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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Kurpfuscher und soziale Pfuscher

Heilkräfte in den Wein sozialer Kampfgeister gießen oder ihr Feuerwasser in
die erhitzten Gemüter -- je nachdem.

Von Mons' "Utopia", Campanellas "Sonnenstaat", Morellys "Basiliade"
und Cadets "Jkarischer Reise" bis zu Bellamy und andern neuern Versuchen
der Lösung der sozialen Frage, durch Marxens Kladderadatsch- und Zusammen-
l'ruchstheorie hindurch bis zu den anarchistischen Lehren ist es im Grunde
immer dasselbe: konstruierte Thesen und Theoreme an Stelle der ruhigen
wirklichen Entwicklung. Ein jüngst erschienenes Buch eines Russen I. Novicow,
Mitglied und ehemals Vizepräsident des Internationalen soziologischen Instituts,
gibt unter dem Titel "Die Gerechtigkeit und die Entfaltung des Lebens" solche
einfachen kurpfuscherischen Heilmittel für soziale Krankheiten. Weil der Sinn für
Gerechtigkeit fehle, und weil der einzelne die für seinen Egoismus förderliche
Funktion gerechten Sinnes und Handelns verkenne, darum sei das soziale
Elend in der Welt. Die Menschen sollen einsehen, daß sie aus Egoismus
altruistisch handeln müssen und den Krieg durch den Frieden ersetzen -- und
alle soziale Not ist geheilt. Es ist, als ob ein Arzt dem Kranken sagen
wollte: wenn er nur gesund wäre, da wäre alle Krankheit vorbei. Soziale
Pfuscher darf man auch diese nennen, wenn sie, den geraden Weg der Not¬
wendigkeit nichtachtend, dem Kranken Phantasmagorien und unwissenschaftliche
Versprechungen vorspiegeln.

Andrer Art sind die Pfuscher vom Spielcrtypus. Alles, was Spiel
heißt, sofern es um Geld und Gut geht, hat den geraden Weg wirtschaftlicher
Folgerichtigkeit verlassen, macht selbstgesetzte Sprünge, um Vorteil zu vermitteln.
..Vorteil", der auf der Kugel des Glücks in den Abgrund rollen kann. Buch¬
macher, Hasardspieler, das ganze blühende Monaco . . . Reiche werden zu
Armen, Arme kurze Zeit zu Reichen gemacht im Handumdrehen, ohne die Ent¬
wicklung, die dazu gehört... mit Existenzen wird gespielt. Wahrlich eine
soziale Pfuscherei, die zu offenbar ist. als daß man über sie noch viele Worte zu
verlieren brauchte. Das ist auch denen, die sich irgendwie daran beteiligen,
nicht unbekannt, und wer tiefer nachdenkt, rechnet auch Lotto und Lotterien
zu diesen Pfuschartikeln.

Das Strafrecht kann wenig helfen; bekanntlich bestraft es bei uns in
Deutschland die Glücksspiele nur dann, wenn sie von einer Person öffentlich
oder gewerbsmäßig oder betrügerisch oder übermäßig ausgeübt werden. Aber
ob in Österreich, das ohne Rücksicht auf den Ort jedes Glücksspiel verbietet,
die Dinge wirtschaftlich wirklich besser liegen, ist mindestens zweifelhaft.

Immer wieder neue Schleichwege findet das sich auf den Schleichweg
prinzipiell gründende Spiel. So mußte vor einiger Zeit die Polizei gegen die
Spielautomaten einschreiten, die in "Automatenvarietis", "Antomatenaus-
stellungen", oder wie die Lokale sonst noch heißen, kleine Einwürfe mit großem
Gewinn zu lohnen versprachen, aber höchst sinnig so eingerichtet waren, daß
die Kugel von der Gewinnöffnuug abgelenkt wurde. Die ärgsten Auswüchse,


Kurpfuscher und soziale Pfuscher

Heilkräfte in den Wein sozialer Kampfgeister gießen oder ihr Feuerwasser in
die erhitzten Gemüter — je nachdem.

Von Mons' „Utopia", Campanellas „Sonnenstaat", Morellys „Basiliade"
und Cadets „Jkarischer Reise" bis zu Bellamy und andern neuern Versuchen
der Lösung der sozialen Frage, durch Marxens Kladderadatsch- und Zusammen-
l'ruchstheorie hindurch bis zu den anarchistischen Lehren ist es im Grunde
immer dasselbe: konstruierte Thesen und Theoreme an Stelle der ruhigen
wirklichen Entwicklung. Ein jüngst erschienenes Buch eines Russen I. Novicow,
Mitglied und ehemals Vizepräsident des Internationalen soziologischen Instituts,
gibt unter dem Titel „Die Gerechtigkeit und die Entfaltung des Lebens" solche
einfachen kurpfuscherischen Heilmittel für soziale Krankheiten. Weil der Sinn für
Gerechtigkeit fehle, und weil der einzelne die für seinen Egoismus förderliche
Funktion gerechten Sinnes und Handelns verkenne, darum sei das soziale
Elend in der Welt. Die Menschen sollen einsehen, daß sie aus Egoismus
altruistisch handeln müssen und den Krieg durch den Frieden ersetzen — und
alle soziale Not ist geheilt. Es ist, als ob ein Arzt dem Kranken sagen
wollte: wenn er nur gesund wäre, da wäre alle Krankheit vorbei. Soziale
Pfuscher darf man auch diese nennen, wenn sie, den geraden Weg der Not¬
wendigkeit nichtachtend, dem Kranken Phantasmagorien und unwissenschaftliche
Versprechungen vorspiegeln.

Andrer Art sind die Pfuscher vom Spielcrtypus. Alles, was Spiel
heißt, sofern es um Geld und Gut geht, hat den geraden Weg wirtschaftlicher
Folgerichtigkeit verlassen, macht selbstgesetzte Sprünge, um Vorteil zu vermitteln.
..Vorteil", der auf der Kugel des Glücks in den Abgrund rollen kann. Buch¬
macher, Hasardspieler, das ganze blühende Monaco . . . Reiche werden zu
Armen, Arme kurze Zeit zu Reichen gemacht im Handumdrehen, ohne die Ent¬
wicklung, die dazu gehört... mit Existenzen wird gespielt. Wahrlich eine
soziale Pfuscherei, die zu offenbar ist. als daß man über sie noch viele Worte zu
verlieren brauchte. Das ist auch denen, die sich irgendwie daran beteiligen,
nicht unbekannt, und wer tiefer nachdenkt, rechnet auch Lotto und Lotterien
zu diesen Pfuschartikeln.

Das Strafrecht kann wenig helfen; bekanntlich bestraft es bei uns in
Deutschland die Glücksspiele nur dann, wenn sie von einer Person öffentlich
oder gewerbsmäßig oder betrügerisch oder übermäßig ausgeübt werden. Aber
ob in Österreich, das ohne Rücksicht auf den Ort jedes Glücksspiel verbietet,
die Dinge wirtschaftlich wirklich besser liegen, ist mindestens zweifelhaft.

Immer wieder neue Schleichwege findet das sich auf den Schleichweg
prinzipiell gründende Spiel. So mußte vor einiger Zeit die Polizei gegen die
Spielautomaten einschreiten, die in „Automatenvarietis", „Antomatenaus-
stellungen", oder wie die Lokale sonst noch heißen, kleine Einwürfe mit großem
Gewinn zu lohnen versprachen, aber höchst sinnig so eingerichtet waren, daß
die Kugel von der Gewinnöffnuug abgelenkt wurde. Die ärgsten Auswüchse,


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[0129] Kurpfuscher und soziale Pfuscher Heilkräfte in den Wein sozialer Kampfgeister gießen oder ihr Feuerwasser in die erhitzten Gemüter — je nachdem. Von Mons' „Utopia", Campanellas „Sonnenstaat", Morellys „Basiliade" und Cadets „Jkarischer Reise" bis zu Bellamy und andern neuern Versuchen der Lösung der sozialen Frage, durch Marxens Kladderadatsch- und Zusammen- l'ruchstheorie hindurch bis zu den anarchistischen Lehren ist es im Grunde immer dasselbe: konstruierte Thesen und Theoreme an Stelle der ruhigen wirklichen Entwicklung. Ein jüngst erschienenes Buch eines Russen I. Novicow, Mitglied und ehemals Vizepräsident des Internationalen soziologischen Instituts, gibt unter dem Titel „Die Gerechtigkeit und die Entfaltung des Lebens" solche einfachen kurpfuscherischen Heilmittel für soziale Krankheiten. Weil der Sinn für Gerechtigkeit fehle, und weil der einzelne die für seinen Egoismus förderliche Funktion gerechten Sinnes und Handelns verkenne, darum sei das soziale Elend in der Welt. Die Menschen sollen einsehen, daß sie aus Egoismus altruistisch handeln müssen und den Krieg durch den Frieden ersetzen — und alle soziale Not ist geheilt. Es ist, als ob ein Arzt dem Kranken sagen wollte: wenn er nur gesund wäre, da wäre alle Krankheit vorbei. Soziale Pfuscher darf man auch diese nennen, wenn sie, den geraden Weg der Not¬ wendigkeit nichtachtend, dem Kranken Phantasmagorien und unwissenschaftliche Versprechungen vorspiegeln. Andrer Art sind die Pfuscher vom Spielcrtypus. Alles, was Spiel heißt, sofern es um Geld und Gut geht, hat den geraden Weg wirtschaftlicher Folgerichtigkeit verlassen, macht selbstgesetzte Sprünge, um Vorteil zu vermitteln. ..Vorteil", der auf der Kugel des Glücks in den Abgrund rollen kann. Buch¬ macher, Hasardspieler, das ganze blühende Monaco . . . Reiche werden zu Armen, Arme kurze Zeit zu Reichen gemacht im Handumdrehen, ohne die Ent¬ wicklung, die dazu gehört... mit Existenzen wird gespielt. Wahrlich eine soziale Pfuscherei, die zu offenbar ist. als daß man über sie noch viele Worte zu verlieren brauchte. Das ist auch denen, die sich irgendwie daran beteiligen, nicht unbekannt, und wer tiefer nachdenkt, rechnet auch Lotto und Lotterien zu diesen Pfuschartikeln. Das Strafrecht kann wenig helfen; bekanntlich bestraft es bei uns in Deutschland die Glücksspiele nur dann, wenn sie von einer Person öffentlich oder gewerbsmäßig oder betrügerisch oder übermäßig ausgeübt werden. Aber ob in Österreich, das ohne Rücksicht auf den Ort jedes Glücksspiel verbietet, die Dinge wirtschaftlich wirklich besser liegen, ist mindestens zweifelhaft. Immer wieder neue Schleichwege findet das sich auf den Schleichweg prinzipiell gründende Spiel. So mußte vor einiger Zeit die Polizei gegen die Spielautomaten einschreiten, die in „Automatenvarietis", „Antomatenaus- stellungen", oder wie die Lokale sonst noch heißen, kleine Einwürfe mit großem Gewinn zu lohnen versprachen, aber höchst sinnig so eingerichtet waren, daß die Kugel von der Gewinnöffnuug abgelenkt wurde. Die ärgsten Auswüchse,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/129>, abgerufen am 23.07.2024.