Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Moderne in Luther

erwiesen. Er hatte die Erfahrung gemacht, die vor und nach ihm viele andre
ehrliche Verkünder der echten und wahren Freiheit gemacht haben, und die ich
einmal gelegentlich der Verurteilung des Vorrates mit folgenden Worten be¬
schrieben habe: "Wenn die Athener die Sophisten beschuldigten, durch die Unter¬
grabung der Volksreligion auch die Sittlichkeit zu gefährden, wenn sie alle
Philosophen für Sophisten erklärten und von dieser Beschuldigung Männer nicht
ausnahmen. die es sich gerade zur Lebensaufgabe gemacht hatten, durch Reini¬
gung der Gottesidee auch die Sitten des Volkes zu bessern, so handelten sie
nach demselben Grundsatze, den in der christlichen Zeit die orthodoxen Kirchen
bei der Verteidigung ihrer auch in sittlicher Beziehung keineswegs unanfecht¬
baren Lehren befolgt haben, samt den Staatsregierungen, die den Kirchen ihren
Schutz angedeihen lassen. Der Grundsatz heißt: quietg, non niovere, und er
ist weder falsch noch unberechtigt. Die Sitten, Gewohnheiten und Glaubens¬
meinungen eines Volkes machen ein Ganzes aus, ein festverwachsnes Geflecht,
das jeden einzelnen trägt und einhegt und sein Handeln zu einem großen Teile
bestimmt. Der gemeine Mann handelt, abgesehen von Fällen, wo starke Leiden¬
schaft oder Not ihn treibt, über die Stränge zu schlagen, wie er die andern
handeln sieht, und wie es hergebracht ist, und untersucht nicht, ob und wie weit
dieses hergebrachte Handeln der Theorie seiner Religion entspricht oder wider¬
spricht. Fängt er aber erst einmal an, zu untersuchen, zu vernünfteln, dann
steht ihm bald nichts mehr fest, und es fällt ihm gar nicht schwer, seine Be¬
rechtigung zu jeder Schandtat zu beweisen. Nicht den reinen Sinn des philo¬
sophischen Forschers, der aus den edelsten Beweggründen den Volksglauben
kritisiert, eignet er sich an, sondern nur das Recht der subjektiven Entscheidung
über alle Fragen der Theorie und der Praxis, und der in seinem Innern ent¬
scheidende Richter ist natürlich nicht eine höhere von Gott erleuchtete Vernunft
oder gar Gott in eigner Person, sondern seine höchst unerleuchtete Selbstsucht."
Vogt vertraut auf den in den Massen waltenden Gott. "Wahrlich, wenn nicht
Platons Philosophen Könige werden, dann fügen wir uns lieber dem "Herrn
Omnes" (wie Luther die Menge des Volkes geringschätzig nennt), dessen Massen¬
beschluß wie ein Verhängnis, wie eine überragende Kraft wirkt und eben darum
eher etwas von der geheimnisvollen Majestät an sich trägt als so mancher,
der sie in sich verkörpert wähnt. Man hat gesagt, der Protestantismus sei
etwas Aristokratisches, und meinte damit, daß nur wenige Hochgebildete ihn
tatsächlich zum Glaubens- und Lebensprinzip zu machen vermögen; für die
große Mehrheit der Durchschnittsmenschen sei er nicht geeignet; er sei unpäda¬
gogisch, und es sei daher so gut wie aussichtslos, ihn rein und ungebrochen
zur Religion der großen Zahl machen zu wollen. -- Ein neuer Katholizismus
müßte sonach angestrebt werden, denn in ihm ist fraglos das bewunderns-
werteste System der Volksbevormundung in Erscheinung getreten. Das Ab¬
sehen vielvermögender Faktoren des deutschen Staatslebens scheint ja auf dieses
Ziel gerichtet zu sein."


Das Moderne in Luther

erwiesen. Er hatte die Erfahrung gemacht, die vor und nach ihm viele andre
ehrliche Verkünder der echten und wahren Freiheit gemacht haben, und die ich
einmal gelegentlich der Verurteilung des Vorrates mit folgenden Worten be¬
schrieben habe: „Wenn die Athener die Sophisten beschuldigten, durch die Unter¬
grabung der Volksreligion auch die Sittlichkeit zu gefährden, wenn sie alle
Philosophen für Sophisten erklärten und von dieser Beschuldigung Männer nicht
ausnahmen. die es sich gerade zur Lebensaufgabe gemacht hatten, durch Reini¬
gung der Gottesidee auch die Sitten des Volkes zu bessern, so handelten sie
nach demselben Grundsatze, den in der christlichen Zeit die orthodoxen Kirchen
bei der Verteidigung ihrer auch in sittlicher Beziehung keineswegs unanfecht¬
baren Lehren befolgt haben, samt den Staatsregierungen, die den Kirchen ihren
Schutz angedeihen lassen. Der Grundsatz heißt: quietg, non niovere, und er
ist weder falsch noch unberechtigt. Die Sitten, Gewohnheiten und Glaubens¬
meinungen eines Volkes machen ein Ganzes aus, ein festverwachsnes Geflecht,
das jeden einzelnen trägt und einhegt und sein Handeln zu einem großen Teile
bestimmt. Der gemeine Mann handelt, abgesehen von Fällen, wo starke Leiden¬
schaft oder Not ihn treibt, über die Stränge zu schlagen, wie er die andern
handeln sieht, und wie es hergebracht ist, und untersucht nicht, ob und wie weit
dieses hergebrachte Handeln der Theorie seiner Religion entspricht oder wider¬
spricht. Fängt er aber erst einmal an, zu untersuchen, zu vernünfteln, dann
steht ihm bald nichts mehr fest, und es fällt ihm gar nicht schwer, seine Be¬
rechtigung zu jeder Schandtat zu beweisen. Nicht den reinen Sinn des philo¬
sophischen Forschers, der aus den edelsten Beweggründen den Volksglauben
kritisiert, eignet er sich an, sondern nur das Recht der subjektiven Entscheidung
über alle Fragen der Theorie und der Praxis, und der in seinem Innern ent¬
scheidende Richter ist natürlich nicht eine höhere von Gott erleuchtete Vernunft
oder gar Gott in eigner Person, sondern seine höchst unerleuchtete Selbstsucht."
Vogt vertraut auf den in den Massen waltenden Gott. „Wahrlich, wenn nicht
Platons Philosophen Könige werden, dann fügen wir uns lieber dem »Herrn
Omnes« (wie Luther die Menge des Volkes geringschätzig nennt), dessen Massen¬
beschluß wie ein Verhängnis, wie eine überragende Kraft wirkt und eben darum
eher etwas von der geheimnisvollen Majestät an sich trägt als so mancher,
der sie in sich verkörpert wähnt. Man hat gesagt, der Protestantismus sei
etwas Aristokratisches, und meinte damit, daß nur wenige Hochgebildete ihn
tatsächlich zum Glaubens- und Lebensprinzip zu machen vermögen; für die
große Mehrheit der Durchschnittsmenschen sei er nicht geeignet; er sei unpäda¬
gogisch, und es sei daher so gut wie aussichtslos, ihn rein und ungebrochen
zur Religion der großen Zahl machen zu wollen. — Ein neuer Katholizismus
müßte sonach angestrebt werden, denn in ihm ist fraglos das bewunderns-
werteste System der Volksbevormundung in Erscheinung getreten. Das Ab¬
sehen vielvermögender Faktoren des deutschen Staatslebens scheint ja auf dieses
Ziel gerichtet zu sein."


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0226" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313929"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Moderne in Luther</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_961" prev="#ID_960"> erwiesen. Er hatte die Erfahrung gemacht, die vor und nach ihm viele andre<lb/>
ehrliche Verkünder der echten und wahren Freiheit gemacht haben, und die ich<lb/>
einmal gelegentlich der Verurteilung des Vorrates mit folgenden Worten be¬<lb/>
schrieben habe: &#x201E;Wenn die Athener die Sophisten beschuldigten, durch die Unter¬<lb/>
grabung der Volksreligion auch die Sittlichkeit zu gefährden, wenn sie alle<lb/>
Philosophen für Sophisten erklärten und von dieser Beschuldigung Männer nicht<lb/>
ausnahmen. die es sich gerade zur Lebensaufgabe gemacht hatten, durch Reini¬<lb/>
gung der Gottesidee auch die Sitten des Volkes zu bessern, so handelten sie<lb/>
nach demselben Grundsatze, den in der christlichen Zeit die orthodoxen Kirchen<lb/>
bei der Verteidigung ihrer auch in sittlicher Beziehung keineswegs unanfecht¬<lb/>
baren Lehren befolgt haben, samt den Staatsregierungen, die den Kirchen ihren<lb/>
Schutz angedeihen lassen. Der Grundsatz heißt: quietg, non niovere, und er<lb/>
ist weder falsch noch unberechtigt. Die Sitten, Gewohnheiten und Glaubens¬<lb/>
meinungen eines Volkes machen ein Ganzes aus, ein festverwachsnes Geflecht,<lb/>
das jeden einzelnen trägt und einhegt und sein Handeln zu einem großen Teile<lb/>
bestimmt. Der gemeine Mann handelt, abgesehen von Fällen, wo starke Leiden¬<lb/>
schaft oder Not ihn treibt, über die Stränge zu schlagen, wie er die andern<lb/>
handeln sieht, und wie es hergebracht ist, und untersucht nicht, ob und wie weit<lb/>
dieses hergebrachte Handeln der Theorie seiner Religion entspricht oder wider¬<lb/>
spricht. Fängt er aber erst einmal an, zu untersuchen, zu vernünfteln, dann<lb/>
steht ihm bald nichts mehr fest, und es fällt ihm gar nicht schwer, seine Be¬<lb/>
rechtigung zu jeder Schandtat zu beweisen. Nicht den reinen Sinn des philo¬<lb/>
sophischen Forschers, der aus den edelsten Beweggründen den Volksglauben<lb/>
kritisiert, eignet er sich an, sondern nur das Recht der subjektiven Entscheidung<lb/>
über alle Fragen der Theorie und der Praxis, und der in seinem Innern ent¬<lb/>
scheidende Richter ist natürlich nicht eine höhere von Gott erleuchtete Vernunft<lb/>
oder gar Gott in eigner Person, sondern seine höchst unerleuchtete Selbstsucht."<lb/>
Vogt vertraut auf den in den Massen waltenden Gott. &#x201E;Wahrlich, wenn nicht<lb/>
Platons Philosophen Könige werden, dann fügen wir uns lieber dem »Herrn<lb/>
Omnes« (wie Luther die Menge des Volkes geringschätzig nennt), dessen Massen¬<lb/>
beschluß wie ein Verhängnis, wie eine überragende Kraft wirkt und eben darum<lb/>
eher etwas von der geheimnisvollen Majestät an sich trägt als so mancher,<lb/>
der sie in sich verkörpert wähnt. Man hat gesagt, der Protestantismus sei<lb/>
etwas Aristokratisches, und meinte damit, daß nur wenige Hochgebildete ihn<lb/>
tatsächlich zum Glaubens- und Lebensprinzip zu machen vermögen; für die<lb/>
große Mehrheit der Durchschnittsmenschen sei er nicht geeignet; er sei unpäda¬<lb/>
gogisch, und es sei daher so gut wie aussichtslos, ihn rein und ungebrochen<lb/>
zur Religion der großen Zahl machen zu wollen. &#x2014; Ein neuer Katholizismus<lb/>
müßte sonach angestrebt werden, denn in ihm ist fraglos das bewunderns-<lb/>
werteste System der Volksbevormundung in Erscheinung getreten. Das Ab¬<lb/>
sehen vielvermögender Faktoren des deutschen Staatslebens scheint ja auf dieses<lb/>
Ziel gerichtet zu sein."</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0226] Das Moderne in Luther erwiesen. Er hatte die Erfahrung gemacht, die vor und nach ihm viele andre ehrliche Verkünder der echten und wahren Freiheit gemacht haben, und die ich einmal gelegentlich der Verurteilung des Vorrates mit folgenden Worten be¬ schrieben habe: „Wenn die Athener die Sophisten beschuldigten, durch die Unter¬ grabung der Volksreligion auch die Sittlichkeit zu gefährden, wenn sie alle Philosophen für Sophisten erklärten und von dieser Beschuldigung Männer nicht ausnahmen. die es sich gerade zur Lebensaufgabe gemacht hatten, durch Reini¬ gung der Gottesidee auch die Sitten des Volkes zu bessern, so handelten sie nach demselben Grundsatze, den in der christlichen Zeit die orthodoxen Kirchen bei der Verteidigung ihrer auch in sittlicher Beziehung keineswegs unanfecht¬ baren Lehren befolgt haben, samt den Staatsregierungen, die den Kirchen ihren Schutz angedeihen lassen. Der Grundsatz heißt: quietg, non niovere, und er ist weder falsch noch unberechtigt. Die Sitten, Gewohnheiten und Glaubens¬ meinungen eines Volkes machen ein Ganzes aus, ein festverwachsnes Geflecht, das jeden einzelnen trägt und einhegt und sein Handeln zu einem großen Teile bestimmt. Der gemeine Mann handelt, abgesehen von Fällen, wo starke Leiden¬ schaft oder Not ihn treibt, über die Stränge zu schlagen, wie er die andern handeln sieht, und wie es hergebracht ist, und untersucht nicht, ob und wie weit dieses hergebrachte Handeln der Theorie seiner Religion entspricht oder wider¬ spricht. Fängt er aber erst einmal an, zu untersuchen, zu vernünfteln, dann steht ihm bald nichts mehr fest, und es fällt ihm gar nicht schwer, seine Be¬ rechtigung zu jeder Schandtat zu beweisen. Nicht den reinen Sinn des philo¬ sophischen Forschers, der aus den edelsten Beweggründen den Volksglauben kritisiert, eignet er sich an, sondern nur das Recht der subjektiven Entscheidung über alle Fragen der Theorie und der Praxis, und der in seinem Innern ent¬ scheidende Richter ist natürlich nicht eine höhere von Gott erleuchtete Vernunft oder gar Gott in eigner Person, sondern seine höchst unerleuchtete Selbstsucht." Vogt vertraut auf den in den Massen waltenden Gott. „Wahrlich, wenn nicht Platons Philosophen Könige werden, dann fügen wir uns lieber dem »Herrn Omnes« (wie Luther die Menge des Volkes geringschätzig nennt), dessen Massen¬ beschluß wie ein Verhängnis, wie eine überragende Kraft wirkt und eben darum eher etwas von der geheimnisvollen Majestät an sich trägt als so mancher, der sie in sich verkörpert wähnt. Man hat gesagt, der Protestantismus sei etwas Aristokratisches, und meinte damit, daß nur wenige Hochgebildete ihn tatsächlich zum Glaubens- und Lebensprinzip zu machen vermögen; für die große Mehrheit der Durchschnittsmenschen sei er nicht geeignet; er sei unpäda¬ gogisch, und es sei daher so gut wie aussichtslos, ihn rein und ungebrochen zur Religion der großen Zahl machen zu wollen. — Ein neuer Katholizismus müßte sonach angestrebt werden, denn in ihm ist fraglos das bewunderns- werteste System der Volksbevormundung in Erscheinung getreten. Das Ab¬ sehen vielvermögender Faktoren des deutschen Staatslebens scheint ja auf dieses Ziel gerichtet zu sein."

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/226
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/226>, abgerufen am 23.07.2024.