtschaftliche Ausbeutung der Völker von feiten der Hierarchen, gehemmt und beeinträchtigt wurde. Luther trat auf in einer Zeit, wo dieser Zustand unerträglich geworden war. Mit einem Ruck die nordischen Völker aus ihm herausgerissen, dadurch zugleich auch in den katholischen Staaten die Säkularisierung vorbereitet und in alleweg dem Kaiser gegeben zu haben, was des Kaisers ist, das ist das zweite Große, das Luther für die Welt getan hat, indem er zugleich die Religion des Geistes durch die Ermöglichung eines evangelischen Christentums aus ihrer hier¬ archisch-theurgischen Vermummung erlöste. Vogt freilich sieht die Sache anders an; ihm ist der christliche Jdeenkomplex zwar eine großartige Schöpfung ehrwürdiger Männer, aber als einer abgelaufnen Periode der menschlichen Entwicklung angehörend heute tot und nicht mehr zu wirklichem Leben zu erwecken. Den Kern dieses Jdeenkomplexes sieht er in der Bergpredigt, an der die Unmöglichkeit der Wiedererweckung deutlich werde in unsrer Zeit des Rechtsstaats und des Kapitalismus. Nur Tolstoi sei ein wahrer und echter Christ; die Weise, wie Luther die Aufhebung des Widerspruchs ver¬ suche, befriedige ebensowenig wie die der katholischen Kirche. Ich finde, daß beide, in verschieden Punkten allerdings, Recht haben. Die katholische Kirche lehrt bekanntlich, daß die überhohen sittlichen Forderungen „Räte" seien, die nur für die nach Vollkommenheit strebenden gelten. In unsrer Zeit des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/228>, abgerufen am 23.07.2024.