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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

(Ein Rückblick auf die politische Lage.)

Wie alljährlich um die Weihnachtszeit ist in diesen Tagen auf dem politischen
Schauplatz eine gewisse Ruhe eingekehrt. Nicht überall freilich ruhen die Waffen
und schweigt der Lärm, und heutzutage sind die Fäden der Weltpolitik so vielfach
hin und her gespannt, daß Ereignisse, die wir sonst unbeachtet gelassen haben, jetzt
ein mehr oder weniger lebhaftes Interesse in Anspruch nehmen müssen. Wer hat
früher danach gefragt, wenn in einem der südamerikanischen Kreolenstaaten eine
Revolution ausgebrochen war? Wir nahmen solche Nachrichten mit einem ver¬
ständnisvollen Lächeln entgegen, denn Leute, die Bescheid wußten, hatten uns be¬
lehrt, daß Revolutionen dortzulande zum Nationalsport gehöre", daß dabei sehr
viel Pulver verkrallt und ein wenig Blut vergossen wird, im übrigen aber alles
beim alten bleibt, wenn auch neue Namen an Stelle der frühern Würdenträger er¬
scheinen. Das ist jetzt anders geworden. Venezuela hat die Abwesenheit seines
langjährigen Präsidenten Cipriano Castro -- er weilt zurzeit in unsrer Reichs¬
hauptstadt -- benutzt, die Regierung zu stürzen, und dieses Ereignis wirft
bezeichnend genug seine Wellen bis in unsre europäischen Verhältnisse hinein.
Castro hat in der Zeit seiner Amtsführung nacheinander mit allen möglichen Gro߬
mächten angebunden. Zuerst mit Deutschland und England; man erinnert sich,
wie beide Mächte die Anerkennung ihrer Rechte vor sechs Jahren durch eine
Flottendemonstration erzwingen mußten, und wir sogar zur Beschießung einer
Küstenbefestigung zu schreiten genötigt waren. Als dritte gekränkte Großmacht,
die sich damals allerdings mehr zurückhielt, kam Italien hinzu. Bemerkenswert
bet diesen Händeln war vor allem, daß die Vereinigten Staaten von Amerika mit
eifersüchtigen Auge alle diese Vorgänge verfolgten und bestrebt waren, das Prinzip
der Monroedoktrin in einer Ausdehnung, die man früher nicht gekannt hatte,
praktisch zur Geltung zu bringen. Dadurch erst erhielten die Vorgänge eine welt¬
politische Bedeutung. Auch wurde es ein nicht zu übersehendes Kennzeichen der
damaligen Lage, daß die erregte öffentliche Meinung in England in ihrer feind¬
seligen Stimmung gegen Deutschland so weit ging, sogar an diesem ganz zufälligen
Zusammengehn mit Deutschland Anstoß zu nehmen, obwohl es sich gar nicht um
politische Angelegenheiten, sondern um die Durchsetzung privatrechtlicher Forderungen
handelte, die Deutschland und England zugleich gegen jene entlegne Macht zu er¬
heben hatten. Venezuela hat damals seine Schulden bezahlt und mit uns Frieden
gehalten, seitdem aber wieder Differenzen mit Frankreich und ganz neuerdings mit
Holland angefangen. Der französischen Republik hatte die überseeische Schwester
die geforderte gründliche Genugtuung vorzuenthalten gewußt, und mit Holland
haben sich die Dinge sogar bis zur Kriegserklärung zugespitzt. Das alles, weil
man in Venezuela darauf rechnet, daß europäische Mächte im Fall eines kriegerischen
Konflikts ihre Interessen nicht rücksichtslos und beliebig weit verfolgen können, ohne
mit den Vereinigten Staaten als Wächtern der Monroedoktrin in Konflikt zu geraten.
Diese Erwägung hat freilich Castro nicht gehindert, auch der großen Republik im
Norden recht respektwidrig die Zähne zu zeigen, als es ihm so beliebte. Nun hat
er, um einen deutschen Arzt zu konsultieren, europäischen Boden aufgesucht, als vor¬
sichtiger Mann nicht ohne die Gelder, die ihm zur Ausrüstung wider alle Fähr-
lichkeiten der unbekannten Zukunft nötig schienen. Die Wirkung dieser Abwesen¬
heit trat pünktlich genug ein, so pünktlich, daß man dem Leidenden nur wünschen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

Maßgebliches und Unmaßgebliches
Reichsspiegel

(Ein Rückblick auf die politische Lage.)

Wie alljährlich um die Weihnachtszeit ist in diesen Tagen auf dem politischen
Schauplatz eine gewisse Ruhe eingekehrt. Nicht überall freilich ruhen die Waffen
und schweigt der Lärm, und heutzutage sind die Fäden der Weltpolitik so vielfach
hin und her gespannt, daß Ereignisse, die wir sonst unbeachtet gelassen haben, jetzt
ein mehr oder weniger lebhaftes Interesse in Anspruch nehmen müssen. Wer hat
früher danach gefragt, wenn in einem der südamerikanischen Kreolenstaaten eine
Revolution ausgebrochen war? Wir nahmen solche Nachrichten mit einem ver¬
ständnisvollen Lächeln entgegen, denn Leute, die Bescheid wußten, hatten uns be¬
lehrt, daß Revolutionen dortzulande zum Nationalsport gehöre», daß dabei sehr
viel Pulver verkrallt und ein wenig Blut vergossen wird, im übrigen aber alles
beim alten bleibt, wenn auch neue Namen an Stelle der frühern Würdenträger er¬
scheinen. Das ist jetzt anders geworden. Venezuela hat die Abwesenheit seines
langjährigen Präsidenten Cipriano Castro — er weilt zurzeit in unsrer Reichs¬
hauptstadt — benutzt, die Regierung zu stürzen, und dieses Ereignis wirft
bezeichnend genug seine Wellen bis in unsre europäischen Verhältnisse hinein.
Castro hat in der Zeit seiner Amtsführung nacheinander mit allen möglichen Gro߬
mächten angebunden. Zuerst mit Deutschland und England; man erinnert sich,
wie beide Mächte die Anerkennung ihrer Rechte vor sechs Jahren durch eine
Flottendemonstration erzwingen mußten, und wir sogar zur Beschießung einer
Küstenbefestigung zu schreiten genötigt waren. Als dritte gekränkte Großmacht,
die sich damals allerdings mehr zurückhielt, kam Italien hinzu. Bemerkenswert
bet diesen Händeln war vor allem, daß die Vereinigten Staaten von Amerika mit
eifersüchtigen Auge alle diese Vorgänge verfolgten und bestrebt waren, das Prinzip
der Monroedoktrin in einer Ausdehnung, die man früher nicht gekannt hatte,
praktisch zur Geltung zu bringen. Dadurch erst erhielten die Vorgänge eine welt¬
politische Bedeutung. Auch wurde es ein nicht zu übersehendes Kennzeichen der
damaligen Lage, daß die erregte öffentliche Meinung in England in ihrer feind¬
seligen Stimmung gegen Deutschland so weit ging, sogar an diesem ganz zufälligen
Zusammengehn mit Deutschland Anstoß zu nehmen, obwohl es sich gar nicht um
politische Angelegenheiten, sondern um die Durchsetzung privatrechtlicher Forderungen
handelte, die Deutschland und England zugleich gegen jene entlegne Macht zu er¬
heben hatten. Venezuela hat damals seine Schulden bezahlt und mit uns Frieden
gehalten, seitdem aber wieder Differenzen mit Frankreich und ganz neuerdings mit
Holland angefangen. Der französischen Republik hatte die überseeische Schwester
die geforderte gründliche Genugtuung vorzuenthalten gewußt, und mit Holland
haben sich die Dinge sogar bis zur Kriegserklärung zugespitzt. Das alles, weil
man in Venezuela darauf rechnet, daß europäische Mächte im Fall eines kriegerischen
Konflikts ihre Interessen nicht rücksichtslos und beliebig weit verfolgen können, ohne
mit den Vereinigten Staaten als Wächtern der Monroedoktrin in Konflikt zu geraten.
Diese Erwägung hat freilich Castro nicht gehindert, auch der großen Republik im
Norden recht respektwidrig die Zähne zu zeigen, als es ihm so beliebte. Nun hat
er, um einen deutschen Arzt zu konsultieren, europäischen Boden aufgesucht, als vor¬
sichtiger Mann nicht ohne die Gelder, die ihm zur Ausrüstung wider alle Fähr-
lichkeiten der unbekannten Zukunft nötig schienen. Die Wirkung dieser Abwesen¬
heit trat pünktlich genug ein, so pünktlich, daß man dem Leidenden nur wünschen


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[0059] Maßgebliches und Unmaßgebliches Maßgebliches und Unmaßgebliches Reichsspiegel (Ein Rückblick auf die politische Lage.) Wie alljährlich um die Weihnachtszeit ist in diesen Tagen auf dem politischen Schauplatz eine gewisse Ruhe eingekehrt. Nicht überall freilich ruhen die Waffen und schweigt der Lärm, und heutzutage sind die Fäden der Weltpolitik so vielfach hin und her gespannt, daß Ereignisse, die wir sonst unbeachtet gelassen haben, jetzt ein mehr oder weniger lebhaftes Interesse in Anspruch nehmen müssen. Wer hat früher danach gefragt, wenn in einem der südamerikanischen Kreolenstaaten eine Revolution ausgebrochen war? Wir nahmen solche Nachrichten mit einem ver¬ ständnisvollen Lächeln entgegen, denn Leute, die Bescheid wußten, hatten uns be¬ lehrt, daß Revolutionen dortzulande zum Nationalsport gehöre», daß dabei sehr viel Pulver verkrallt und ein wenig Blut vergossen wird, im übrigen aber alles beim alten bleibt, wenn auch neue Namen an Stelle der frühern Würdenträger er¬ scheinen. Das ist jetzt anders geworden. Venezuela hat die Abwesenheit seines langjährigen Präsidenten Cipriano Castro — er weilt zurzeit in unsrer Reichs¬ hauptstadt — benutzt, die Regierung zu stürzen, und dieses Ereignis wirft bezeichnend genug seine Wellen bis in unsre europäischen Verhältnisse hinein. Castro hat in der Zeit seiner Amtsführung nacheinander mit allen möglichen Gro߬ mächten angebunden. Zuerst mit Deutschland und England; man erinnert sich, wie beide Mächte die Anerkennung ihrer Rechte vor sechs Jahren durch eine Flottendemonstration erzwingen mußten, und wir sogar zur Beschießung einer Küstenbefestigung zu schreiten genötigt waren. Als dritte gekränkte Großmacht, die sich damals allerdings mehr zurückhielt, kam Italien hinzu. Bemerkenswert bet diesen Händeln war vor allem, daß die Vereinigten Staaten von Amerika mit eifersüchtigen Auge alle diese Vorgänge verfolgten und bestrebt waren, das Prinzip der Monroedoktrin in einer Ausdehnung, die man früher nicht gekannt hatte, praktisch zur Geltung zu bringen. Dadurch erst erhielten die Vorgänge eine welt¬ politische Bedeutung. Auch wurde es ein nicht zu übersehendes Kennzeichen der damaligen Lage, daß die erregte öffentliche Meinung in England in ihrer feind¬ seligen Stimmung gegen Deutschland so weit ging, sogar an diesem ganz zufälligen Zusammengehn mit Deutschland Anstoß zu nehmen, obwohl es sich gar nicht um politische Angelegenheiten, sondern um die Durchsetzung privatrechtlicher Forderungen handelte, die Deutschland und England zugleich gegen jene entlegne Macht zu er¬ heben hatten. Venezuela hat damals seine Schulden bezahlt und mit uns Frieden gehalten, seitdem aber wieder Differenzen mit Frankreich und ganz neuerdings mit Holland angefangen. Der französischen Republik hatte die überseeische Schwester die geforderte gründliche Genugtuung vorzuenthalten gewußt, und mit Holland haben sich die Dinge sogar bis zur Kriegserklärung zugespitzt. Das alles, weil man in Venezuela darauf rechnet, daß europäische Mächte im Fall eines kriegerischen Konflikts ihre Interessen nicht rücksichtslos und beliebig weit verfolgen können, ohne mit den Vereinigten Staaten als Wächtern der Monroedoktrin in Konflikt zu geraten. Diese Erwägung hat freilich Castro nicht gehindert, auch der großen Republik im Norden recht respektwidrig die Zähne zu zeigen, als es ihm so beliebte. Nun hat er, um einen deutschen Arzt zu konsultieren, europäischen Boden aufgesucht, als vor¬ sichtiger Mann nicht ohne die Gelder, die ihm zur Ausrüstung wider alle Fähr- lichkeiten der unbekannten Zukunft nötig schienen. Die Wirkung dieser Abwesen¬ heit trat pünktlich genug ein, so pünktlich, daß man dem Leidenden nur wünschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/59>, abgerufen am 12.12.2024.