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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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sie auf in der Antwort der französischen Katholiken an den Papst
(deutsch bei Eugen Diederichs in Jena, 1908). Sie klagen, daß Pius "eine
ruhmeswerte und segensreiche Tätigkeit brutal vernichte", daß die lehrende
Kirche laut und in authentischer Form "die besten, die hochgesinntesten, die
gebildetsten, die sie am meisten liebenden ihrer Söhne desavouiere". Sie be¬
haupten, der Modernismus, den der Vatikan verdamme, sei gar nicht der ihre;
Syllabus und Enzyklika enthielten ein von vatikanischen Theologen entworfnes
System, zu dem man einige Ideen der Modernisten, die falsch verstanden
würden, und einige ihrer echten Bedeutung beraubte Sätze verwandt habe,
und sie protestieren dagegen, daß ihrer Tätigkeit unedle Motive wie Stolz
und Neugier untergeschoben würden. Die sehr rhetorisch gehaltne Schrift
zeichnet sich nicht eben durch Klarheit aus, und es scheint, daß ihre Verfasser
im Eifer für die Versöhnung mit den modernen Ideen so weit gehn, daß
auch gläubige Protestanten ihnen kaum zu folgen geneigt sein werden.

Weit klarer und zugleich gründlicher ist das (ebenfalls bei Eugen Diederichs
in Jena deutsch erschienene) Programm der italienischen Modernisten,
eine Antwort auf die Enzyklika kasesQäi, die als Anhang beigegeben ist.
Sehr schön wird die Annahme der Enzyklika widerlegt, die Bibelkritik der
Mvdernisten entspringe ihrem unkatholischen philosophischen System. Wir
haben gar kein System, sagen sie. Sondern die Bibelkritik, die vor mehr als
zweihundert Jahren der Oratorianer Richard Simon, ohne von der Hierarchie an¬
gefochten zu werden, in Gang gebracht hat, macht den alten Jnspirations-
begriff und die scholastische Begründung der Dogmen aus der Heiligen Schrift
hinfällig; damit gerät das Dogmensystem selbst ins Wanken, und wir sind
eben bemüht, für die christliche Religion andre, festere Stützen zu suchen, da
die der Scholastik versagen. Tastend schreiten wir vorwärts in diesem
Wirrsal und hoffen allerdings mit der Zeit ein System ausbauen zu können
Zum Ersatz für das veraltete scholastische, vorläufig aber haben wir es noch
nicht. Dieses Programm ist früher erschienen als die Antwort der franzö¬
sischen Katholiken, die in ihrer Schrift erzählen, der Papst habe jenes gähnend
gelesen und zu seiner Umgebung gesagt, so was langweiliges sei ihm schon
lange nicht vorgekommen.

Der in den Zeitungen vielgenannte Romolo Murri ist kein Modernist;
davon hat uns eine Sammlung seiner in der (Xilwrg. Sociale erschienenen
Essays überzeugt, deren deutsche Übersetzung unter dem Titel: Das christ¬
liche Leben zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (bei Hermann I. Freuler
in Cöln-Weiden, 1908) erschienen ist. Er beschäftigt sich weder mit Philo¬
sophie noch mit Bibelkritik. Jede naturalistische Erklärung der Entstehung des
Christentums lehnt er mit Entrüstung ab. Die Bücher von Harnack und Loisy
findet er arg ketzerisch, meint aber, es sei trotzdem unklug, sie und ähnliche
Schriften zu verbieten. Denn die meisten Namenskatholiken (er hat nur feine
Landsleute im Sinne) seien halbe oder ganze Heiden. Eine genießbare


sie auf in der Antwort der französischen Katholiken an den Papst
(deutsch bei Eugen Diederichs in Jena, 1908). Sie klagen, daß Pius „eine
ruhmeswerte und segensreiche Tätigkeit brutal vernichte", daß die lehrende
Kirche laut und in authentischer Form „die besten, die hochgesinntesten, die
gebildetsten, die sie am meisten liebenden ihrer Söhne desavouiere". Sie be¬
haupten, der Modernismus, den der Vatikan verdamme, sei gar nicht der ihre;
Syllabus und Enzyklika enthielten ein von vatikanischen Theologen entworfnes
System, zu dem man einige Ideen der Modernisten, die falsch verstanden
würden, und einige ihrer echten Bedeutung beraubte Sätze verwandt habe,
und sie protestieren dagegen, daß ihrer Tätigkeit unedle Motive wie Stolz
und Neugier untergeschoben würden. Die sehr rhetorisch gehaltne Schrift
zeichnet sich nicht eben durch Klarheit aus, und es scheint, daß ihre Verfasser
im Eifer für die Versöhnung mit den modernen Ideen so weit gehn, daß
auch gläubige Protestanten ihnen kaum zu folgen geneigt sein werden.

Weit klarer und zugleich gründlicher ist das (ebenfalls bei Eugen Diederichs
in Jena deutsch erschienene) Programm der italienischen Modernisten,
eine Antwort auf die Enzyklika kasesQäi, die als Anhang beigegeben ist.
Sehr schön wird die Annahme der Enzyklika widerlegt, die Bibelkritik der
Mvdernisten entspringe ihrem unkatholischen philosophischen System. Wir
haben gar kein System, sagen sie. Sondern die Bibelkritik, die vor mehr als
zweihundert Jahren der Oratorianer Richard Simon, ohne von der Hierarchie an¬
gefochten zu werden, in Gang gebracht hat, macht den alten Jnspirations-
begriff und die scholastische Begründung der Dogmen aus der Heiligen Schrift
hinfällig; damit gerät das Dogmensystem selbst ins Wanken, und wir sind
eben bemüht, für die christliche Religion andre, festere Stützen zu suchen, da
die der Scholastik versagen. Tastend schreiten wir vorwärts in diesem
Wirrsal und hoffen allerdings mit der Zeit ein System ausbauen zu können
Zum Ersatz für das veraltete scholastische, vorläufig aber haben wir es noch
nicht. Dieses Programm ist früher erschienen als die Antwort der franzö¬
sischen Katholiken, die in ihrer Schrift erzählen, der Papst habe jenes gähnend
gelesen und zu seiner Umgebung gesagt, so was langweiliges sei ihm schon
lange nicht vorgekommen.

Der in den Zeitungen vielgenannte Romolo Murri ist kein Modernist;
davon hat uns eine Sammlung seiner in der (Xilwrg. Sociale erschienenen
Essays überzeugt, deren deutsche Übersetzung unter dem Titel: Das christ¬
liche Leben zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts (bei Hermann I. Freuler
in Cöln-Weiden, 1908) erschienen ist. Er beschäftigt sich weder mit Philo¬
sophie noch mit Bibelkritik. Jede naturalistische Erklärung der Entstehung des
Christentums lehnt er mit Entrüstung ab. Die Bücher von Harnack und Loisy
findet er arg ketzerisch, meint aber, es sei trotzdem unklug, sie und ähnliche
Schriften zu verbieten. Denn die meisten Namenskatholiken (er hat nur feine
Landsleute im Sinne) seien halbe oder ganze Heiden. Eine genießbare


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/649>, abgerufen am 12.12.2024.