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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Umnaßgebliches

In denselben Tagen wurde bei uns der Marineetat in der Budgetkommission
beraten. Admiral v. Tirpitz konnte natürlich an den Verhandlungen des englischen
Unterhauses nicht stillschweigend vorübergehn. Er hatte es jedoch leicht, die eng¬
lische Berechnung richtigzustellen. Er brauchte nur darauf hinzuweisen, daß das
deutsche Flottengesetz ja vor aller Welt genau bestimmt, welche Schiffe und in
welchem Zeitraum sie gebaut werden sollen. Mit Recht konnte er Erstaunen äußern,
daß vollkommen falsche Vorstellungen über den Umfang der deutschen Flotte im
Auslande öffentlich und amtlich verbreitet werden können. Im übrigen aber ist es
Sache jedes Staates, seine Seestreitkräfte nach eignem Bedürfnis zu bestimmen, und
wir werden mich ferner unsern Weg gehen ohne Feindseligkeit und Drohung gegen
England, aber auch ohne uns einschüchtern zu lassen.

Das Plenum des Reichstags ist jetzt beim Militäretat angelangt. Die De¬
batten gestalteten sich diesmal sehr lebhaft, und mehrfach hat der Kriegsminister
General v. Einem das Wort ergriffen, um die Heeresverwaltung gegen die übliche
Kritik zu verteidigen. Diese Kritik bringt im allgemeinen nicht viel Neues vor;
es sind im wesentlichen immer dieselben Klagen, die meist darauf beruhen, daß die
Beurteiler von einem grundsätzlich ganz verschiednen Standpunkt ausgehen, auf den
sich die Militärverwaltung nicht stellen kaun. Der Wunsch der Linksliberalen geht
auf eine größere Demokratisierung der Heereseinrichtnngen, und diesen Bestrebungen
schließt sich auch ein großer Teil des Zentrums an, das jetzt glücklich ist, in der
Person eines ehemaligen bayrischen Generals, des Abgeordneten Häusler, einen fach¬
männischer Wortführer gefunden zu haben. Nun ist ja durchaus nicht zu ver¬
wundern, daß es auch im Offizierkorps selbst -- und zwar gerade unter Persönlich¬
keiten von großer Intelligenz -- Leute gibt, die abweichend von den "offiziellen"
Ansichten ihre eignen Wege gehn. Gewöhnlich handelt es sich da aber doch in
der Regel um irgendeine einseitig entwickelte und auf gewisse Lieblingsgedanken
gerichtete geistige Eigenheit, die mehr durch zufällige persönliche Erfahrungen als
durch streng geschultes Nachdenken über die Bedürfnisse des großen Ganzen genährt
worden ist. So kann es denn auch vorkommen, daß ein Mann, der es zu hohen
Stellungen in der Armee gebracht hat und wahrscheinlich in Pflichttreue und
Intelligenz hinter niemand seinesgleichen zurückgeblieben ist, doch zu so abstrusen
und unter Fachmännern vereinzelt dastehenden Ansichten gelangt, wie sie der Ab¬
geordnete Häusler über Wert und Ausbildung der Kavallerie entwickelt hat.

Gewöhnlich wirken besondre Vorkommnisse darauf ein, daß bestimmte Fragen
in der Militärdebatte in den Vordergrund gerückt werden. Eine solche Frage war
diesmal die der geheimen Qualifikationsberichte, in denen die persönliche Befähigung
der Offiziere und ihre Eignung zur Beförderung und besondern Verwendung von
den Verantwortlicher Vorgesetzten beurteilt werden. Ein derartiges Urteil kann nicht
auf exakten, mit juristischer Schärfe oder mathematischer Sicherheit zu bestimmenden
Unterlagen aufgebaut werden, sondern es muß, wie man die Sache auch anfassen
mag, von Menschen nach subjektiven Beobachtungen gefällt werden. Daraus folgt
für jeden verständigen Menschen ganz von selbst, daß bei der Beurteilung der
Offiziere Irrtümer und auch Ungerechtigkeiten vorkommen können, nicht bewußte
Ungerechtigkeiten, wohl aber solche, die aus der Unvollkommenheit menschlichen
Beobachters und Urteilens selbst bei strengster Gewissenhaftigkeit entspringen.
Solche Irrtümer sind nicht wegzuschaffen, man mag das System einrichten, wie
man will. In Frankreich suchte mau dem Übelstande vorzubeugen, indem man die
entscheidende Feststellung der Qualifikationen Kommissionen übertrug. Sehr schön!
aber worauf fußten die Mitglieder der Kommissionen? Ebenfalls auf subjektiven
Urteilen und Beobachtungen von Vorgesetzten! Und wenn diese nun falsch waren?


Maßgebliches und Umnaßgebliches

In denselben Tagen wurde bei uns der Marineetat in der Budgetkommission
beraten. Admiral v. Tirpitz konnte natürlich an den Verhandlungen des englischen
Unterhauses nicht stillschweigend vorübergehn. Er hatte es jedoch leicht, die eng¬
lische Berechnung richtigzustellen. Er brauchte nur darauf hinzuweisen, daß das
deutsche Flottengesetz ja vor aller Welt genau bestimmt, welche Schiffe und in
welchem Zeitraum sie gebaut werden sollen. Mit Recht konnte er Erstaunen äußern,
daß vollkommen falsche Vorstellungen über den Umfang der deutschen Flotte im
Auslande öffentlich und amtlich verbreitet werden können. Im übrigen aber ist es
Sache jedes Staates, seine Seestreitkräfte nach eignem Bedürfnis zu bestimmen, und
wir werden mich ferner unsern Weg gehen ohne Feindseligkeit und Drohung gegen
England, aber auch ohne uns einschüchtern zu lassen.

Das Plenum des Reichstags ist jetzt beim Militäretat angelangt. Die De¬
batten gestalteten sich diesmal sehr lebhaft, und mehrfach hat der Kriegsminister
General v. Einem das Wort ergriffen, um die Heeresverwaltung gegen die übliche
Kritik zu verteidigen. Diese Kritik bringt im allgemeinen nicht viel Neues vor;
es sind im wesentlichen immer dieselben Klagen, die meist darauf beruhen, daß die
Beurteiler von einem grundsätzlich ganz verschiednen Standpunkt ausgehen, auf den
sich die Militärverwaltung nicht stellen kaun. Der Wunsch der Linksliberalen geht
auf eine größere Demokratisierung der Heereseinrichtnngen, und diesen Bestrebungen
schließt sich auch ein großer Teil des Zentrums an, das jetzt glücklich ist, in der
Person eines ehemaligen bayrischen Generals, des Abgeordneten Häusler, einen fach¬
männischer Wortführer gefunden zu haben. Nun ist ja durchaus nicht zu ver¬
wundern, daß es auch im Offizierkorps selbst — und zwar gerade unter Persönlich¬
keiten von großer Intelligenz — Leute gibt, die abweichend von den „offiziellen"
Ansichten ihre eignen Wege gehn. Gewöhnlich handelt es sich da aber doch in
der Regel um irgendeine einseitig entwickelte und auf gewisse Lieblingsgedanken
gerichtete geistige Eigenheit, die mehr durch zufällige persönliche Erfahrungen als
durch streng geschultes Nachdenken über die Bedürfnisse des großen Ganzen genährt
worden ist. So kann es denn auch vorkommen, daß ein Mann, der es zu hohen
Stellungen in der Armee gebracht hat und wahrscheinlich in Pflichttreue und
Intelligenz hinter niemand seinesgleichen zurückgeblieben ist, doch zu so abstrusen
und unter Fachmännern vereinzelt dastehenden Ansichten gelangt, wie sie der Ab¬
geordnete Häusler über Wert und Ausbildung der Kavallerie entwickelt hat.

Gewöhnlich wirken besondre Vorkommnisse darauf ein, daß bestimmte Fragen
in der Militärdebatte in den Vordergrund gerückt werden. Eine solche Frage war
diesmal die der geheimen Qualifikationsberichte, in denen die persönliche Befähigung
der Offiziere und ihre Eignung zur Beförderung und besondern Verwendung von
den Verantwortlicher Vorgesetzten beurteilt werden. Ein derartiges Urteil kann nicht
auf exakten, mit juristischer Schärfe oder mathematischer Sicherheit zu bestimmenden
Unterlagen aufgebaut werden, sondern es muß, wie man die Sache auch anfassen
mag, von Menschen nach subjektiven Beobachtungen gefällt werden. Daraus folgt
für jeden verständigen Menschen ganz von selbst, daß bei der Beurteilung der
Offiziere Irrtümer und auch Ungerechtigkeiten vorkommen können, nicht bewußte
Ungerechtigkeiten, wohl aber solche, die aus der Unvollkommenheit menschlichen
Beobachters und Urteilens selbst bei strengster Gewissenhaftigkeit entspringen.
Solche Irrtümer sind nicht wegzuschaffen, man mag das System einrichten, wie
man will. In Frankreich suchte mau dem Übelstande vorzubeugen, indem man die
entscheidende Feststellung der Qualifikationen Kommissionen übertrug. Sehr schön!
aber worauf fußten die Mitglieder der Kommissionen? Ebenfalls auf subjektiven
Urteilen und Beobachtungen von Vorgesetzten! Und wenn diese nun falsch waren?


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/674>, abgerufen am 12.12.2024.