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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

dem Wogenschlage der Weltgeschichte, der Leipzigs Mauern so oft umbrandet hat,
vernehmen wir hier nichts, desto mehr dagegen von dem bürgerlichen, wirtschaft¬
lichen und künstlerischen Leben der Vergangenheit, dessen Äußerungen uns heute
so seltsam anmuten, und in dem ein schärferes Auge doch beinahe überall die
Keime gegenwärtiger Zustände erkennt. Während uns die Aufsätze „Huldigungen",
„Der Tanz im alten Leipzig", „Zur frühesten Leipziger Kunstgeschichte", „Frauen¬
häuser und freie Frauen", „Gasthöfe, Wirte und Fremde", „Eine Fürstenhochzeit
im Rathause" (es handelt sich um die Vermählung Wilhelms von Oranien mit
Anna, der Tochter des Kurfürsten Moritz vou Sachsen), „Das Pflugksche Freihaus
und andre Freihäuser", „Die drei ältesten Apotheken und die Hsi-batio arniua," in
das Mittelalter oder doch in das Jahrhundert der Reformation führen, leiten die
Artikel „Wie ist Leipzig zu den Mansfelder Kuxen gekommen?". „Zur Geschichte
des Kunsthandwerks", „Ein Doktor-Ingenieur der Barockzeit" (Jakob Leupold),
„Gellert als Lehrer des Deutschen", „Ein Enkel Johann Sebastian Bachs" (der
Maler Johann Samuel Bach), „Der junge Geißler in Rußland", „Die Nikolai¬
kirche und der Stil Louis Setze", „Das Tageblatt", „Robert Schumanns Zeit¬
schrift für Musik", die beiden biographischen Skizzen „Otto Georgi" und „Bruno
Tröndlin" und endlich die beherzigenswerte Denkschrift „Der Leipziger Ostpark"
in die neuere und neuste Zeit, ja in die Zukunft hinüber.

Wie wir schon angedeutet haben und wie auch aus dieser trocknen Aufzählung
der Überschriften zu erkennen ist, liegt der Schwerpunkt dieser kleinen Arbeiten
auf der kulturgeschichtlichen Seite. Gerade dieser Umstand wird dem Buche über
das rein lokale Interesse hinaus die gebührende Beachtung sichern. Das Kapitel
über die Apotheken zum Beispiel und über die im Laufe der Jahrhunderte so
häufig wechselnde Anschauung über ihre von den Besitzern freilich eifrig bestrittne
Abhängigkeit von Rat, Landesregierung und Universität dürfte sich unsers Ercichtens
in der Geschichte keiner andern Stadt in ähnlich erschöpfender Weise finden. Wie
merkwürdig mutet es uns heute an, wenn wir hier lesen, daß schon im Jahre 1474
eine landesherrliche Verordnung erschien, die den Apothekern das Feilhalten guter,
frischer Arzneien, eine feste Taxe, Vereidigung der Geschäfsinhaber und ihrer An¬
gestellten und jährliche Visitationen durch Ärzte vorschrieb, und daß ein ärztliches
Gutachten aus dem Jahre 1502 verlangte, die Apotheker sollten schwören, „daß
sie alle Ding nach Verordnung der Doctor machten und nichts nachließen,
auch nicht Gift verkauften leichtfertigen Personen ohne eines Doctors angezeigte
Handschrift"!

Wie man aus dieser kurzen Ankündigung ersehen wird, reiht sich der neue
Band der schönen Sammlung seinen beiden Vorgängern würdig an. Möchte
seine stille aber eindringliche Sprache vom Lärm der Universitätsfeier nicht über¬
t I-R. H. äubt werden!


Rusland noch einmal.

Die Notiz über Rusland auf S. 250 des 18. Hefts
veranlaßt Herrn Professor Dr. Biermer, mir seine (soeben bei Emil Roth in Gießen
erschienene) Schrift „Der Beleidigungsprozeß Rusland voudra, Biermer, nach steno¬
graphischen Aufzeichnungen" zu schicken. Der Anlaß zu dem Prozeß war folgender.
Am 19. Dezember 1902 brachte der Landwirt Köhler aus Langsdorf, ein Vertreter
der antisemitischen Bauernpartei, in der zweiten hessischen Kammer einen in die
Form einer Anfrage gekleideten Antrag ein des Inhalts: An der Universität Gießen
werde die Nationalökonomie ausschließlich nach den verderblichen Theorien von Smith,
Ricardo und Marx gelehrt, wobei zu beachten sei, daß Ricardo und Marx Juden
gewesen seien. Diese Theorien würden von einem den Börsenkreisen nahestehenden


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/155>, abgerufen am 29.12.2024.