Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
0>MoIiv-i.

katholische Literatur und Presse gebe es kaum, und soweit sie Vorhemden, werde
sie von den Neuheiden nicht beachtet. Da sei es doch besser, diese lasen
Sachen, in denen sie wenigstens noch ein Restchen von Christentum fänden,
als atheistische Bücher, die alle Religion verleugneten und den Haß gegen sie
schürten. Die Bekämpfung solcher gutgemeinten Schriften erscheint ihm als
Ausfluß einer falschen Wiedererweckung des Katholizismus, die gerade dessen
unhaltbare und bedenkliche Lebensäußerungen, die Wundersucht und einen über¬
triebnen Zeremoniendienst, mit Vorliebe kultiviere. Wenn aber völlig orthodoxe
Christen die allerrohesten Formen der Volksreligion abgestreift hätten, ohne
daß darüber die Kirche zugrunde gegangen sei, so könne diese noch etwas
weiter gehn und auf manche dem heutigen Empfinden anstößige Vorstellungen
und Bräuche, wie die Vorstellung von den leiblichen Höllenstrafen und die
Einsperrung zehnjähriger Kinder in Klöster und Knabenseminare verzichten.
Aber das alles ist für ihn nicht die Hauptsache. Ihn schmerzt und beunruhigt
es, zu sehen, daß das Leben ganz heidnisch geworden sei, daß die Priester in
der Sakristei stecken bleiben, anstatt sich missionierend im Volke zu bewegen,
und daß es atheistische Sozialisten sind, die sich dem Volke als Helfer, Führer
und Organisatoren anbieten. Gerade der Kirche liege diese Aufgabe ob, sie
sei berufen, den herrschenden gottlosen Liberalismus der Bourgeoisie durch eine
wahre christliche Demokratie zu verdrängen. Auch aufrichtig gläubige Katholiken
handelten heute nach heidnischen Grundsätzen, ohne sich in ihrem Gewissen be¬
unruhigt zu fühlen. Diesem Zustande müsse ein Ende, mit dem Christentum
müsse wieder Ernst gemacht werden. Der Mann ist so urkatholisch fromm,
daß er der Kirche allein das Recht der Ehegesetzgebung zuspricht, und daß er
sich den Geist der Erneuerung des Christentums nur als vom Kloster aus¬
gehend denken kann. Ja er phantasiert von industriellen Unternehmungen
der Klöster, die das Volk von der Herrschaft des Kapitals erlösen sollen.
"Denn eine liberale, heidnisch lebende Bourgeoisie hat sich der neuen Quellen
des Reichtums bemächtigt; sie zwingt uns, sie zu ernähren, sie eignet sich die
Produkte der Arbeit an, und sie tyrannisiere die Arbeiter und deren Kinder in
sozialer wie in religiöser Beziehung." Was ihn und seine Mitarbeiter in
Konflikte mit der Kurie verwickelt hat, ist nur deren Anmaßung, die Arbeiter¬
organisationen der Reglementierung und Disziplinierung durch die Bischöfe zu
unterwerfen, die sich als unfähig erwiesen haben, solche Organisationen zu
gründen und zu leiten. Den Gemütszustand eines ganzen Volkes richtig zu
beschreiben und zu zeigen, wie seine Lebensäußerungen daraus hervorgehn,
würde auch für einen, der es aus jahrzehntelanger Beobachtung genau kennte,
noch schwierig genug sein. Murri schreibt das eine mal, Italien sei glücklicher¬
weise noch -- nach Spanien -- das am meisten katholische Volk der Welt.
An einer andern Stelle dagegen berechnet er aus der Statistik der katholischen
und der antikatholischen Zeitungen, daß die Katholiken nur den funfzigsten
Teil der Bevölkerung ausmachen. Doch ist der Schluß voreilig, daß alle


0>MoIiv-i.

katholische Literatur und Presse gebe es kaum, und soweit sie Vorhemden, werde
sie von den Neuheiden nicht beachtet. Da sei es doch besser, diese lasen
Sachen, in denen sie wenigstens noch ein Restchen von Christentum fänden,
als atheistische Bücher, die alle Religion verleugneten und den Haß gegen sie
schürten. Die Bekämpfung solcher gutgemeinten Schriften erscheint ihm als
Ausfluß einer falschen Wiedererweckung des Katholizismus, die gerade dessen
unhaltbare und bedenkliche Lebensäußerungen, die Wundersucht und einen über¬
triebnen Zeremoniendienst, mit Vorliebe kultiviere. Wenn aber völlig orthodoxe
Christen die allerrohesten Formen der Volksreligion abgestreift hätten, ohne
daß darüber die Kirche zugrunde gegangen sei, so könne diese noch etwas
weiter gehn und auf manche dem heutigen Empfinden anstößige Vorstellungen
und Bräuche, wie die Vorstellung von den leiblichen Höllenstrafen und die
Einsperrung zehnjähriger Kinder in Klöster und Knabenseminare verzichten.
Aber das alles ist für ihn nicht die Hauptsache. Ihn schmerzt und beunruhigt
es, zu sehen, daß das Leben ganz heidnisch geworden sei, daß die Priester in
der Sakristei stecken bleiben, anstatt sich missionierend im Volke zu bewegen,
und daß es atheistische Sozialisten sind, die sich dem Volke als Helfer, Führer
und Organisatoren anbieten. Gerade der Kirche liege diese Aufgabe ob, sie
sei berufen, den herrschenden gottlosen Liberalismus der Bourgeoisie durch eine
wahre christliche Demokratie zu verdrängen. Auch aufrichtig gläubige Katholiken
handelten heute nach heidnischen Grundsätzen, ohne sich in ihrem Gewissen be¬
unruhigt zu fühlen. Diesem Zustande müsse ein Ende, mit dem Christentum
müsse wieder Ernst gemacht werden. Der Mann ist so urkatholisch fromm,
daß er der Kirche allein das Recht der Ehegesetzgebung zuspricht, und daß er
sich den Geist der Erneuerung des Christentums nur als vom Kloster aus¬
gehend denken kann. Ja er phantasiert von industriellen Unternehmungen
der Klöster, die das Volk von der Herrschaft des Kapitals erlösen sollen.
„Denn eine liberale, heidnisch lebende Bourgeoisie hat sich der neuen Quellen
des Reichtums bemächtigt; sie zwingt uns, sie zu ernähren, sie eignet sich die
Produkte der Arbeit an, und sie tyrannisiere die Arbeiter und deren Kinder in
sozialer wie in religiöser Beziehung." Was ihn und seine Mitarbeiter in
Konflikte mit der Kurie verwickelt hat, ist nur deren Anmaßung, die Arbeiter¬
organisationen der Reglementierung und Disziplinierung durch die Bischöfe zu
unterwerfen, die sich als unfähig erwiesen haben, solche Organisationen zu
gründen und zu leiten. Den Gemütszustand eines ganzen Volkes richtig zu
beschreiben und zu zeigen, wie seine Lebensäußerungen daraus hervorgehn,
würde auch für einen, der es aus jahrzehntelanger Beobachtung genau kennte,
noch schwierig genug sein. Murri schreibt das eine mal, Italien sei glücklicher¬
weise noch — nach Spanien — das am meisten katholische Volk der Welt.
An einer andern Stelle dagegen berechnet er aus der Statistik der katholischen
und der antikatholischen Zeitungen, daß die Katholiken nur den funfzigsten
Teil der Bevölkerung ausmachen. Doch ist der Schluß voreilig, daß alle


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0650" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313001"/>
          <fw type="header" place="top"> 0&gt;MoIiv-i.</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2667" prev="#ID_2666" next="#ID_2668"> katholische Literatur und Presse gebe es kaum, und soweit sie Vorhemden, werde<lb/>
sie von den Neuheiden nicht beachtet. Da sei es doch besser, diese lasen<lb/>
Sachen, in denen sie wenigstens noch ein Restchen von Christentum fänden,<lb/>
als atheistische Bücher, die alle Religion verleugneten und den Haß gegen sie<lb/>
schürten. Die Bekämpfung solcher gutgemeinten Schriften erscheint ihm als<lb/>
Ausfluß einer falschen Wiedererweckung des Katholizismus, die gerade dessen<lb/>
unhaltbare und bedenkliche Lebensäußerungen, die Wundersucht und einen über¬<lb/>
triebnen Zeremoniendienst, mit Vorliebe kultiviere. Wenn aber völlig orthodoxe<lb/>
Christen die allerrohesten Formen der Volksreligion abgestreift hätten, ohne<lb/>
daß darüber die Kirche zugrunde gegangen sei, so könne diese noch etwas<lb/>
weiter gehn und auf manche dem heutigen Empfinden anstößige Vorstellungen<lb/>
und Bräuche, wie die Vorstellung von den leiblichen Höllenstrafen und die<lb/>
Einsperrung zehnjähriger Kinder in Klöster und Knabenseminare verzichten.<lb/>
Aber das alles ist für ihn nicht die Hauptsache. Ihn schmerzt und beunruhigt<lb/>
es, zu sehen, daß das Leben ganz heidnisch geworden sei, daß die Priester in<lb/>
der Sakristei stecken bleiben, anstatt sich missionierend im Volke zu bewegen,<lb/>
und daß es atheistische Sozialisten sind, die sich dem Volke als Helfer, Führer<lb/>
und Organisatoren anbieten. Gerade der Kirche liege diese Aufgabe ob, sie<lb/>
sei berufen, den herrschenden gottlosen Liberalismus der Bourgeoisie durch eine<lb/>
wahre christliche Demokratie zu verdrängen. Auch aufrichtig gläubige Katholiken<lb/>
handelten heute nach heidnischen Grundsätzen, ohne sich in ihrem Gewissen be¬<lb/>
unruhigt zu fühlen. Diesem Zustande müsse ein Ende, mit dem Christentum<lb/>
müsse wieder Ernst gemacht werden. Der Mann ist so urkatholisch fromm,<lb/>
daß er der Kirche allein das Recht der Ehegesetzgebung zuspricht, und daß er<lb/>
sich den Geist der Erneuerung des Christentums nur als vom Kloster aus¬<lb/>
gehend denken kann. Ja er phantasiert von industriellen Unternehmungen<lb/>
der Klöster, die das Volk von der Herrschaft des Kapitals erlösen sollen.<lb/>
&#x201E;Denn eine liberale, heidnisch lebende Bourgeoisie hat sich der neuen Quellen<lb/>
des Reichtums bemächtigt; sie zwingt uns, sie zu ernähren, sie eignet sich die<lb/>
Produkte der Arbeit an, und sie tyrannisiere die Arbeiter und deren Kinder in<lb/>
sozialer wie in religiöser Beziehung." Was ihn und seine Mitarbeiter in<lb/>
Konflikte mit der Kurie verwickelt hat, ist nur deren Anmaßung, die Arbeiter¬<lb/>
organisationen der Reglementierung und Disziplinierung durch die Bischöfe zu<lb/>
unterwerfen, die sich als unfähig erwiesen haben, solche Organisationen zu<lb/>
gründen und zu leiten. Den Gemütszustand eines ganzen Volkes richtig zu<lb/>
beschreiben und zu zeigen, wie seine Lebensäußerungen daraus hervorgehn,<lb/>
würde auch für einen, der es aus jahrzehntelanger Beobachtung genau kennte,<lb/>
noch schwierig genug sein. Murri schreibt das eine mal, Italien sei glücklicher¬<lb/>
weise noch &#x2014; nach Spanien &#x2014; das am meisten katholische Volk der Welt.<lb/>
An einer andern Stelle dagegen berechnet er aus der Statistik der katholischen<lb/>
und der antikatholischen Zeitungen, daß die Katholiken nur den funfzigsten<lb/>
Teil der Bevölkerung ausmachen.  Doch ist der Schluß voreilig, daß alle</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0650] 0>MoIiv-i. katholische Literatur und Presse gebe es kaum, und soweit sie Vorhemden, werde sie von den Neuheiden nicht beachtet. Da sei es doch besser, diese lasen Sachen, in denen sie wenigstens noch ein Restchen von Christentum fänden, als atheistische Bücher, die alle Religion verleugneten und den Haß gegen sie schürten. Die Bekämpfung solcher gutgemeinten Schriften erscheint ihm als Ausfluß einer falschen Wiedererweckung des Katholizismus, die gerade dessen unhaltbare und bedenkliche Lebensäußerungen, die Wundersucht und einen über¬ triebnen Zeremoniendienst, mit Vorliebe kultiviere. Wenn aber völlig orthodoxe Christen die allerrohesten Formen der Volksreligion abgestreift hätten, ohne daß darüber die Kirche zugrunde gegangen sei, so könne diese noch etwas weiter gehn und auf manche dem heutigen Empfinden anstößige Vorstellungen und Bräuche, wie die Vorstellung von den leiblichen Höllenstrafen und die Einsperrung zehnjähriger Kinder in Klöster und Knabenseminare verzichten. Aber das alles ist für ihn nicht die Hauptsache. Ihn schmerzt und beunruhigt es, zu sehen, daß das Leben ganz heidnisch geworden sei, daß die Priester in der Sakristei stecken bleiben, anstatt sich missionierend im Volke zu bewegen, und daß es atheistische Sozialisten sind, die sich dem Volke als Helfer, Führer und Organisatoren anbieten. Gerade der Kirche liege diese Aufgabe ob, sie sei berufen, den herrschenden gottlosen Liberalismus der Bourgeoisie durch eine wahre christliche Demokratie zu verdrängen. Auch aufrichtig gläubige Katholiken handelten heute nach heidnischen Grundsätzen, ohne sich in ihrem Gewissen be¬ unruhigt zu fühlen. Diesem Zustande müsse ein Ende, mit dem Christentum müsse wieder Ernst gemacht werden. Der Mann ist so urkatholisch fromm, daß er der Kirche allein das Recht der Ehegesetzgebung zuspricht, und daß er sich den Geist der Erneuerung des Christentums nur als vom Kloster aus¬ gehend denken kann. Ja er phantasiert von industriellen Unternehmungen der Klöster, die das Volk von der Herrschaft des Kapitals erlösen sollen. „Denn eine liberale, heidnisch lebende Bourgeoisie hat sich der neuen Quellen des Reichtums bemächtigt; sie zwingt uns, sie zu ernähren, sie eignet sich die Produkte der Arbeit an, und sie tyrannisiere die Arbeiter und deren Kinder in sozialer wie in religiöser Beziehung." Was ihn und seine Mitarbeiter in Konflikte mit der Kurie verwickelt hat, ist nur deren Anmaßung, die Arbeiter¬ organisationen der Reglementierung und Disziplinierung durch die Bischöfe zu unterwerfen, die sich als unfähig erwiesen haben, solche Organisationen zu gründen und zu leiten. Den Gemütszustand eines ganzen Volkes richtig zu beschreiben und zu zeigen, wie seine Lebensäußerungen daraus hervorgehn, würde auch für einen, der es aus jahrzehntelanger Beobachtung genau kennte, noch schwierig genug sein. Murri schreibt das eine mal, Italien sei glücklicher¬ weise noch — nach Spanien — das am meisten katholische Volk der Welt. An einer andern Stelle dagegen berechnet er aus der Statistik der katholischen und der antikatholischen Zeitungen, daß die Katholiken nur den funfzigsten Teil der Bevölkerung ausmachen. Doch ist der Schluß voreilig, daß alle

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/650
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/650>, abgerufen am 23.07.2024.