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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Katholiken, die "die schlechte Presse" unterstützen, weil "die gute" entweder
zu dürftig oder zu langweilig oder gar nicht vorhanden ist, Heiden seien
oder mit der Zeit solche werden müßten. Der Mensch hat einen guten
Magen und verdaut die tollsten Widersprüche; er kann unter andern: auch eine
marxistische Zeitung gläubig lesen und trotzdem nicht minder gläubig nach
Loreto wallfahrten gehn. Jene echte, reine, innige, das ganze Leben durch¬
dringende Religiosität, die der fromme und edle Murri fordert, ist nie und
nirgends allgemein gewesen und wird nie und nirgends allgemein sein. Mit
den italienischen Arbeitern jedoch, die in der ganzen Welt dafür bekannt sind,
daß sie fleißig arbeiten und den größten Teil des Wochenlohns ihrer Familie
schicken, trotz halb- und mehrjähriger Trennung von ihr, und die dabei in
ihrer kindlichen oder kindischen Frömmigkeit oder ihrem Aberglauben, wie es der
Aufgeklärte nennt, die Madonna anrufen, darf die Kirche schon zufrieden sein;
und wenn sich alle italienischen Priester so eifrig des armen Volkes annähmen,
wie es Murri und seine Mitarbeiter tun, so würde dieses, wenig angefochten
vom Atheismus seiner Brotherren, mit seiner Kirche zufrieden sein. Die Bibel¬
kritik verursacht ihm sicherlich weder Skrupel noch Schmerzen. (Im letzten
Wahlkampfe hat sich Murri, von Sozialdemokraten und Radikalen unterstützt,
um ein Mandat beworben; das dürfte seinen definitiven Bruch mit der Kurie
unvermeidlich machen.)

Einen interessanten einsamen Denker und Kämpfer lernen wir aus dem
Glaubensbekenntnis eines katholischen Mannes (Berlin, Hermann
Walter, 1908) kennen. Der Verfasser, der Oberpostinspektor Robert
Schwellenbach, hat nach einer frommen Kindheit den Glauben verloren
und ihn dann schrittweise wiedergewonnen. Er hat sehr fleißig sowohl Natur¬
wissenschaften wie Bibelkunde studiert und zuletzt entdeckt, daß seine religiösen
Anschauungen im Grunde genommen mit den Lehren der katholischen Kirche
vollkommen übereinstimmen. Das ist aber, schreibt er, "nicht etwa so zu ver¬
stehen, daß ich, des Grübelns müde und an der Erkenntnis der Wahrheit
verzweifelnd, wieder zur Religion meiner Kindheit zurückgekehrt wäre. Nein,
ich bin fest davon überzeugt, daß die katholische Kirche als die einzige unter
allen bestehenden Religionsgesellschaften den Anspruch erheben darf, die religiöse
Führerin der Menschheit zu sein. Aber der katholische Glaube, den ich jetzt,
nachdem ich durch alle religiösen Irrtümer hindurchgegangen bin. besitze, ist
anders als der Glaube meiner Kindheit, anders zwar nicht dem Wesen, jedoch
der Form nach." Diese neue Form, seine Auffassung der Dogmen und Kult¬
bräuche, legt er nun ausführlich dar. Es ist ihm, wie man ans manchen
Wendungen schließen darf, hauptsächlich darum zu tun, seine Glaubensgenossen
für eine Auffassung und Deutung der Kirchenlehre zu gewinnen, die alles dem
modernen Menschen Anstößige daraus entfernt, und dadurch die von den ge¬
bildeten Katholiken selbst beklagte Inferiorität zu überwinden. Er verfolgt
also dasselbe Ziel wie die Modernisten, wenn er auch wahrscheinlich nicht zu


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Katholiken, die „die schlechte Presse" unterstützen, weil „die gute" entweder
zu dürftig oder zu langweilig oder gar nicht vorhanden ist, Heiden seien
oder mit der Zeit solche werden müßten. Der Mensch hat einen guten
Magen und verdaut die tollsten Widersprüche; er kann unter andern: auch eine
marxistische Zeitung gläubig lesen und trotzdem nicht minder gläubig nach
Loreto wallfahrten gehn. Jene echte, reine, innige, das ganze Leben durch¬
dringende Religiosität, die der fromme und edle Murri fordert, ist nie und
nirgends allgemein gewesen und wird nie und nirgends allgemein sein. Mit
den italienischen Arbeitern jedoch, die in der ganzen Welt dafür bekannt sind,
daß sie fleißig arbeiten und den größten Teil des Wochenlohns ihrer Familie
schicken, trotz halb- und mehrjähriger Trennung von ihr, und die dabei in
ihrer kindlichen oder kindischen Frömmigkeit oder ihrem Aberglauben, wie es der
Aufgeklärte nennt, die Madonna anrufen, darf die Kirche schon zufrieden sein;
und wenn sich alle italienischen Priester so eifrig des armen Volkes annähmen,
wie es Murri und seine Mitarbeiter tun, so würde dieses, wenig angefochten
vom Atheismus seiner Brotherren, mit seiner Kirche zufrieden sein. Die Bibel¬
kritik verursacht ihm sicherlich weder Skrupel noch Schmerzen. (Im letzten
Wahlkampfe hat sich Murri, von Sozialdemokraten und Radikalen unterstützt,
um ein Mandat beworben; das dürfte seinen definitiven Bruch mit der Kurie
unvermeidlich machen.)

Einen interessanten einsamen Denker und Kämpfer lernen wir aus dem
Glaubensbekenntnis eines katholischen Mannes (Berlin, Hermann
Walter, 1908) kennen. Der Verfasser, der Oberpostinspektor Robert
Schwellenbach, hat nach einer frommen Kindheit den Glauben verloren
und ihn dann schrittweise wiedergewonnen. Er hat sehr fleißig sowohl Natur¬
wissenschaften wie Bibelkunde studiert und zuletzt entdeckt, daß seine religiösen
Anschauungen im Grunde genommen mit den Lehren der katholischen Kirche
vollkommen übereinstimmen. Das ist aber, schreibt er, „nicht etwa so zu ver¬
stehen, daß ich, des Grübelns müde und an der Erkenntnis der Wahrheit
verzweifelnd, wieder zur Religion meiner Kindheit zurückgekehrt wäre. Nein,
ich bin fest davon überzeugt, daß die katholische Kirche als die einzige unter
allen bestehenden Religionsgesellschaften den Anspruch erheben darf, die religiöse
Führerin der Menschheit zu sein. Aber der katholische Glaube, den ich jetzt,
nachdem ich durch alle religiösen Irrtümer hindurchgegangen bin. besitze, ist
anders als der Glaube meiner Kindheit, anders zwar nicht dem Wesen, jedoch
der Form nach." Diese neue Form, seine Auffassung der Dogmen und Kult¬
bräuche, legt er nun ausführlich dar. Es ist ihm, wie man ans manchen
Wendungen schließen darf, hauptsächlich darum zu tun, seine Glaubensgenossen
für eine Auffassung und Deutung der Kirchenlehre zu gewinnen, die alles dem
modernen Menschen Anstößige daraus entfernt, und dadurch die von den ge¬
bildeten Katholiken selbst beklagte Inferiorität zu überwinden. Er verfolgt
also dasselbe Ziel wie die Modernisten, wenn er auch wahrscheinlich nicht zu


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[0651] Ostliolios Katholiken, die „die schlechte Presse" unterstützen, weil „die gute" entweder zu dürftig oder zu langweilig oder gar nicht vorhanden ist, Heiden seien oder mit der Zeit solche werden müßten. Der Mensch hat einen guten Magen und verdaut die tollsten Widersprüche; er kann unter andern: auch eine marxistische Zeitung gläubig lesen und trotzdem nicht minder gläubig nach Loreto wallfahrten gehn. Jene echte, reine, innige, das ganze Leben durch¬ dringende Religiosität, die der fromme und edle Murri fordert, ist nie und nirgends allgemein gewesen und wird nie und nirgends allgemein sein. Mit den italienischen Arbeitern jedoch, die in der ganzen Welt dafür bekannt sind, daß sie fleißig arbeiten und den größten Teil des Wochenlohns ihrer Familie schicken, trotz halb- und mehrjähriger Trennung von ihr, und die dabei in ihrer kindlichen oder kindischen Frömmigkeit oder ihrem Aberglauben, wie es der Aufgeklärte nennt, die Madonna anrufen, darf die Kirche schon zufrieden sein; und wenn sich alle italienischen Priester so eifrig des armen Volkes annähmen, wie es Murri und seine Mitarbeiter tun, so würde dieses, wenig angefochten vom Atheismus seiner Brotherren, mit seiner Kirche zufrieden sein. Die Bibel¬ kritik verursacht ihm sicherlich weder Skrupel noch Schmerzen. (Im letzten Wahlkampfe hat sich Murri, von Sozialdemokraten und Radikalen unterstützt, um ein Mandat beworben; das dürfte seinen definitiven Bruch mit der Kurie unvermeidlich machen.) Einen interessanten einsamen Denker und Kämpfer lernen wir aus dem Glaubensbekenntnis eines katholischen Mannes (Berlin, Hermann Walter, 1908) kennen. Der Verfasser, der Oberpostinspektor Robert Schwellenbach, hat nach einer frommen Kindheit den Glauben verloren und ihn dann schrittweise wiedergewonnen. Er hat sehr fleißig sowohl Natur¬ wissenschaften wie Bibelkunde studiert und zuletzt entdeckt, daß seine religiösen Anschauungen im Grunde genommen mit den Lehren der katholischen Kirche vollkommen übereinstimmen. Das ist aber, schreibt er, „nicht etwa so zu ver¬ stehen, daß ich, des Grübelns müde und an der Erkenntnis der Wahrheit verzweifelnd, wieder zur Religion meiner Kindheit zurückgekehrt wäre. Nein, ich bin fest davon überzeugt, daß die katholische Kirche als die einzige unter allen bestehenden Religionsgesellschaften den Anspruch erheben darf, die religiöse Führerin der Menschheit zu sein. Aber der katholische Glaube, den ich jetzt, nachdem ich durch alle religiösen Irrtümer hindurchgegangen bin. besitze, ist anders als der Glaube meiner Kindheit, anders zwar nicht dem Wesen, jedoch der Form nach." Diese neue Form, seine Auffassung der Dogmen und Kult¬ bräuche, legt er nun ausführlich dar. Es ist ihm, wie man ans manchen Wendungen schließen darf, hauptsächlich darum zu tun, seine Glaubensgenossen für eine Auffassung und Deutung der Kirchenlehre zu gewinnen, die alles dem modernen Menschen Anstößige daraus entfernt, und dadurch die von den ge¬ bildeten Katholiken selbst beklagte Inferiorität zu überwinden. Er verfolgt also dasselbe Ziel wie die Modernisten, wenn er auch wahrscheinlich nicht zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/651>, abgerufen am 23.07.2024.