Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Ariminalvolitische Irrtümer So ganz allein, wie man meinen möchte, steht Dürkheim mit seinen An¬ Ein schönes Beispiel für das Unrichtige solcher Ansicht ist die Kriminalitäts- Wie weit die Symbiose von Verbrechen und Zivilisation notwendig ist, In den Dürkheim-Polettischen Lehrsätzen offenbart sich schließlich weiter ") Wenn man liest, wie sich in dein Schauspiel von Octave Mirbemu l.M MÄirs" sont
los "KÄros der Held Francois Lechat, ein Geschäftshalunke und gewissenloser Bankerottierer, in Tiraden über die wirtschaftliche Notwendigkeit seines Halunkentums ergeht, so möchte man glauben, in der in, Text wiedcrgegebnen Ansicht es mit einer gangbaren romanischen Anschauung zu tun zu habe". Ariminalvolitische Irrtümer So ganz allein, wie man meinen möchte, steht Dürkheim mit seinen An¬ Ein schönes Beispiel für das Unrichtige solcher Ansicht ist die Kriminalitäts- Wie weit die Symbiose von Verbrechen und Zivilisation notwendig ist, In den Dürkheim-Polettischen Lehrsätzen offenbart sich schließlich weiter ") Wenn man liest, wie sich in dein Schauspiel von Octave Mirbemu l.M MÄirs» sont
los »KÄros der Held Francois Lechat, ein Geschäftshalunke und gewissenloser Bankerottierer, in Tiraden über die wirtschaftliche Notwendigkeit seines Halunkentums ergeht, so möchte man glauben, in der in, Text wiedcrgegebnen Ansicht es mit einer gangbaren romanischen Anschauung zu tun zu habe». <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0084" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312435"/> <fw type="header" place="top"> Ariminalvolitische Irrtümer</fw><lb/> <p xml:id="ID_327"> So ganz allein, wie man meinen möchte, steht Dürkheim mit seinen An¬<lb/> sichten nicht. Der Italiener Poletti hält die Zunahme der Kriminalität für<lb/> eine natürliche und notwendige Folge der Zivilisation und darum für etwas<lb/> Gutes. Wenn man die anstündige Handlungsweise der Menschen mit der<lb/> verbrecherischen vergleiche, so müsse man, sagt er, prinzipiell zugeben, daß sie<lb/> sich parallel entwickelten. Die Summe anständiger Arbeit, die unsre kommerziellen<lb/> und industriellen Beziehungen vermehrte, müßte parallel anch die Summe der<lb/> verbrecherischen Arbeit, die Gelegenheiten, in Straftaten zu verfallen, vermehren.<lb/> Das heißt schließlich nichts andres, als weil die Menschheit die Zivilisation<lb/> will, muß sie auch deren Gefolgschaft wollen, die Zunahme des Verbrechens.<lb/> Große Kriminalität, große Zivilisation. Selbst wenn diese Ansicht richtig wäre,<lb/> müßte man doch noch nicht die Kriminalitätszunahme als ein Gut preisen und<lb/> sie gewissermaßen als das Primäre oder gar Bessere über die äirg. nsesssitas,<lb/> die sie leider ist, erheben wollen. Und die These von der Parallelentwicklung<lb/> der Zivilisation und der Kriminalität steht denn doch noch etwas sehr des<lb/> Beweises entkleidet da.^)</p><lb/> <p xml:id="ID_328"> Ein schönes Beispiel für das Unrichtige solcher Ansicht ist die Kriminalitäts-<lb/> entwickluug im Kanton Genf. Dieses gottbegnadete Lündchen ist infolge des<lb/> unaufhörlichen Zustroms von Fremden aus allen Kulturländern im neunzehnten<lb/> Jahrhundert zu einer außerordentlichen Blüte und zu großem Reichtum gelangt.<lb/> Es ist mit der Zeit durch seine Universität und dnrch viele reich dotierte<lb/> Stiftungen ein Kulturmittelpunkt erster Ordnung geworden, wie aber in der<lb/> freien Schweiz nicht auffallend, auch ein Asyl für ein hergelaufnes Gesindel<lb/> aller Art und der verschiedenartigsten Herkunft. Die Bevölkerung hat sich im<lb/> neunzehnten Jahrhundert verdoppelt, die fremde Eimvcmdrung vervierfacht, und<lb/> trotzdem hat sich die Kriminalität um 85 Prozent vermindert.</p><lb/> <p xml:id="ID_329"> Wie weit die Symbiose von Verbrechen und Zivilisation notwendig ist,<lb/> ahnen wir heute nicht einmal, nicht weil die Zivilisation nicht weit genug<lb/> fortgeschritten ist, sondern weil wir noch nicht lange und tief genug den Zu¬<lb/> sammenhang der Kriminalität mit den Leben und Entwicklung der Menschheit<lb/> beherrschenden Gesetzen erforscht haben, weil wir erst im Anfang der Er- und<lb/> Begründung des Satzes stehn, daß auch die Geschehnisse der sittlichen Welt<lb/> unter Gesetzen, wie die der physischen, stehn. Der allewege regierende Jn-<lb/> determinismns bekämpft ja heute noch diesen Satz heftig.</p><lb/> <p xml:id="ID_330" next="#ID_331"> In den Dürkheim-Polettischen Lehrsätzen offenbart sich schließlich weiter<lb/> nichts als der anscheinend unversiegbare Glaube an das Verbrecherheldentum,<lb/> dessen Verherrlichung weiter zurückreicht als auf die griechische» Schicksals-</p><lb/> <note xml:id="FID_16" place="foot"> ") Wenn man liest, wie sich in dein Schauspiel von Octave Mirbemu l.M MÄirs» sont<lb/> los »KÄros der Held Francois Lechat, ein Geschäftshalunke und gewissenloser Bankerottierer,<lb/> in Tiraden über die wirtschaftliche Notwendigkeit seines Halunkentums ergeht, so möchte man<lb/> glauben, in der in, Text wiedcrgegebnen Ansicht es mit einer gangbaren romanischen Anschauung<lb/> zu tun zu habe».</note><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0084]
Ariminalvolitische Irrtümer
So ganz allein, wie man meinen möchte, steht Dürkheim mit seinen An¬
sichten nicht. Der Italiener Poletti hält die Zunahme der Kriminalität für
eine natürliche und notwendige Folge der Zivilisation und darum für etwas
Gutes. Wenn man die anstündige Handlungsweise der Menschen mit der
verbrecherischen vergleiche, so müsse man, sagt er, prinzipiell zugeben, daß sie
sich parallel entwickelten. Die Summe anständiger Arbeit, die unsre kommerziellen
und industriellen Beziehungen vermehrte, müßte parallel anch die Summe der
verbrecherischen Arbeit, die Gelegenheiten, in Straftaten zu verfallen, vermehren.
Das heißt schließlich nichts andres, als weil die Menschheit die Zivilisation
will, muß sie auch deren Gefolgschaft wollen, die Zunahme des Verbrechens.
Große Kriminalität, große Zivilisation. Selbst wenn diese Ansicht richtig wäre,
müßte man doch noch nicht die Kriminalitätszunahme als ein Gut preisen und
sie gewissermaßen als das Primäre oder gar Bessere über die äirg. nsesssitas,
die sie leider ist, erheben wollen. Und die These von der Parallelentwicklung
der Zivilisation und der Kriminalität steht denn doch noch etwas sehr des
Beweises entkleidet da.^)
Ein schönes Beispiel für das Unrichtige solcher Ansicht ist die Kriminalitäts-
entwickluug im Kanton Genf. Dieses gottbegnadete Lündchen ist infolge des
unaufhörlichen Zustroms von Fremden aus allen Kulturländern im neunzehnten
Jahrhundert zu einer außerordentlichen Blüte und zu großem Reichtum gelangt.
Es ist mit der Zeit durch seine Universität und dnrch viele reich dotierte
Stiftungen ein Kulturmittelpunkt erster Ordnung geworden, wie aber in der
freien Schweiz nicht auffallend, auch ein Asyl für ein hergelaufnes Gesindel
aller Art und der verschiedenartigsten Herkunft. Die Bevölkerung hat sich im
neunzehnten Jahrhundert verdoppelt, die fremde Eimvcmdrung vervierfacht, und
trotzdem hat sich die Kriminalität um 85 Prozent vermindert.
Wie weit die Symbiose von Verbrechen und Zivilisation notwendig ist,
ahnen wir heute nicht einmal, nicht weil die Zivilisation nicht weit genug
fortgeschritten ist, sondern weil wir noch nicht lange und tief genug den Zu¬
sammenhang der Kriminalität mit den Leben und Entwicklung der Menschheit
beherrschenden Gesetzen erforscht haben, weil wir erst im Anfang der Er- und
Begründung des Satzes stehn, daß auch die Geschehnisse der sittlichen Welt
unter Gesetzen, wie die der physischen, stehn. Der allewege regierende Jn-
determinismns bekämpft ja heute noch diesen Satz heftig.
In den Dürkheim-Polettischen Lehrsätzen offenbart sich schließlich weiter
nichts als der anscheinend unversiegbare Glaube an das Verbrecherheldentum,
dessen Verherrlichung weiter zurückreicht als auf die griechische» Schicksals-
") Wenn man liest, wie sich in dein Schauspiel von Octave Mirbemu l.M MÄirs» sont
los »KÄros der Held Francois Lechat, ein Geschäftshalunke und gewissenloser Bankerottierer,
in Tiraden über die wirtschaftliche Notwendigkeit seines Halunkentums ergeht, so möchte man
glauben, in der in, Text wiedcrgegebnen Ansicht es mit einer gangbaren romanischen Anschauung
zu tun zu habe».
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