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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Die Dame mit dem Vrden

Den 2. Oktober 1901

Endlich, mein lieber Kamerad, habe ich meine Arbeit mit den Babys be¬
gonnen, und ich kann dir nicht genug davon sagen, wie verschmitzt sie sind. Wir
haben 85 zahlende Kinder aus den hohen Kasten und 40 im freien Kindergarten.
Diese letzten sind meist aus sehr armen Familien, wo fast alle Mütter in den
Feldern oder an den Eisenbahnen arbeiten. Es gibt so viele traurige Existenzen,
daß man sich eine Schatzkammer voll Gold wünscht und ein Dutzend Hände, um
sie zu unterstützen. Ein kleines Mädchen von sechs Jahren kommt täglich mit
ihrem blinden Brüderchen, der auf ihrem Rücken festgeschnallt ist. Sie ist selbst
ein winziges Ding, und doch wird der Kleine nie vor Schlafengehn von ihrem
Rücken losgeschnallt. Als ich zum erstenmal ihr greisenhaftes Gesicht sah und ihre
Begierde zu spielen, nahm ich sie einfach beide auf deu Schoß und heulte.

Etwas Lustiges muß ich dir noch erzählen! Seit der ersten Woche meines
Hierseins haben die Kinder einen Spitznamen für mich. Ich bemerkte, wie sie
lachten und einander anstießen, auf der Straße sowohl mis auch in der Schule;
und so oft ich vorbeiging, erhoben sie ihre rechte Hand zum Gruße und gaben
dabei einen lustigen, glucksenden Ton von sich. Sie schienen das Wort von einem
zum andern weiterzugehen, bis jedes Kerlchen in der Umgegend das Kunststück
nachmachte.

Meine Neugier wurde zu solch einer Höhe gesteigert, daß ich einen Dol¬
metscher anstellte, um die Sache zu ergründen. Als er mir Bericht brachte, be¬
rührte er lächelnd meine kleine Emailnhr, die mir Jack an meinem sechzehnten
Geburtstag gab, und unter vielen Entschuldigungen erzählte er, daß die Kinder
glaubten, es sei ein Orden vom Kaiser, und daß sie darum salutierten. Sie haben
mich die Dame mit dem Orden getauft. Denke nur, ich habe also einen Titel,
und diese lustigen gelben Kerlchen sehen auf zu mir wie zu einem höhern Wesen.
Sie vergessen es jedoch manchmal, wenn wir alle im Hofe zusammen spielen. Wir
können freilich nicht miteinander reden, aber wir können zusammen lachen und tollen,
und manchmal ist der Spaß enorm.

Ich bin von früh bis abends fleißig. Die beiden Kindergärten, eine große
Turuklasse, täglich zwei japanische Stunden und Andachten ungefähr aller drei
Minuten: das alles läßt mir nicht viel Zeit übrig für Heimweh. Doch die Sehn¬
sucht ist trotzdem da, und wenn ich die großen Dampfer im Hafen sehe, und mir
klar mache, daß sie Kohlen aufnehmen, um heim zu fahren, möchte ich mich an
Bord stehlen und mitreisen.

Die Sprache ist was entsetzliches. Meine Zunge gerät in solche Knoten, daß
ich manchmal einen Korkzieher nehmen muß, um sie wieder gerade zu kriegen.
Unter uns gesagt, ich habe mich entschlossen, es aufzugeben und mich statt dessen
dem englischen Unterricht der Mädchen zu widmen. Sie sind so empfängliche, lern¬
begierige Schülerinnen, es wird gewiß nicht schwer sein.

Was die Natur betrifft, so wage ich mich nicht an eine Beschreibung.
Manchmal erdrückt mich fast ihre großartige Pracht. Von meinem Fenster blicke
ich auf eine Bananengruppe, auf Granaten, Persimonen und Feigenbäume, alle
mit Früchten beladen. Die Rosen sind noch in voller Blüte. Farbe, Farbe
überall! Jenseits des Flusses sind die Ufer mit malerischen Häusern besetzt, die
aus einer Masse von Grün Herausgucken, weiter oben sind Teehäuser und Tempel
und Altäre, so alt, daß sogar ihr Moos grau geworden ist, und die Zeit die
Inschriften der Steine verwischt hat.

Wir brachten den gestrigen Tag auf der heiligen Insel Migajima zu, eine
einstündige Fahrt bringt uns hin. Ihre traumhafte Schönheit umschwebt mich noch


Die Dame mit dem Vrden

Den 2. Oktober 1901

Endlich, mein lieber Kamerad, habe ich meine Arbeit mit den Babys be¬
gonnen, und ich kann dir nicht genug davon sagen, wie verschmitzt sie sind. Wir
haben 85 zahlende Kinder aus den hohen Kasten und 40 im freien Kindergarten.
Diese letzten sind meist aus sehr armen Familien, wo fast alle Mütter in den
Feldern oder an den Eisenbahnen arbeiten. Es gibt so viele traurige Existenzen,
daß man sich eine Schatzkammer voll Gold wünscht und ein Dutzend Hände, um
sie zu unterstützen. Ein kleines Mädchen von sechs Jahren kommt täglich mit
ihrem blinden Brüderchen, der auf ihrem Rücken festgeschnallt ist. Sie ist selbst
ein winziges Ding, und doch wird der Kleine nie vor Schlafengehn von ihrem
Rücken losgeschnallt. Als ich zum erstenmal ihr greisenhaftes Gesicht sah und ihre
Begierde zu spielen, nahm ich sie einfach beide auf deu Schoß und heulte.

Etwas Lustiges muß ich dir noch erzählen! Seit der ersten Woche meines
Hierseins haben die Kinder einen Spitznamen für mich. Ich bemerkte, wie sie
lachten und einander anstießen, auf der Straße sowohl mis auch in der Schule;
und so oft ich vorbeiging, erhoben sie ihre rechte Hand zum Gruße und gaben
dabei einen lustigen, glucksenden Ton von sich. Sie schienen das Wort von einem
zum andern weiterzugehen, bis jedes Kerlchen in der Umgegend das Kunststück
nachmachte.

Meine Neugier wurde zu solch einer Höhe gesteigert, daß ich einen Dol¬
metscher anstellte, um die Sache zu ergründen. Als er mir Bericht brachte, be¬
rührte er lächelnd meine kleine Emailnhr, die mir Jack an meinem sechzehnten
Geburtstag gab, und unter vielen Entschuldigungen erzählte er, daß die Kinder
glaubten, es sei ein Orden vom Kaiser, und daß sie darum salutierten. Sie haben
mich die Dame mit dem Orden getauft. Denke nur, ich habe also einen Titel,
und diese lustigen gelben Kerlchen sehen auf zu mir wie zu einem höhern Wesen.
Sie vergessen es jedoch manchmal, wenn wir alle im Hofe zusammen spielen. Wir
können freilich nicht miteinander reden, aber wir können zusammen lachen und tollen,
und manchmal ist der Spaß enorm.

Ich bin von früh bis abends fleißig. Die beiden Kindergärten, eine große
Turuklasse, täglich zwei japanische Stunden und Andachten ungefähr aller drei
Minuten: das alles läßt mir nicht viel Zeit übrig für Heimweh. Doch die Sehn¬
sucht ist trotzdem da, und wenn ich die großen Dampfer im Hafen sehe, und mir
klar mache, daß sie Kohlen aufnehmen, um heim zu fahren, möchte ich mich an
Bord stehlen und mitreisen.

Die Sprache ist was entsetzliches. Meine Zunge gerät in solche Knoten, daß
ich manchmal einen Korkzieher nehmen muß, um sie wieder gerade zu kriegen.
Unter uns gesagt, ich habe mich entschlossen, es aufzugeben und mich statt dessen
dem englischen Unterricht der Mädchen zu widmen. Sie sind so empfängliche, lern¬
begierige Schülerinnen, es wird gewiß nicht schwer sein.

Was die Natur betrifft, so wage ich mich nicht an eine Beschreibung.
Manchmal erdrückt mich fast ihre großartige Pracht. Von meinem Fenster blicke
ich auf eine Bananengruppe, auf Granaten, Persimonen und Feigenbäume, alle
mit Früchten beladen. Die Rosen sind noch in voller Blüte. Farbe, Farbe
überall! Jenseits des Flusses sind die Ufer mit malerischen Häusern besetzt, die
aus einer Masse von Grün Herausgucken, weiter oben sind Teehäuser und Tempel
und Altäre, so alt, daß sogar ihr Moos grau geworden ist, und die Zeit die
Inschriften der Steine verwischt hat.

Wir brachten den gestrigen Tag auf der heiligen Insel Migajima zu, eine
einstündige Fahrt bringt uns hin. Ihre traumhafte Schönheit umschwebt mich noch


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/666>, abgerufen am 12.12.2024.